BGH,
Beschl. v. 23.11.2000 - 3 StR 472/00
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
3 StR 472/00
vom
23. November 2000
in der Strafsache gegen
wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern u.a.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des
Beschwerdeführers und des Generalbundesanwaltes, zu Ziffer 2.
auf dessen Antrag, am 23. November 2000 gemäß
§ 349 Abs. 2 und 4 StPO einstimmig beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Verden vom 4. Juli 2000
a) im Schuldspruch in den Fällen II. 1., 3. und 4. der
Urteilsgründe dahingehend abgeändert, daß
der Angeklagte jeweils nur wegen sexuellen Mißbrauchs eines
Kindes verurteilt wird;
b) mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben
aa) soweit der Angeklagte im Fall II. 2. der Urteilsgründe
wegen sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen verurteilt
wurde;
bb) im gesamten Strafausspruch.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine
andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen
Mißbrauchs von Schutzbefohlenen in fünf
Fällen, davon in vier Fällen in Tateinheit mit
sexuellem Mißbrauch von Kindern, unter Einbeziehung der vier
Einzelgeldstrafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Walsrode vom 3.
Dezember 1998 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei
Monaten verurteilt. Mit seiner hiergegen gerichteten Revision
rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und sachlichen
Rechts. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlußformel
ersichtlichen Erfolg.
1. In den Fällen II. 1. bis 4. der Urteilsgründe hat
die Verurteilung wegen sexuellen Mißbrauchs einer
Schutzbefohlenen (§ 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB) zu entfallen, weil
insoweit Strafverfolgungsverjährung eingetreten ist.
Straftaten nach § 174 Abs. 1 StGB werden mit Freiheitsstrafe
bis zu fünf Jahren bedroht, so daß ihre Verfolgung
gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB mit Ablauf
einer Frist von fünf Jahren nach Tatbeendigung (§ 78
a Satz 1 StGB) verjährt.
Die abgeurteilten Taten zum Nachteil seiner Tochter Silvia hat der
Angeklagte Ende 1989 und im Frühjahr 1992 begangen
(Fälle II. 1. und 2.), die beiden ersten abgeurteilten Taten
zum Nachteil seiner Tochter Stefanie zwischen August 1991 und Sommer
1992 (Fall II. 3.) sowie im Sommer 1993 (Fall II. 4.). Als erste den
Lauf der Verjährungsfrist unterbrechende Verfahrenshandlung
kommt bezüglich der Taten gegen die Tochter Stefanie aber erst
die Vernehmung des Angeklagten am 19. Januar 1999 (§ 78 c Abs.
1 Satz 1 Nr. 1 StGB), hinsichtlich der Taten gegen die Tochter Silvia
die Erhebung der Anklage beim Landgericht am 6. Juni 1999 (§
78 c Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 StGB) in Betracht. Zu diesen Zeitpunkten war
jedoch seit Beendigung der genannten Taten jeweils ein Zeitraum von
mehr als fünf Jahren verstrichen, so daß bereits
Verfolgungsverjährung eingetreten war.
Dies führt, da beim tateinheitlichen Zusammentreffen mehrerer
Gesetzesverletzungen jede ihrer eigenen Verjährung unterliegt
(s. nur BGH NStZ 1990, 80, 81), in den Fällen II. 1., 3. und
4. der Urteilsgründe zum Wegfall der Verurteilung wegen
sexuellen Mißbrauchs einer Schutzbefohlenen, so daß
der Schuldspruch in diesen Fällen abzuändern und
jeweils auf das Vergehen des sexuellen Mißbrauchs eines
Kindes zu beschränken ist.
Im Fall II. 2. der Urteilsgründe hat das Landgericht den
Angeklagten ausschließlich des sexuellen Mißbrauchs
einer Schutzbefohlenen, seiner zum Tatzeitpunkt bereits
14-jährigen Tochter Silvia, schuldig gesprochen. Der Umstand,
daß eine Aburteilung dieses Vergehens wegen Eintritts der
Verfolgungsverjährung ausgeschlossen ist, hat entgegen der
Ansicht des Generalbundesanwaltes jedoch nicht zur Folge, daß
das Verfahren wegen der zugrunde liegenden Tat vom Frühjahr
1992 gemäß § 260 Abs. 3 StPO einzustellen
wäre. Das Landgericht hatte bezüglich dieser Tat die
Strafverfolgung gemäß § 154 a Abs. 1 Satz 1
Nr. 1 und Abs. 2 StPO auf den Verstoß gegen § 174
Abs. 1 Nr. 3 StGB beschränkt, weil "die mitangeklagte
versuchte sexuelle Nötigung" weder für die
festzusetzende Einzelstrafe noch die zu bildende Gesamtstrafe ins
Gewicht falle. Ist eine Verurteilung nach § 174 Abs. 1 Nr. 3
StGB wegen Verjährung nicht möglich, ist die nach
§ 154 a StPO ausgeschiedene Gesetzesverletzung aber wieder in
das Verfahren einzubeziehen, um der umfassenden gerichtlichen
Kognitionspflicht (§ 264 StPO) zu genügen (vgl. BGHSt
22, 105, 106; 29, 315 ff.; 32, 84, 85). Hierzu ist dem Landgericht
durch Aufhebung der Verurteilung in diesem Fall und
Zurückverweisung der Sache Gelegenheit zu geben.
Dabei hat sich die Aufhebung auch auf die zugrunde liegenden,
für sich rechtsfehlerfreien Feststellungen zu erstrecken, da
das Landgericht diese allein mit Blick auf § 174 Abs. 1 Nr. 3
StGB getroffen und daher den tatsächlichen Umständen
keine besondere Aufmerksamkeit zugewendet hat, die für eine
Aburteilung der Tat als versuchte bzw. - was nach den bisherigen
Feststellungen nicht ausgeschlossen erscheint - auch vollendete
sexuelle Nötigung oder versuchte Vergewaltigung nach
§§ 177, 178 StGB a.F. bedeutsam sein können.
Das Urteil des 4. Strafsenats vom 15. September 1983 (BGHSt 32, 84)
steht dem nicht entgegen. Dieser hat dort lediglich ausgesprochen,
daß die rechtsfehlerfreien Feststellungen, auf deren
Grundlage der Tatrichter den dortigen Angeklagten vom Vorwurf des
versuchten Totschlages freigesprochen hatte, von der Urteilsaufhebung
nicht mitumfaßt werden, wenn die Staatsanwaltschaft mit ihrer
erfolgreichen Revision allein geltend macht, daß es der
Tatrichter unter Verstoß gegen § 264 StPO
unterlassen hatte, den zuvor gemäß § 154 a
Abs. 2 StPO aus den Verfahren ausgeschiedenen Vorwurf eines
Verstoßes gegen das Waffengesetz wieder einzubeziehen,
nachdem er zu dem Ergebnis gelangt war, daß eine Verurteilung
wegen versuchten Totschlages nicht in Betracht kommt. Damit ist
vorliegender Sachverhalt nicht vergleichbar.
2. Die teilweise Aufhebung und Abänderung des Schuldspruchs
führen zur Aufhebung des gesamten Strafausspruchs. Zwar
können auch verjährte Straftaten, wenn auch nicht mit
dem ihnen als unverjährte ansonsten zukommenden vollen
Gewicht, bei der Strafzumessung zum Nachteil des Angeklagten
berücksichtigt werden (s. etwa BGHSt 41, 305, 309; BGHR StGB
§ 46 Abs. 2 Vorleben 20 und 24). Der Senat kann hier jedoch
nicht ausschließen, daß das Landgericht in den
Fällen II. 1., 3. und 4. der Urteilsgründe dennoch
auf niedrigere Einzelstrafen erkannt hätte, wenn es wegen des
Eintritts der Verfolgungsverjährung von einem Schuldspruch
nach § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB abgesehen hätte. Auch
die Einzelfreiheitsstrafe von neun Monaten im Fall II. 5. der
Urteilsgründe kann keinen Bestand haben; denn es kann nicht
ausgeschlossen werden, daß die Höhe dieser
Einzelstrafe durch die Höhe der - aufgehobenen - weiteren
Einzelstrafen beeinflußt wurde. Einzelstrafen und
Gesamtstrafe sind daher insgesamt neu zuzumessen.
3. Im übrigen bleibt die Revision des Angeklagten ohne Erfolg.
Die Verfahrensrüge ist nicht ausgeführt und daher
unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Die
Überprüfung des Urteils auf die Sachrüge hat
keine weiteren Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben
(§ 349 Abs. 2 StPO).
Kutzer Rissing-van Saan Miebach
Winkler Becker |