BGH,
Beschl. v. 13.6.2000 - 4 StR 179/00
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
4 StR 179/00
vom
13. Juni 2000
in der Strafsache gegen
wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des
Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 13. Juni
2000 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO
beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Halle
vom 5. August 1999 im Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben;
jedoch bleiben die zur Schuldfähigkeit getroffenen
Feststellungen bestehen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine
andere als Jugendschutzkammer zuständige Jugendkammer des
Landgerichts zurückverwiesen.
Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im
übrigen wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in 16
Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren
verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
angeordnet. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten, mit
der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts
rügt. Das Rechtsmittel hat zum Strafausspruch Erfolg; im
übrigen ist es unbegründet im Sinne des §
349 Abs. 2 StPO.
1. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der
Revisionsrechtfertigung hat zum Schuldspruch und zum
Maßregelausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des
Angeklagten ergeben. Insoweit nimmt der Senat Bezug auf die
Ausführungen des Generalbundesanwalts in der Antragsschrift
vom 2. Mai 2000.
2. Dagegen hält der Strafausspruch der sachlichrechtlichen
Überprüfung nicht stand.
a) Die Einzelstrafaussprüche in den Fällen II 1 bis
7, 10 und 16 können nicht bestehen bleiben. Das Landgericht
hat in diesen Fällen jeweils einen minder schweren Fall des
sexuellen Mißbrauchs eines Kindes nach § 176 Abs. 1
2. Alt. StGB bejaht, der Strafzumessung aber einen von sechs Monaten
anstatt von einem Monat (§ 38 Abs. 2 2. Halbs. StGB) bis zu
fünf Jahren Freiheitsstrafe reichenden Strafrahmen
zugrundegelegt. Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts kann
der Senat schon deshalb nicht ausschließen, daß
sich die fehlerhafte Bestimmung der Strafuntergrenze zum Nachteil des
Angeklagten ausgewirkt hat, weil das Landgericht in diesen
Fällen die Einzelstrafen ausdrücklich dem "unteren
Bereich des Strafrahmens" (UA 33) entnommen hat.
b) Zu Recht sehen der Beschwerdeführer und der
Generalbundesanwalt einen Rechtsfehler auch darin, daß das
Landgericht bei der Bemessung der Einzelstrafen wegen der zum Nachteil
seiner Stieftochter Je. begangenen Taten (Fälle II 9 bis 16
der Urteilsgründe) zu Ungunsten des Angeklagten gewertet hat,
"daß er, um von den Taten abzulenken,
Verschwörungstheorien ... aufbaute" und deshalb "die
Hauptverhandlung durch Vernehmung verschiedener Zeugen deutlich
verlängert werden (mußte), obgleich zum Tatgeschehen
selbst gar nichts ermittelt werden konnte" (UA 35). Ein
zulässiges Verteidigungsverhalten des ganz oder teilweise
bestreitenden Angeklagten darf grundsätzlich nicht
straferschwerend berücksichtigt werden, so wie es auch
fehlerhaft ist, in diesem Zusammenhang fehlende "tiefere Einsicht des
Angeklagten und Reue für seine Taten" (UA 35) zu seinen
Ungunsten zu werten (st. Rspr.; BGHR StGB § 46 Abs. 2
Verteidigungsverhalten 17).
c) Bedenken begegnet auch, daß das Landgericht im Rahmen der
strafschärfenden Erwägungen bei den zum Nachteil von
J. H. und Je. begangenen Taten darauf hinweist, daß der
Angeklagte sich mit seiner pädophilen Neigung
auseinandergesetzt habe, "ohne ... daß er konsequenterweise
eine Therapiemöglichkeit eingeleitet oder Kontakt zu Kindern
vermieden hätte" (UA 34). Damit lastet das Landgericht dem
Angeklagten im Ergebnis das Fehlen von Milderungsgründen (vgl.
BGHSt 34, 345, 350) an und wertet zu seinem Nachteil, daß er
die abgeurteilten Taten überhaupt begangen hat, anstatt davon
Abstand zu nehmen. Dies ist unzulässig (BGHR StGB §
46 Abs. 2 Wertungsfehler 14). Schließlich
verstößt die Erwägung gegen das
Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB, "daß
ein solches Verhalten von der Gesellschaft nicht hinnehmbar ist,
insbesondere weil die freie ungehinderte sexuelle Entwicklung von
Kindern dadurch erheblich beeinträchtigt wird" (UA 36). Zweck
der Vorschrift des § 176 StGB ist, Kinder von vorzeitigen
sexuellen Erlebnissen freizuhalten, um dadurch deren
ungestörte geschlechtliche Entwicklung zu schützen
(Lackner/Kühl StGB 23. Aufl. § 176 Rdn. 1 mit
Nachw.). Deswegen ist es unzulässig, eine nur allgemeine,
nicht konkretisierte Störung der sexuellen Entwicklung
strafschärfend zu werten (st. Rspr.; Tröndle/Fischer
StGB 49. Aufl. § 176 Rdn. 14 mit Nachw.). Zwar hat das
Landgericht die zuletzt genannte Erwägung nur im Rahmen der
Begründung der Gesamtstrafe erörtert. Der Senat kann
jedoch nicht ausschließen, daß sie sich allgemein,
mithin auch bei allen Einzelstrafen zum Nachteil des Angeklagten
ausgewirkt hat. Die aufgezeigten Rechtsfehler nötigen deshalb
zur Aufhebung sämtlicher Einzelstrafen und des
Gesamtstrafenausspruchs.
Meyer-Goßner Maatz Athing
Solin-Stojanovic Ernemann |