BGH,
Urt. v. 21.9.2000 - 1 StR 124/00
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 124/00
vom
21. September 2000
in dem Sicherungsverfahren
gegen
wegen Körperverletzung u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 21.
September 2000, an der teilgenommen haben: Vorsitzender Richter am
Bundesgerichtshof Dr. Schäfer und die Richter am
Bundesgerichtshof Dr. Maul, Nack, Dr. Boetticher, Hebenstreit,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof als Vertreter der
Bundesanwaltschaft, Rechtsanwältin als Verteidigerin,
Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts
Freiburg vom 15. Dezember 1999 wird verworfen.
Die Kosten der Revision und die dem Beschuldigten durch dieses
Rechtsmittel entstandenen notwendigen Auslagen trägt die
Staatskasse.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat die Unterbringung des Beschuldigten in einem
psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB abgelehnt. Gegen
dieses Urteil wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die
Sachrüge gestützten Revision. Das vom
Generalbundesanwalt nicht vertretene Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
I.
Außer Frage steht, daß der Beschuldigte seit 1988
an einer chronischen paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie (ICD-10
F 20.0) leidet. Deshalb kam es bereits früher zu Einweisungen
in die Psychiatrie. Zuletzt fühlte er sich von einem gegen ihn
verschworenen System aus Banken, Behörden, Justiz- und
Privatpersonen ausgehorcht und systematisch benachteiligt und reagierte
gereizt und aggressiv. Notwendige Medikamente nahm er nicht.
Nach den Feststellungen befand sich der Beschuldigte im April 1999 in
einer prekären finanziellen Situation. Er erwartete vom
Arbeits- und Sozialamt Geldzahlungen, die jedoch nicht auf seinem Konto
eingingen, weshalb er Zorn auf die Banken entwickelte. Er begab sich zu
seiner Bank. Da sich niemand um ihn kümmerte, ging er hinter
den Banktresen, schlang seine Arme um eine Bankangestellte und warf sie
zusammen mit dem Stuhl um. Diese verletzte sich dabei. Danach
verließ er die Bank wieder. Ende April 1999 verlor er seine
Wohnung. Da er kein Geld hatte und Hunger verspürte, stieg er
in einen unverschlossenen Lieferwagen, weil er hoffte, im
Führerhaus Geld zu finden. Da er auch den Wunsch hatte, wieder
einmal am Steuer zu sitzen, fuhr er das Fahrzeug von Freiburg nach Kehl
und stellte es am Rheinhafen ab. Anschließend stieg er in
einen dort parkenden, ebenfalls unverschlossenen Lastkraftwagen und
fuhr damit auf einen anderen Parkplatz in Lahr. Aus dem
Führerhaus nahm er 1.100 DM mit. Unmittelbar nach Verlassen
des Lastkraftwagens wurde er festgenommen. In der Untersuchungshaft
zertrümmerte er in seinem Haftraum einen Spiegel und
zündete ein Handtuch an.
Das Tatverhalten des Beschuldigten war in diesen vier Fällen
von psychotischen Symptomen bestimmt. Ihm fehlte auf Grund einer
krankhaft seelischen Störung im Sinne des § 20 StGB
die Einsicht, das Unrecht seiner Handlungen zu erkennen.
II.
Die Strafkammer hat die Unterbringung nach § 63 StGB in einem
psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt, weil sie vom Beschuldigten
infolge seiner Erkrankung keine erheblichen neuen Straftaten erwarte
und er für die Allgemeinheit nicht gefährlich sei.
Diese Prognose greift die Staatsanwaltschaft ohne Erfolg an.
1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist
die Frage, ob von einem seelisch kranken Beschuldigten infolge seines
Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb
für die Allgemeinheit gefährlich ist, auf Grund einer
Gesamtwürdigung seiner Persönlichkeit und seiner
Taten zu beurteilen (BGHSt 27, 246, 248 f.; BGH, Urt. vom 16. Januar
1996 - 1 StR 674/95 m.w.Nachw.). Dabei ist auch zu beachten,
daß die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
nur dann angeordnet werden darf, wenn eine gewisse Wahrscheinlichkeit
für die Begehung weiterer erheblicher Straftaten besteht; die
bloße Möglichkeit genügt nicht (BGH NStZ
1986, 572).
a) Zum Grad der Wahrscheinlichkeit weiterer rechtswidriger Handlungen
des Beschuldigten hat sich die Strafkammer die Ausführungen
des Sachverständigen Dr. A. zu eigen gemacht. Dieser hat zur
Krankengeschichte ausgeführt, der Beschuldigte habe vor den
Taten keine Krankheitseinsicht gezeigt und habe seit mehreren Monaten
seine Neuroleptika nicht eingenommen. Er sei deshalb nicht mehr in der
Lage gewesen, seine Interessen gegenüber dem Arbeitsamt und
dem Sozialamt zu vertreten. Er habe die Ursache für seinen
wirtschaftlichen Mißstand "den Banken" zugeschrieben, auf die
sich sein Zorn konzentriert habe. In Zeiten der Behandlung sei der
Beschuldigte gut medikamentös beeinflußbar;
Krankheitseinsicht habe er jedoch nur eingeschränkt entwickeln
können. Ohne medikamentösen Schutz würden
auch in Zukunft paranoide Ideen das Denken und Handeln des
Beschuldigten bestimmen. Befragt nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit
weiteren rechtswidrigen Verhaltens hat der Sachverständige
ausgeführt, Diebstähle oder gelegentliches
Führen von Kraftfahrzeugen seien zwar in der Zukunft nicht zu
erwarten, sondern nur nicht auszuschließen. Im Hinblick auf
gelegentliche aggressive Übergriffe auf Personen sowie
Sachbeschädigungen sei dies ohne Behandlung im Sinne eines
höheren Grades an Wahrscheinlichkeit durchaus zu erwarten.
Eine genaue psychiatrisch-medizinische Erklärung des
Sachverständigen für die Differenzierung nach den
beiden Deliktsbereichen enthalten die Urteilsgründe nicht. Ein
von der Beschwerdeführerin behaupteter Darlegungsmangel liegt
indes nicht vor. Die Strafkammer hat erkennbar darauf abgestellt,
daß der Beschuldigte in der Vergangenheit nur zweimal wegen
geringfügiger Eigentums- und Vermögensdelikte
aufgefallen ist. Dabei handelt es sich um einen Zigarettendiebstahl und
ein "Schwarzfahren" auf der Strecke von Freiburg nach Emmendingen. Die
beiden jetzt zu beurteilenden Entwendungen der beiden unverschlossenen
Lastkraftwagen und des Geldes aus einem Fahrzeug weisen - auch unter
Berücksichtigung der Gefährdung erheblicher Werte -
so viele Besonderheiten auf, daß auch diese Taten nicht auf
eine Verbreiterung und Intensivierung der rechtwidrigen
Aktivität des Beschuldigten hindeuten (BGHSt aaO 248). Auf
Grund dieser Gesamtschau mußte die Strafkammer zwar die
einfache Möglichkeit, nicht aber den erforderlichen Grad
höherer Wahrscheinlichkeit einer neuerlichen erheblichen
Störung der Eigentumsordnung annehmen.
b) Hinsichtlich weiterer aggressiver Handlungen, ist die Strafkammer
allerdings - in Übereinstimmung mit dem
Sachverständigen - von einem Grad höherer
Wahrscheinlichkeit ausgegangen. Jedoch hat die Strafkammer mit dem
Sachverständigen ausdrücklich erörtert,
daß nichts dafür spreche, "daß die
Intensität der Aggressionsdelikte in der Zukunft zunehmen
werde." Sie hat deshalb ohne Rechtsfehler die früher
vorgekommenen Sachbeschädigungen und persönlichen
Übergriffe als von langen Zeitphasen getrennte
Einzelfälle bewertet und sie nicht als erhebliche Taten
eingeordnet. Auch die unter besonderen Umständen begangene
Körperverletzung zum Nachteil der Bankangestellten sieht sie
als Delikt an der untersten Schwelle der Erheblichkeit an, die kein
Indiz für eine Ausweitung auf erhebliche Gewalthandlungen sei.
Diese tatrichterliche Wertung begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
2. Die Strafkammer hat somit in einer ausführlichen
Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Beschuldigten,
seiner früheren rechtswidrigen Handlungen und seines jetzt
festgestellten Verhaltens ausreichend dargelegt, daß selbst
im Fall nicht ausreichend gesicherten medikamentösen Schutzes
die Gefahr erheblicher rechtswidriger Handlungen nicht besteht. Kommt
der Tatrichter in Kenntnis, daß der Beschuldigte auf anderem
Wege ausreichend medikamentös betreut wird, zu dem Ergebnis,
daß er die Notwendigkeit für eine Unterbringung in
einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB nicht mit der
erforderlichen Sicherheit feststellen kann, ist dies vom
Revisionsgericht hinzunehmen.
Schäfer Maul Nack
Boetticher Hebenstreit |