BGH,
Beschl. v. 28.1.2000 - 2 StE 9/91
StPO § 454 Abs. 1 Satz 2 und 3, Abs. 2 Satz 1 Nr. 2
1. Von der mündlichen Anhörung kann über die
im Gesetz genannten Ausnahmen hinaus auch dann abgesehen werden, wenn
der Verurteilte ausdrücklich erklärt hat, er wolle
nicht angehört werden (im Anschluß an BGH NStZ 1995,
610).
2. Die Strafvollstreckungskammer kann vor ihrer Entscheidung
über die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung von
der Einholung eines Sachverständigengutachtens absehen, wenn
eine Aussetzung offensichtlich nicht verantwortet werden kann und das
Gericht deshalb die Strafaussetzung nicht in Betracht zieht.
BGH, Beschl. vom 28. Januar 2000 - 2 StE 9/91 - OLG Stuttgart
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
2 StE 9/91
StB 1/00
vom
28. Januar 2000
in der Strafvollstreckungssache
gegen
wegen gemeinschaftlichen Totschlags
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des
Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 28. Januar
2000 gemäß § 454 Abs. 3, § 304
Abs. 4 Satz 2 Nr. 5 StPO beschlossen:
Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluß
des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 17. November 1999 wird als
unbegründet verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu
tragen.
Gründe:
Der Beschwerdeführer, ein türkischer
Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit,
verbüßt eine Freiheitsstrafe von 13 Jahren, die das
Oberlandesgericht Stuttgart gegen ihn durch Urteil vom 9. Dezember 1992
wegen gemeinschaftlichen Totschlags verhängt hat. Er wurde
verurteilt, weil er am 5. Juni 1987 in K. gemeinsam mit einem
Mittäter einen kurdischen Landsmann auf Weisung der
Parteiführung der Arbeiterpartei PKK
überwältigt und schließlich
getötet hatte. Mit Beschluß vom 17. November 1999
hat das Oberlandesgericht Stuttgart die Aussetzung des Strafrestes zur
Bewährung nach Verbüßung von zwei Dritteln
der Strafe abgelehnt. Die gegen diese Entscheidung gerichtete
zulässige sofortige Beschwerde des Verurteilten ist
unbegründet.
Mit zutreffender Begründung hat das Oberlandesgericht
Stuttgart eine günstige Prognose verneint und deshalb den
Strafrest nicht gemäß § 57 Abs. 1 StGB zur
Bewährung ausgesetzt. Vor allem die vom
Beschwerdeführer während der Strafhaft begangenen
Straftaten der Beleidigung, Bedrohung und Körperverletzung
zeigen, daß er noch immer zu Gewalttätigkeiten gegen
andere Menschen neigt. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der
Senat Bezug auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung,
denen er sich anschließt. Ergänzend ist zum
Beschwerdevorbringen folgendes auszuführen:
1. Erfolglos beanstandet der Beschwerdeführer, daß
das Oberlandesgericht Stuttgart ohne die nach § 454 Abs. 1
Satz 3 StPO vorgeschriebene mündliche Anhörung, durch
die mit der Vermittlung eines aktuellen persönlichen Eindrucks
vom Verurteilten eine zuverlässigere Entscheidungsgrundlage
für das Gericht gewährleistet werden soll (vgl. BGHSt
28, 138, 141), entschieden hat. Zwar liegen die Voraussetzungen, die es
nach der gesetzlichen Ausnahmeregelung in § 454 Abs. 1 Satz 4
Nr. 1 bis 3 StPO erlaubt hätten, ohne mündliche
Anhörung des Verurteilten zu entscheiden, nicht vor.
Allerdings ist in Rechtsprechung und Schrifttum anerkannt,
daß es in entsprechender Anwendung von § 454 Abs. 1
Satz 4 StPO dem Sinn dieser Ausnahmevorschrift gemäß
zulässig sein kann, auch in anderen als den im Gesetz
genannten Fällen von einer mündlichen
Anhörung des Verurteilten abzusehen (vgl. BGH NStZ 1995, 610 =
BGHR StPO § 454 Anhörung 1, mit weiteren Nachweisen;
Wendisch in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. § 454 Rdn.
44, 48 bis 50; Fischer in KK 4. Aufl. § 454 Rdn. 21, 26 bis
29). Um einer Aushöhlung der Regelung über die
mündliche Anhörung des Verurteilten vorzubeugen, ist
jedoch Zurückhaltung geboten bei der Zulassung weiterer
Ausnahmen außerhalb der gesetzlichen Fälle
(Ruß in LK 11. Aufl. § 57 Rdn. 77). Von der
mündlichen Anhörung kann über die im Gesetz
genannten Ausnahmen hinaus u.a. dann abgesehen werden, wenn eine
Beeinflussung der Entscheidung durch sie von vornherein ausgeschlossen
erscheint und ihre Durchführung daher zur inhaltslosen
Formalie ohne jeden Aufklärungswert würde (vgl. BGH
NStZ 1995, 610 = BGHR StPO § 454 Anhörung 1; OLG
Düsseldorf NStE § 454 StPO Nr. 5). Dies ist
anzunehmen, wenn der Verurteilte - wie hier - ausdrücklich und
eindeutig erklärt hat, er wolle nicht mündlich
angehört werden (OLG Düsseldorf NStZ 1987, 524, 1988,
95 und 1988, 243; OLG Hamm MDR 1975, 775 und 1978, 692; Wendisch in
Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. § 454 Rdn. 47;
Stöckel in KMR 4. ErgLfg. § 454 Rdn. 58;
Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 44. Aufl. § 454 Rdn.
30), weil eine Anhörung gegen den Willen des Verurteilten
nicht erzwungen werden kann. Dabei macht es keinen Unterschied, ob der
Verzicht vor
oder nach Anberaumung eines Anhörungstermins erklärt
wird.
2. Auch konnte das Oberlandesgericht Stuttgart vor seiner Entscheidung
von der Hinzuziehung eines Sachverständigen
gemäß § 454 Abs. 2 Nr. 2 StPO absehen.
Nicht jede Prüfung, ob der Rest einer Freiheitsstrafe zur
Bewährung auszusetzen ist, löst die Pflicht zur
Begutachtung des Verurteilten aus. Wie sich aus dem Sinn und Zweck der
Einschaltung eines Sachverständigen und den
Gesetzesmaterialien (BT-Drucks. 13/8586, S. 10) ergibt, muß
ein Gutachten nur dann eingeholt werden, wenn das Gericht
erwägt, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen. Das
Sachverständigengutachten soll es dem Gericht
ermöglichen, die von dem Verurteilten ausgehende Gefahr
für die Allgemeinheit im Falle einer beabsichtigten
Strafaussetzung zur Bewährung zuverlässiger
einschätzen zu können. Wenn im Einzelfall - wie beim
Beschwerdeführer - wegen besonderer Umstände eine
Aussetzung der Reststrafe offensichtlich nicht verantwortet werden kann
und das Gericht deshalb die Strafaussetzung nicht in Betracht zieht,
ist eine Beurteilung der von dem Verurteilten ausgehenden Gefahr durch
eine Sachverständigenanhörung nicht erforderlich (OLG
Celle NStZ-RR 1999, 179; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 44.
Aufl. § 454 Rdn. 37).
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