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BGH, Urteil vom 15. Oktober 2003 - 5 StR 305/03


Entscheidungstext  
 
BGH, Urt. v. 15.10.2003 - 5 StR 305/03
5 StR 305/03
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom
15.10.2003
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Totschlags
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Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom
15.10.2003, an der teilgenommen haben:
Richter Basdorf
als Vorsitzender,
Richter Häger,
Richterin Dr. Gerhardt,
Richter Dr. Raum,
Richter Dr. Brause
als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
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für Recht erkannt:
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des
Landgerichts Berlin vom 14. Juni 2002 wird verworfen.
Die dem Angeklagten im Revisionsverfahren entstandenen
notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur
Last.
- Von Rechts wegen -
G r ü n d e
Das Landgericht hat den Angeklagten G - wie die Mitangeklagten
H und E , gegen die das Urteil nach Rücknahme der sie betreffenden
Revisionen der Staatsanwaltschaft rechtskräftig ist - vom Vorwurf
gemeinschaftlich versuchten Totschlags aus tatsächlichen Gründen freigesprochen.
Die mit der Sachrüge begründete Revision der Staatsanwaltschaft,
die vom Generalbundesanwalt nicht vertreten wird, bleibt ohne Erfolg.
1. Der Tatvorwurf betrifft Schüsse, die DDR-Grenzsoldaten - darunter
der Angeklagte und seine beiden Mitangeklagten - am 23. Mai 1962 auf den
damals 14jährigen Schüler T aus Erfurt abgaben, dem die Flucht
über die innerdeutsche Grenze gelang, indem er vom Invalidenfriedhof in
Berlin (Ost) aus nach Übersteigen eines Grenzzaunes und zweier
Mauern den Spandauer Schiffahrtskanal durchschwamm und - getroffen
durch acht Schüsse von Grenzsoldaten - schwerverletzt von Zollbeamten
am West-Berliner Ufer des Kanals geborgen werden konnte. Zuvor hatten
West-Berliner Polizeibeamte den DDR-Grenzsoldaten Gö , um ihn
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an der Abgabe weiterer, etwa tödlicher Schüsse auf den Flüchtling zu hindern,
beschossen und tödlich getroffen.
2. Im einzelnen hat die Jugendkammer zu dem Vorfall folgende Feststellungen
getroffen:
Der Angeklagte G , der als Feuerwehrmann aus Hoyerswerda
erst Anfang Mai 1962 zum Grenzdienst abkommandiert worden war und eine
kurze Grundausbildung erhalten hatte, bildete als Oberfeldwebel und Postenführer
mit dem später erschossenen Gefreiten Gö ein Postenpaar,
das auf einem Beobachtungsturm unweit der Sandkrugbrücke den Grenzdienst
versah. Der Posten G hatte das Fluchtgeschehen - unwiderlegt -
eher als der Angeklagte wahrgenommen, ihn auf den Flüchtling aufmerksam
gemacht und war sogleich auf dem Grenzstreifen zwischen Grenz- und
Friedhofsmauer bis zu der Stelle gelaufen, an welcher der Flüchtling in den
Kanal gesprungen war. Von dort schoß er auf den schwimmenden Jungen.
Der Angeklagte G verblieb im Bereich des Beobachtungsturms, gab
von dort einen Warnschuß mit ungeklärter Zielrichtung und anschließend bei
einem Abstand von zumindest 100 Metern zu dem Schwimmer eine Salve
von wenigstens sieben Schüssen - wahrscheinlich mit Dauerfeuer - in
Richtung der Wasseroberfläche des Kanals ab. Möglicherweise zielte er dabei
neben den Schwimmer und nahm dessen Verletzung oder Tötung durch
diese Schüsse nicht billigend in Kauf.
Jedenfalls sieben weitere Grenzsoldaten gaben während der Flucht
wenigstens etwa 100 Schüsse ab, darunter die beiden Mitangeklagten.
Der Postenführer H , der mit seinem Posten von der Position des
Angeklagten aus gesehen jenseits des Invalidenfriedhofs Dienst tat, hatte
den Flüchtling als erster entdeckt, ihn vergeblich angerufen und zum Stehenbleiben
aufgefordert und war ihm dann mit seinem Posten nachgelaufen.
Als der Flüchtling Zaun und Mauern überwunden hatte und ins Wasser ge-
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sprungen war, gab H , auf einem Grabstein stehend, über die Friedhofsmauer
hinweg Schüsse - mit indes ungeklärter genauer Zielrichtung und
ohne festzustellenden Treffervorsatz - in Richtung des Kanals ab. Der Posten
hatte lediglich einen Warnschuß abgegeben; er hatte sich auf einen anderen
Grabstein stellen wollen, war aber abgerutscht und hingefallen.
Der Mitangeklagte E schoß von der Sandkrugbrücke - ohne daß
sich sein Vorsatz, den Flüchtling zu treffen, hätte feststellen lassen - aus
einem Abstand von etwa 150 Metern zu dem Schwimmer in Richtung des
Kanals. Mindestens vier weitere namentlich bekannte DDR-Grenzsoldaten
gaben aus jeweils näher bestimmten Positionen (UA S. 15 f.) Schüsse ab.
Der Flüchtling, der während des Durchquerens des Kanals unruhig
und ungleichmäßig schwamm, wurde im Wasser siebenmal von hinten im
Schulter-, Rumpf-, Arm- und Beinbereich und ein achtes Mal am Bein noch
nach Erreichen des westlichen Ufers von Schüssen getroffen, deren Schützen
nicht festzustellen waren. Er überlebte schwerverletzt, mußte etwa ein
Jahr lang stationär behandelt werden und ist seitdem verletzungsbedingt zu
70 % schwerbehindert.
3. Die Beweiswürdigung, auf deren Grundlage die Jugendkammer mit
bedingtem Tötungsvorsatz abgegebene Schüsse des Angeklagten G
auf den Flüchtling nicht festzustellen vermochte, und die daran anschließende
rechtliche Würdigung, mit der sie ihn vom Anklagevorwurf des (gemeinschaftlich)
versuchten Totschlags freigesprochen hat, weisen keine durchgreifenden
sachlich-rechtlichen Fehler auf.
a) Das Landgericht vermochte nicht festzustellen, daß den DDRGrenzsoldaten
am Tattage bei ihrer „Vergatterung“ ausdrücklich der Befehl
erteilt worden war, einen durch Schußwaffengebrauch am Grenzdurchbruch
zu hindernden Flüchtling notfalls „zu vernichten“. Hierzu sind in anderen tatzeitnahen
entsprechenden Fällen abweichende Feststellungen getroffen
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worden (vgl. BGHSt 41, 101, 102). Daraus läßt sich indes kein Rechtsfehler
ableiten, der sich auf die Beweiswürdigung der Jugendkammer zum Tötungsvorsatz
ausgewirkt haben könnte. Es ist nicht zu besorgen, daß die Jugendkammer
die Staatspraxis der DDR zur Tatzeit vor Inkrafttreten des
Grenzgesetzes und die entsprechende Befehlslage an der innerdeutschen
Grenze verkannt hätte, wonach Fluchtverhinderung als vorrangiges Ziel galt,
das auch notfalls um den Preis der Tötung des Flüchtlings zu verfolgen war,
die daher als gerechtfertigt galt (vgl. BGHSt 40, 241, 242 ff.; 41, 101, 103 f.).
Die Erkenntnis von der bestehenden Befehlslage nötigte das Tatgericht nicht
zu dem Schluß, daß der Angeklagte G ihr durch Abgabe von Schüssen
auf den Flüchtling mit bedingtem Tötungsvorsatz unbedingt Folge zu leisten
bereit gewesen wäre (vgl. BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 45).
b) Aufgrund der nur begrenzt vorhandenen näheren Erkenntnisse über
Einzelheiten der Schußverletzungen des Flüchtlings sah sich das Landgericht
- bei gleichzeitiger Berücksichtigung des Umstandes seiner unruhigen
und ungleichmäßigen Bewegungen während des Durchschwimmens des
Kanals - auch nach den Feststellungen zur Position des Angeklagten G
bei Abgabe der Schüsse außerstande, ihm etwa einen Treffer des Flüchtlings
zuzurechnen (UA S. 20). Diese Beweiswürdigung ist ersichtlich rechtsfehlerfrei.
Die weitgehend zuverlässige Aussage eines Augenzeugen, der vom
West-Berliner Ufer den Fluchtvorgang und die Schüsse aus einer Entfernung
von etwa 100 Metern beobachtet hatte (UA S. 22 ff.), wies den Angeklagten
G zwar als Schützen aus. Da der Zeuge indes keine klare Sicht auf die
Wasseroberfläche des Kanals gehabt, insbesondere den Einschlagpunkt der
beobachteten Schüsse nicht hatte einsehen können, hat die Jugendkammer
seiner Aussage zur identischen Zielrichtung der von ihm beobachteten
Schützen keinen Beweis für gezielte Schüsse des Angeklagten G auf
den schwimmenden Flüchtling entnommen. Auch insoweit ist die tatrichterliche
Beweiswürdigung frei von Rechtsfehlern.
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c) Die tatrichterliche Bewertung des Aussageverhaltens des Angeklagten
ist sachlich-rechtlich ebenfalls nicht zu beanstanden.
Daß das Landgericht angesichts der mißlungenen Fluchtverhinderung
und des Todes des dem Angeklagten G zugeordneten Postensoldaten
Gö eine erhebliche Drucksituation dieses Angeklagten bei seinen Vernehmungen
unmittelbar danach angenommen und für möglich gehalten hat,
er könne in dieser Situation bestrebt gewesen sein, eine tunlichst besonders
strikte Befolgung der Befehlslage zu bekunden, und folglich wahrheitswidrig
die Abgabe zielgerichteter eigener Schüsse auf den Flüchtling angegeben
haben, ist eine rechtsfehlerfreie Beweiswürdigung (vgl. BGHR StGB § 24
Abs. 1 Satz 1 Rücktritt 7; Willnow JR 1997, 221, 225). Sie wird durch den
Umstand nicht ernstlich in Frage gestellt, daß sich der Angeklagte selbst an
die Besonderheit entsprechenden bewußt wahrheitswidrigen Aussageverhaltens
bei der damaligen Vernehmung in der Hauptverhandlung - nach Ablauf
eines Zeitraumes von über 40 Jahren bezogen auf Vorgänge, deren insgesamt
bewußte Verdrängung nicht fernliegt - nicht zu erinnern vermochte.
Die tatrichterliche Bewertung des früheren Aussageverhaltens des Angeklagten
läßt auch keine sachlich-rechtlich beanstandenswerte Lückenhaftigkeit
oder Widersprüchlichkeit erkennen.
Die Jugendkammer hat die in der Hauptverhandlung abgegebene
Einlassung des Angeklagten, er habe damals lediglich in die Luft geschossen,
mit rechtsfehlerfreien Erwägungen widerlegt (UA S. 22 ff.). Das Landgericht
war gleichwohl - namentlich vor dem Hintergrund, daß der überlebende
Flüchtling lediglich von einem geringen Bruchteil der von den Grenzsoldaten
während der Flucht insgesamt abgegebenen Schüsse getroffen worden ist -
aus Rechtsgründen nicht gehindert, zugunsten des Angeklagten G
- und entsprechend auch zugunsten der beiden rechtskräftig freigesprochenen
Mitangeklagten - eine Abgabe von Schüssen auf die Wasseroberfläche
des Kanals anzunehmen, mit denen er den Flüchtling nicht getroffen hat,
nicht treffen wollte und die er auch in einer Weise abgab, daß er aus seiner
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Sicht einen Treffer ausschließen konnte. Der überschießend wahrheitswidrige
Entlastungsversuch des Angeklagten, dem maßgebliches Belastungsgewicht
nicht zukommt, hinderte das Tatgericht an einer derartigen Beweiswürdigung
nicht (vgl. für ein gleichartiges Tatgeschehen an der innerdeutschen
Grenze BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 46, insoweit in BGHSt
41, 149, 150 f. nicht vollständig abgedruckt; allgemein zur mangelnden Belastungseignung
wahrheitswidrigen Verteidigungsvorbringens BGHR StPO
§ 261 Überzeugungsbildung 30 und 33; jeweils m.w.N.).
d) Möglicherweise hätte sich das Tatgericht gleichwohl allein aufgrund
mangelnder Zielgenauigkeit der vom Angeklagten eingesetzten, üblicherweise
von den DDR-Grenzsoldaten verwendeten Maschinenpistole Kalaschnikow
und aufgrund besonderer Gefährlichkeit jeglichen Schießens in die
Richtung eines schwimmenden Menschen von einem bedingten Tötungsvorsatz
des Angeklagten bei Schußabgabe überzeugen können (vgl. BGH NJW
1995, 2728 f., insoweit in BGHSt 41, 101 nicht abgedruckt). Aus Rechtsgründen
gezwungen war das Tatgericht hierzu indes nicht (vgl. BGHR StGB
§ 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 45) und bei der beschriebenen Ausgangslage
auch nicht zu einer näheren Erörterung jener besonderen Gefahrenmomente
verpflichtet, deren rechtsfehlerhafte Verkennung oder Vernachlässigung
nicht zu besorgen ist.
e) Die Feststellungen weisen auf ein eher unkoordiniertes Verhalten
der einzelnen Grenzsoldaten in der Situation der Fluchtentdeckung hin. Insbesondere
war auch für eine irgendwie geartete Verständigung oder Absprache
des Angeklagten G mit seinem Posten Gö , der sich alsbald
nach der Entdeckung räumlich von ihm entfernte, nichts auszumachen. Bei
dieser Sachlage mußte das Landgericht nicht näher in Betracht ziehen, das
Verhalten des Angeklagten G während des Fluchtablaufs bezogen auf
von anderen Grenzsoldaten gegen den Flüchtling gerichtete Schüsse, die zu
Treffern führten und mit bedingtem Tötungsvorsatz abgegeben waren, weitergehend
unter den Gesichtspunkten der Mittäterschaft oder Teilnahme zu
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bewerten (vgl. BGHSt 41, 149, 151 f.; BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz,
bedingter 49; Willnow JR 1997, 221, 225 f.; jeweils m.w.N.).
Eher mißverständliche Wendungen der Jugendkammer im Ergebnis
der Auswertung der genaueren Beobachtungen des erwähnten Augenzeugen
(UA S. 25) veranlassen keine andere Beurteilung. Die entsprechenden
Erwägungen zu gezieltem Beschuß und gleichzeitigem Sperrfeuer sind nach
dem Zusammenhang der Urteilsgründe als bloße - tatsächlich indes nicht
hinreichend sichere - Möglichkeiten der Sachverhaltsdeutung zu verstehen;
als Grundlage für den Angeklagten belastende Mindestfeststellungen scheiden
sie aus.
Basdorf Häger Gerhardt
Raum Brause



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