BGH,
Beschl. v. 30.3.2010 - 3 StR 69/10
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
3 StR 69/10
vom
30. März 2010
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u. a.
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Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des
Beschwerdeführers und des Generalbundesanwalts - zu 2. auf
dessen Antrag - am 30. März 2010 gemäß
§ 349 Abs. 2 und 4 StPO einstimmig beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Mönchengladbach vom 8. Oktober 2009 im
Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen
aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die
den Nebenklägerinnen im Revisionsverfahren entstandenen
notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts
zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen
Missbrauchs von Kindern in zwei tateinheitlich zusammentreffenden
Fällen sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in sieben
Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren
und sechs Monaten verurteilt, von weiteren Tatvorwürfen hat es
ihn freigesprochen. Zugleich hat es die Sicherungsverwahrung
angeordnet. Gegen die Verurteilung richtet sich die Revision des
Angeklagten mit der allgemeinen Sachbeschwerde. Das Rechtsmittel hat
den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg.
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Nach den Feststellungen missbrauchte der damals 57 oder 58 Jahre alte
Angeklagte zwei Mädchen im Alter von zehn oder elf bzw. von
zwölf Jahren, die er im unmittelbaren Wohnumfeld kennengelernt
und um die er sich im Einverständnis mit den Eltern als
hilfsbereiter Nachbar gekümmert hatte. Er holte die Kinder von
der Schule ab, machte Ausflüge mit ihnen und ließ
sie in seiner Wohnung das Internet nutzen. In den Sommerferien 2008
waren die Kinder ständig von morgens bis abends bei ihm. Die
Taten beging der Angeklagte "in dem Zeitraum von Anfang Juni bis Ende
August 2008". Eine nähere Eingrenzung war der Kammer - von
zwei Taten abgesehen, die am 15. und 16. August 2008 stattfanden -
nicht möglich.
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Die Nachprüfung des Schuld- und Strafausspruchs hat keinen
durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Die
Strafzumessung - insbesondere die Annahme eines besonders schweren
Falles des sexuellen Kindesmissbrauchs (§ 176 Abs. 3 StGB) im
Fall II. 2. der Urteilsgründe sowie die Verhängung
von drei Einzelfreiheitsstrafen von einem Jahr, denen jeweils ein
Zungenkuss des Angeklagten mit der zehn- oder elfjährigen M.
zugrunde liegt - ist angesichts der Gesamtumstände zwar eher
streng, verlässt aber den Bereich des Schuldangemessenen noch
nicht.
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Die Anordnung der Sicherungsverwahrung kann hingegen nicht bestehen
bleiben, da das Landgericht weder einen Hang zur Begehung erheblicher
Straftaten im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB noch eine auf
ihm beruhende zukünftige Gefährlichkeit des
Angeklagten tragfähig begründet hat.
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1. Das Merkmal "Hang" im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB
verlangt einen eingeschliffenen inneren Zustand des Täters,
der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lässt.
Hangtäter ist derjenige, der dauerhaft zu Straftaten
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entschlossen ist oder aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung immer
wieder straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit bietet,
ebenso wie derjenige, der willensschwach ist und aus innerer
Haltlosigkeit Tatanreizen nicht zu widerstehen vermag. Der Hang als
"eingeschliffenes Verhaltensmuster" bezeichnet einen aufgrund
umfassender Vergangenheitsbetrachtung festgestellten
gegenwärtigen Zustand. Seine Feststellung obliegt - nach
sachverständiger Beratung - unter sorgfältiger
Gesamtwürdigung aller für die Beurteilung der
Persönlichkeit des Täters und seiner Taten
maßgebenden Umstände dem Richter in eigener
Verantwortung (BGH, Urt. vom 17. Dezember 2009 - 3 StR 399/09 - Rdn. 4).
Dem wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Es führt -
unter pauschaler Bezugnahme auf "gutachterliche Feststellungen" des
Sachverständigen - lediglich aus, dass "bei dem Angeklagten
die aus psychologisch-psychiatrischer Sicht für einen
Hangtäter sprechenden Risikofaktoren für die Begehung
weiterer sexueller Missbrauchstaten von Kindern nach Anzahl und Gewicht
(überwiegen). Dieses ließe erwarten, dass der
Angeklagte auch weitere im mittleren bis schweren Bereich anzusiedelnde
sexuelle Missbrauchstaten begehen wird." Damit ist nicht nur zu
besorgen, das Landgericht habe unter Verkennung der Kompetenz- und
Verantwortungsbereiche die Entscheidung über den Hang dem
Sachverständigen überlassen, es fehlt auch an der
notwendigen Gesamtwürdigung von Taten und
Täterpersönlichkeit. Diese ist mit besonderer
Sorgfalt vorzunehmen, wenn - wie hier - bei Vorliegen der formellen
Voraussetzungen nach § 66 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 StGB in
Ermangelung von symptomatischen Vortaten und neuerlicher Delinquenz
trotz erfolgter Strafverbüßung die
Tatsachengrundlage besonders schmal ist (vgl. BGHR StGB § 66
Abs. 3 Katalogtat 1). In die Würdigung wäre hier u.
a. einzustellen gewesen, dass der nicht vorbestrafte Angeklagte bislang
ein unauffälliges Leben führte und aus mehreren, zum
Teil langjährigen Beziehungen mit Frauen insge-
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samt vier erwachsene Kinder hatte. Zudem handelte es sich um einen
äußerst kurzen Tatzeitraum.
Sollte das Landgericht angenommen haben, eine positive
Gefährlichkeitsprognose könne die Feststellung eines
Hangs ersetzen, wäre auch dies rechtsfehlerhaft.
Hangtätereigenschaft und Gefährlichkeit für
die Allgemeinheit sind keine identischen Merkmale. Das Gesetz
differenziert zwischen den beiden Begriffen sowohl in § 66
Abs. 1 Nr. 3 StGB als auch in § 67 d Abs. 3 StGB. Der Hang ist
nur ein wesentliches Kriterium der Prognose. Der Hang als
"eingeschliffenes Verhaltensmuster" bezeichnet einen aufgrund
umfassender Vergangenheitsbetrachtung festgestellten
gegenwärtigen Zustand. Die Gefährlichkeitsprognose
schätzt die Wahrscheinlichkeit dafür ein, ob sich der
Täter in Zukunft trotz seines Hanges erheblicher Straftaten
enthalten kann oder nicht (BGHSt 50, 188, 196; vgl. auch BGH StV 2008,
301, 320).
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2. Auch die Beurteilung der Gefährlichkeit des Angeklagten ist
rechtlich zu beanstanden. Hier referiert das Landgericht, der
Sachverständige habe "zum einen eine statistische Bewertung
des von dem Angeklagten ausgehenden Risikos nach dem Verfahren 'Static
99' durchgeführt. … Auf einer bis 10 reichenden
Skala habe der Angeklagte einen Skalenwert von 7 erreicht. Nach den
Ausführungen des Sachverständigen sei der Angeklagte
damit in den Bereich 'hohes Risiko' einzustufen, der bei dem Skalenwert
6 beginne."
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Zutreffend an diesen Ausführungen ist allein, dass es sich bei
dem "Static 99" um eines von mehreren Prognoseinstrumenten zur
Vorhersage von Rückfällen bei Sexualdelinquenz
handelt (vgl. hierzu Dahle, Grundlagen und Methoden der
Kriminalprognose in: Kröber u. a.: Handbuch der Forensischen
Psychiatrie Bd. 3 S. 1, 32 ff., 41 ff.; Dahle FPPK 2007, 15, 17),
dessen Qualität
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inzwischen auch durch Studien in Europa getestet worden ist (vgl.
Nedopil, Forensische Psychiatrie 3. Aufl. S. 248; Rettenberger/Eher
MschrKrim 2006, 352, 358; Noll u. a MschrKrim 2006, 24, 29; Endrass u.
a. Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 2009, 284;
Dahle u. a. FPPK 2009, 210, 216, 219). Es ist aber bereits nicht
ersichtlich, wie der Sachverständige bei dem unbestraften,
nahezu 60jährigen Angeklagten, der mehrere
langjährige Beziehungen zu Frauen hatte, seine durchweg
weiblichen Opfer und deren Familien im nachbarschaftlichen Umfeld seit
längerem kannte und bei seinen Taten ohne Gewalt vorging, zur
Vergabe von sieben Risikopunkten kommen konnte. Die Feststellungen des
Landgerichts belegen jedenfalls nur einen Risikopunkt (Item-Nummer 8:
Opfer und Täter sind nicht verwandt). Hinzu kommt, dass sich
das Landgericht darauf beschränkt, ein "hohes Risiko"
festzustellen, ohne darzulegen, welche Straftaten in welchem Zeitraum
mit welcher Wahrscheinlichkeit von dem Angeklagten zu erwarten sind.
Nur so könnte nachprüfbar belegt werden, ob der
Angeklagte gefährlich ist.
Zuletzt lässt das Landgericht außer Acht, dass mit
der Feststellung, der Angeklagte weise bei Anwendung irgendeines
statistischen Prognoseinstruments eine bestimmte Anzahl von
Risikopunkten auf, nichts Entscheidendes gewonnen ist. Solche
Instrumente können für die Prognose zwar
Anhaltspunkte über die Ausprägung eines strukturellen
Grundrisikos liefern, sind indes nicht in der Lage, eine fundierte
Einzelbetrachtung zu ersetzen (Dahle FPPK 2007, 15, 24). Zur
individuellen Prognose bedarf es über die Anwendung derartiger
Instrumente hinaus zusätzlich einer differenzierten
Einzelfallanalyse durch den Sachverständigen. Denn jedes
Instrument kann nur ein Hilfsmittel sein, eines von mehreren
Werkzeugen, mit denen sich der Gutachter die Prognosebeurteilung
erarbeitet (vgl. auch Boetticher u. a. NStZ 2009, 478, 481).
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Die weiteren, im Urteil wiedergegebenen Erwägungen des
Sachverständigen vermögen diese Mängel nicht
auszugleichen.
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3. Der Senat vermag nicht völlig auszuschließen,
dass eine neuerliche Verhandlung doch noch zur Feststellung von
Umständen führt, die die Unterbringung des
Angeklagten in der Sicherungsverwahrung rechtfertigen könnten.
Über den Maßregelausspruch muss deshalb nochmals
entschieden werden. Dabei wird sich die Hinzuziehung eines anderen
Sachverständigen empfehlen.
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Sost-Scheible Pfister Hubert
Schäfer Mayer |