BGH,
Urt. v. 17.8.2000 - 4 StR 245/00
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
4 StR 245/00
vom
17. August 2000
in der Strafsache gegen
Nachschlagwerk: ja
StPO § 264
1. Eine Änderung der in der Anklageschrift angegebenen
Tatzeiten, durch die bisher von der Anklage nicht erfaßte
Straftaten in die Strafverfolgung einbezogen werden sollen, ist nach
Zulassung der Anklage auch dann nicht zulässig, wenn es sich
bei den Angaben in der Anklageschrift um ein Versehen der
Staatsanwaltschaft gehandelt hat und diese der Änderung
zustimmt.
2. Ist eine nicht angeklagte Tat abgeurteilt worden, so unterliegt auch
das freisprechende Urteil auf zulässige Revision der
Staatsanwaltschaft der Aufhebung. Das beim Landgericht
geführte Verfahren ist einzustellen. Der Grundsatz des
"Vorrangs des Freispruchs vor der Einstellung" gilt hier nicht.
3. Hält der Tatrichter rechtsirrig eine Tat für nicht
angeklagt und sieht er daher von einer Entscheidung über diese
Tat ab, so ist das Verfahren in diesem Umfang weiterhin bei ihm
anhängig; eine Entscheidungsbefugnis des Revisionsgerichts in
der Sache besteht insoweit nicht.
BGH, Urteil vom 17. August 2000 - 4 StR 245/00 - Landgericht Magdeburg
wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 17.
August 2000, an der teilgenommen haben: Vorsitzender Richter am
Bundesgerichtshof Prof. Dr. Meyer-Goßner, die Richter am
Bundesgerichtshof Dr. Kuckein, Athing, die Richterin am
Bundesgerichtshof Solin-Stojanovic, der Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Ernemann als beisitzende Richter, Bundesanwalt als Vertreter der
Bundesanwaltschaft, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der
Geschäftsstelle, für Recht erkannt:
I.
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird
1. das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 21. Januar 2000
aufgehoben, soweit der Angeklagte von dem Vorwurf des sexuellen
Mißbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem
Mißbrauch einer Schutzbefohlenen für den Tatzeitraum
März 1993 bis einschließlich Februar 1994
freigesprochen worden ist;
insoweit wird das Verfahren eingestellt und trägt die
Staatskasse die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des
Angeklagten;
2. das vorbezeichnete Urteil mit den Feststellungen aufgehoben, soweit
der Angeklagte von dem Vorwurf des in der Wohnung L. begangenen
sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem
Mißbrauch einer Schutzbefohlenen freigesprochen worden ist;
insoweit wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die übrigen Kosten des Rechtsmittels, an eine
andere - als Jugendschutzkammer zuständige - Strafkammer des
Landgerichts zurückverwiesen.
II. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten von dem Vorwurf des sexuellen
Mißbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem
Mißbrauch einer Schutzbefohlenen in 324 Fällen
freigesprochen. Ferner hat es angeordnet, daß der Angeklagte
für die erlittene Untersuchungshaft zu entschädigen
ist. Mit ihrer hiergegen gerichteten Revision, mit der sie die
Verletzung materiellen Rechts rügt, erstrebt die
Staatsanwaltschaft die Aufhebung des freisprechenden Urteils. Das
Rechtsmittel, das vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat teilweise
Erfolg; im übrigen ist es unbegründet.
I.
Die - unverändert zugelassene - Anklage vom 24. Februar 1997
hatte dem Angeklagten zur Last gelegt, in der Zeit "von März
1994 bis Mai 1996" in 324 Fällen sexuelle Handlungen an der am
27. Januar 1985 geborenen F. C. vorgenommen zu haben. Hierzu hat das
Landgericht in den Gründen der angefochtenen Entscheidung
ausgeführt:
"Die vorbezeichnete Anklageschrift enthält insoweit einen
Fehler, als hier offensichtlich der Zeitraum März 1993 bis Mai
1995 gemeint sein sollte. Dies ergibt sich aus der
Begleitverfügung zur Anklageschrift Ziffer 4 (Bd. I, Bl.
147/148 der Akten). Hiernach beruht der Inhalt der Anklageschrift,
soweit Straftaten zum Nachteil der F. C. betroffen sind, auf der
Zeugenvernehmung der F. C. durch die sachbearbeitende
Staatsanwältin am 19.12.1996 (Bd. I, Bl. 100 ff. der Akten).
Innerhalb dieser Zeugenvernehmung hatte F. C. bekundet, dass die
sexuellen Handlungen des Angeklagten vom 2. Schuljahr an (im Alter von
8 Jahren) begannen und bis zum Beginn des 5. Schuljahres andauerten;
Jahreszahlen nannte F. hierbei nicht. Gemäß der o.g.
Begleitverfügung wurde daher seitens der Staatsanwaltschaft
von einem Tatzeitraum Mitte der 2. Klasse (März 1994) bis Ende
der 4. Klasse (Mai 1996) ausgegangen. Tatsächlich
muß es sich dann aber um den Zeitraum März 1993 bis
Mai 1995 gehandelt haben, da sich F. zum Zeitpunkt ihrer
staatsanwaltschaftlichen Vernehmung vom 19.12.1996 in der 6. Klasse
befand (gemäß der Zeugenvernehmung der D. T. vom
19.12.1996, Bd. I, Bl. 95 ff. der Akten, die zum Zeitpunkt ihrer
Vernehmung in die 6. Klasse ging, war F. zum damaligen Zeitpunkt ihre
Klassenkameradin). Im übrigen hat F. innerhalb der o.g.
staatsanwaltschaftlichen Vernehmung bekundet, nach ihrer Verbringung in
den Kinder- und Jugendnotdienst und anschließend in das E.
-W. -Kinderheim habe es keine sexuellen Handlungen des Angeklagten ihr
gegenüber mehr gegeben. Die Verbringung ins Kinderheim fand
jedoch, was bereits aus verschiedenen Aktenvermerken ersichtlich ist
und auch durch die Zeugin S. W. (Heimerzieherin) in der
Hauptverhandlung bestätigt wurde, im September 1995 statt,
wobei sich F. vorher noch maximal zwei Monate in einer
Übergangseinrichtung des Kinder- und Jugendnotdienstes
aufgehalten hat. Bei dem in der Anklageschrift angenommenen Tatzeitraum
März 1994 bis Mai 1996 handelt es sich daher offensichtlich um
einen Berechnungsfehler der sachbearbeitenden Staatsanwältin,
worauf vom Vorsitzenden gleich zu Beginn der Hauptverhandlung
hingewiesen wurde. Die sachbearbeitende Staatsanwältin, welche
auch Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung
war, hat dem zugestimmt."
II.
Das Landgericht hat den Angeklagten auf der Grundlage, daß
Gegenstand der Anklage somit (ausschließlich) Straftaten zum
Nachteil der F. C. im Zeitraum März 1993 bis Mai 1995 seien,
aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, da nicht
festgestellt werden könne, daß es während
dieser Zeit zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten
gegenüber F. C. gekommen sei. Es hat allerdings die
Möglichkeit offen gelassen, daß der Angeklagte sich
im Jahre 1995 in der damaligen Wohnung in der L. mehrfach an F.
vergangen hat. An der Aburteilung dieser Straftaten hat es sich jedoch
gehindert gesehen, da nicht ausgeschlossen werden könne,
daß sie erst nach Mai 1995 und somit außerhalb des
angeklagten Zeitraumes begangen worden seien. Dies hält
rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die
Beschwerdeführerin beanstandet im Ergebnis zu Recht,
daß das Landgericht die von der Anklage umfaßten
Taten nicht erschöpfend abgeurteilt hat.
1. Gegenstand der zugelassenen Anklage vom 24. Februar 1997 sind 324
Mißbrauchstaten begangen in dem Zeitraum März 1994
bis Mai 1996. Auf diese Taten erstreckte sich gemäß
§ 264 StPO die Kognitionspflicht des Landgerichts. Die in der
Hauptverhandlung vorgenommene "Korrektur" des Tatzeitraumes war
rechtlich unzulässig und konnte daher nicht den durch die
Anklage vorgegebenen Verfahrensgegenstand nachträglich
ändern.
a) Zwar wird bei funktionellen Mängeln der Anklageschrift,
etwa bei unzureichender Identifizierung der Tat(en), eine Behebung des
Mangels durch eine entsprechende Klarstellung noch in der
Hauptverhandlung für zulässig erachtet (vgl. BGH GA
1973, 111, 112; 1980, 108, 109; Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO
44. Aufl. § 201 Rdn. 26 m.w.N.). So liegt der Fall hier jedoch
nicht. Die Anklage vom 24. Februar 1997, in der die Grundzüge
der Art und Weise der Tatbegehung, ein bestimmter Tatzeitraum und die
Anzahl der Mißbrauchsfälle angegeben werden,
erfüllt noch die Anforderungen, die an die Tatkonkretisierung
in Fällen einer Vielzahl von sexuellen Übergriffen
gegenüber einem Kind zu stellen sind (vgl. BGHSt 44, 153,
154/155 m.w.N.). Zudem diente der Hinweis des Gerichts hier nicht der
näheren Tatkonkretisierung, vielmehr sollte der in der
schriftlichen Anklage bezeichnete Tatzeitraum durch einen anderen
ersetzt werden.
b) Allerdings braucht eine Veränderung des Tatzeitraumes die
Identität zwischen Anklage und abgeurteilter Tat nicht
aufzuheben (vgl. BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Tat 8 und 19).
Dies setzt aber voraus, daß die in der Anklage beschriebene
Tat unabhängig von der Tatzeit nach anderen Merkmalen
individualisiert ist (BGH a.a.O). Das ist hier nicht der Fall. Allein
der Umstand, daß die insgesamt 324 angeklagten sexuellen
Übergriffe - ohne weitere nähere Zuordnung - in
verschiedenen Wohnungen, in denen das Tatopfer zu den Tatzeitpunkten
jeweils lebte, stattgefunden haben sollen, genügt
hierfür nicht.
c) Ersichtlich war das Landgericht der Auffassung, zu einer "Korrektur"
des in der Anklage wiedergegebenen Tatzeitraumes anhand der
"Begleitverfügung zur Anklageschrift" und des sonstigen
Akteninhalts befugt zu sein. Dem kann nicht gefolgt werden.
aa) Zwar sind Prozeßhandlungen, also auch Anklagen,
auslegungsfähig. Allerdings darf der Inhalt sich nicht
bloß aus völlig außerhalb der
Erklärung liegenden Umständen ergeben (vgl. Roxin
Strafverfahrensrecht 25. Aufl. § 22 Rdn. 5). So ist es zwar
zulässig, zur Verdeutlichung und ergänzenden
Erläuterung des Anklagesatzes auf das wesentliche Ergebnis der
Ermittlungen zurückzugreifen (st. Rspr., vgl. BGHSt 5, 225,
227; BGH GA 1973, 111; 1980, 108, 109). Der Rückgriff auf den
sonstigen Akteninhalt ist jedoch nicht statthaft (vgl. Rieß
in Löwe/Rosenberg StPO 24. Aufl. § 207 Rdn. 57 sowie
zum Ganzen auch Puppe NStZ 1982, 230 ff.). Dies folgt schon aus der
Funktion der Anklage im Strafverfahren. Ihr Inhalt bestimmt zusammen
mit dem Eröffnungsbeschluß die Grundlage der
Hauptverhandlung. Aus ihr müssen die Verfahrensbeteiligten,
namentlich der Angeklagte zum Zwecke seiner Verteidigung, zweifelsfrei
entnehmen können, innerhalb welcher tatsächlicher
Grenzen sich die Hauptverhandlung und die Urteilsfindung
gemäß §§ 155, 264 StPO zu bewegen
haben. Davon hängt auch ab, welche tatsächlichen
Vorgänge von der Rechtskraft einer Verurteilung oder eines
Freispruchs erfaßt werden. Bereits diese Gesichtspunkte
zeigen, daß eine "Auslegung" der Anklage anhand des sonstigen
Akteninhalts, die notwendigerweise zu Unsicherheiten über den
eigentlichen Verfahrensgegenstand führen würde,
rechtlich nicht zulässig sein kann. Dies gilt erst recht -
auch im Hinblick auf die Regelung in § 152 Abs. 1 StPO -
für eine Korrektur des Anklagesatzes, wie sie hier das
Landgericht vorgenommen hat. Das Landgericht war vielmehr verpflichtet,
vor Erlaß des Eröffnungsbeschlusses, anhand des
Akteninhalts zu prüfen, ob der Angeklagte innerhalb des in der
Anklage bezeichneten Tatzeitraumes der ihm zur Last gelegten Straftaten
hinreichend verdächtig ist (§ 203 StPO). Bei
Vorliegen eines "offensichtlichen Berechnungsfehlers" hätte es
die Anklage an die Staatsanwaltschaft zur "Nachbesserung"
zurückgeben und - wenn eine solche verweigert würde -
die Eröffnung des Hauptverfahrens (teilweise) ablehnen
müssen.
bb) An dem aufgezeigten Ergebnis ändert auch nichts,
daß - wie das Urteil mitteilt - die sachbearbeitende
Staatsanwältin, die auch Sitzungsvertreterin in der
Hauptverhandlung war, der Änderung des Tatzeitraumes
zugestimmt hat. Mit der Eröffnung des Hauptverfahrens kann die
öffentliche Klage nicht mehr zurückgenommen werden
(§ 156 StPO). Damit verliert die Staatsanwaltschaft die
Dispositionsbefugnis über die Klage (BGHSt 29, 224, 229). Sie
kann daher auch nicht mehr die angeklagte prozessuale Tat
"auswechseln". Ist dem Angeklagten nach Eröffnung des
gerichtlichen Verfahrens im Rahmen der in der Anklage bezeichneten
Tat(en) strafbares Verhalten nicht nachzuweisen, so ist er
freizusprechen. Erscheint der Angeklagte der Staatsanwaltschaft statt
dessen anderer Straftaten (im Sinne des § 264 StPO)
hinreichend verdächtig, so wird die Staatsanwaltschaft diese -
gegebenenfalls im Wege der Nachtragsanklage (§ 266 StPO) -
(neu) anzuklagen haben.
2. Der aufgezeigte Rechtsfehler wirkt sich auf den Bestand der
angefochtenen Entscheidung wie folgt aus:
a) Soweit der Angeklagte von Mißbrauchstaten begangen in dem
von der Anklage vom 24. Februar 1997 nicht umfaßten
Tatzeitraum März 1993 bis Februar 1994 freigesprochen worden
ist, mangelt es dem erstinstanzlichen Verfahren an den
Prozeßvoraussetzungen einer Anklage und eines
Eröffnungsbeschlusses. Dies führt insoweit zur
Aufhebung des Urteils; zugleich ist das in diesem Umfang beim
Landgericht geführte Verfahren einzustellen (BGHSt 27, 115,
117). Allerdings wird in der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung die
Auffassung vertreten, in einem solchen Fall, in dem über eine
nicht-angeklagte Tat befunden werde, sei für eine Einstellung
neben der Urteilsaufhebung kein Raum. Ein erfolgreiches Rechtsmittel
führe nämlich grundsätzlich dazu,
daß die Entscheidung hergestellt werde, die bei richtiger
Sachbehandlung schon der in der Vorinstanz tätig gewesene
Richter hätte treffen müssen; eine darüber
hinausgehende Einstellung des Verfahrens scheide aus, weil eine weitere
Tat nicht Gegenstand des Verfahren geworden sei (BayObLG VRS 57, 39;
58, 432; KG VRS 64, 42; OLG Koblenz VRS 63, 372; OLG Stuttgart VRS 71,
294). Das ist zwar an sich zutreffend, dabei wird aber
übersehen, daß auch das beim Landgericht (teilweise)
ohne Anklage geführte Verfahren zu einem
ordnungsgemäßen Abschluß gebracht werden
muß. Anderenfalls könnte sonst keine dem Angeklagten
günstige Entscheidung über die - erstinstanzlichen -
Kosten des Verfahrens und seine notwendigen Auslagen getroffen werden.
Der Grundsatz des "Vorranges des Freispruches vor der
Verfahrenseinstellung" steht der Einstellung nicht entgegen. Zwar ist
in der Rechtsprechung anerkannt, daß bei Vorliegen bestimmter
Verfahrenshindernisse die an sich gebotene Einstellung des Verfahrens
dann nicht in Betracht kommt, wenn die Hauptverhandlung bereits ergeben
hat, daß der Angeklagte aus tatsächlichen oder
rechtlichen Gründen freizusprechen wäre. Dies hat der
Bundesgerichthof im Anschluß an das Reichsgericht (vgl. RGSt
66, 51, 53; 72, 296, 300; anders aber noch RGSt 42, 399, 401) erstmals
bei Fehlen des erforderlichen Strafantrages so entschieden (BGHSt 1,
231, 235; 7, 256, 261) und in der Folge bei Eingreifen eines
Straffreiheitsgesetzes (BGHSt 13, 268, 272/273) und für den
Fall der Verneinung des öffentlichen Interesses im
Kartellbußgeldverfahren (BGHSt 20, 333, 335) so
ausgesprochen. In jüngeren Entscheidungen ist die
Gültigkeit dieses "Grundsatzes" auch für die
Fälle des Eintritts von Verfolgungsverjährung (vgl.
BGHSt 44, 209, 219; BGH NStZ-RR 1996, 299) bejaht worden. Aus den
bisher entschiedenen Einzelfällen kann jedoch nicht ohne
weiteres ein allgemeiner, für alle
Prozeßvoraussetzungen geltender Grundsatz hergeleitet werden
(zweifelnd schon BayObLGSt 1963, 44, 47). Im Fall der Amnestie liegt es
auf der Hand, daß bei einer Einstellung trotz Spruchreife im
Sinne eines Freispruchs sich letztlich der Sinn und Zweck des
Straffreiheitsgesetzes ins Gegenteil verkehren, eine zugunsten des
Angeklagten gedachte Anordnung sich im Ergebnis zu seinen Ungunsten
auswirken würde (vgl. BGHSt 13, 273). Ähnlich
verhält es sich auch in den übrigen bisher
entschiedenen Fällen. Ihnen ist gemeinsam, daß der
Angeklagte aufgrund ihn begünstigender gesetzlicher Regelungen
in Bezug auf einzelne Straftatbestände von einer (weiteren)
Strafverfolgung ausgenommen wird. Das gerichtliche Verfahren kann aber
im übrigen - etwa wegen der tateinheitlichen Verwirklichung
weiterer Delikte - gegebenenfalls fortgeführt werden.
Hier liegt es jedoch anders: Die Anklage stellt, wie die Bestimmungen
der §§ 151, 155 Abs. 1, 264 Abs. 1 StPO zeigen, die
Grundlage und unabdingbare Voraussetzung für das gerichtliche
Verfahren insgesamt dar. Durch sie wird das Verfahren erst bei Gericht
anhängig, ohne sie darf eine Sachentscheidung nicht, und zwar
unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt, ergehen. Daß es
hierbei nicht um die Frage "Einstellung oder Freispruch" geht, zeigt
sich schon daran, daß - wie ausgeführt - hier nicht
das gesamte mit einer Anklage eingeleitete Verfahren eingestellt wird,
sondern nur das fehlerhaft ohne Anklage beim Landgericht
durchgeführte Verfahren. Jedenfalls dann, wenn es - wie hier -
an einer Anklage völlig fehlt, ist somit für einen
Freispruch kein Raum; über eine Sache, die beim Tatgericht
nicht anhängig geworden ist, kann und darf auch das
Rechtsmittelgericht nicht in der Sache selbst entscheiden.
b) Das Urteil unterliegt auch der Aufhebung, soweit der Angeklagte von
dem Vorwurf freigesprochen worden ist, sich vor Juni 1995 in der
Wohnung L. an dem Kind F. sexuell vergangen zu haben. Das Landgericht
war der Auffassung, den Angeklagten insoweit unter Anwendung des
Grundsatzes "in dubio pro reo" freisprechen zu müssen, da
nicht ausgeschlossen werden könne, daß die dort
begangenen Taten erst nach Mai 1995 und damit außerhalb des
von ihm angenommenen Anklagezeitraumes begangen worden seien. Die
Anwendung des Zweifelssatzes mußte hier jedoch ausscheiden,
da - wie bereits dargelegt - auch der Zeitraum nach Mai 1995 bis
einschließlich Mai 1996 von der Anklage mitumfaßt
ist.
3. Das Urteil hat Bestand, soweit der Angeklagte hinsichtlich der
angeblich ab März 1994 bis Mai 1995 begangenen Straftaten,
soweit sie sich nicht in der Wohnung L. ereignet haben sollen,
freigesprochen worden ist. Insoweit hat die Nachprüfung des
Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler
ergeben. Insbesondere genügt das Urteil - entgegen dem
Revisionsvorbringen - diesbezüglich noch den Anforderungen,
die an ein freisprechendes Erkenntnis zu stellen sind.
4. Hinsichtlich der möglicherweise im Zeitraum Juni 1995 bis
Mai 1996 begangenen Straftaten hatte das Landgericht - aus seiner Sicht
konsequent - von einer Entscheidung abgesehen, da Straftaten, die in
diesen Zeitraum fallen würden, nach seiner (irrigen) Meinung
nicht "Gegenstand der Anklage [waren] und in diesem Verfahren auch
nicht abgeurteilt werden konnten" (UA 4). Das Landgericht hat somit nur
über die dem Angeklagten zur Last gelegten Taten im
Tatzeitraum März 1993 bis Mai 1995 eine freisprechende
Entscheidung gefällt. Da aber - wie dargelegt - der dem Mai
1995 nachfolgende Zeitraum ebenfalls von der Anklage umfaßt
wurde, ist auch hierüber eine Entscheidung zu treffen.
Diesbezüglich ist das Verfahren beim Landgericht
anhängig geblieben; insoweit besteht für das
Revisionsgericht keine Entscheidungsbefugnis (vgl. BGHR StPO §
352 Prüfung 1; BGH, Urteil vom 27. Juli 2000 - 4 StR 189/00
m.w.N.; Meyer-Goßner JR 1985, 452, 453 f.). Es ist aber
geboten, dieses - noch bei der bisherigen Jugendschutzkammer
anhängig gebliebene - Verfahren zu dem
zurückverwiesenen Verfahren entsprechend § 4 StPO
hinzuzuverbinden.
5. Durch die Teilaufhebung des Urteils wird die Entscheidung
über die Entschädigungspflicht für die
erlittene Untersuchungshaft gegenstandslos (vgl. D. Meyer,
Strafrechtsentschädigung und Auslagenerstattung 4. Aufl.
§ 8 Rdn. 29).
Meyer-Goßner Die Richter am BGH Dr. Kuckein und Dr. Ernemann
sind wegen Urlaubs an der Unterzeichnung verhindert.
Meyer-Goßner Athing Solin-Stojanovic |