BGH,
Urt. v. 24.10.2001 - 3 StR 272/01
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
3 StR 272/01
vom
24. Oktober 2001
in der Strafsache gegen
wegen versuchten Totschlags u.a.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 24.
Oktober 2001, an der teilgenommen haben: Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Rissing-van Saan als Vorsitzende, die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Miebach, Winkler, von Lienen, Becker als beisitzende Richter,
Staatsanwältin als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt als Vertreter des Nebenklägers N.,
Justizamtsinspektorin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Nebenklägers wird das Urteil des
Landgerichts Lübeck vom 23. Februar 2001 mit den
zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte
freigesprochen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine
andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen
gewerbsmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit
Betäubungsmitteln in 78 Fällen und wegen unerlaubten
Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge
in 26 Fällen zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt,
deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Vom
Vorwurf des versuchten Totschlags (zum Nachteil des
Nebenklägers) in Tateinheit mit fahrlässiger
Körperverletzung (zum Nachteil des Zeugen S. ) hat es den
Angeklagten dagegen freigesprochen. Gegen den Freispruch vom Vorwurf
des versuchten Totschlags wendet sich die Revision des
Nebenklägers, mit der dieser die Verletzung formellen und
materiellen Rechts rügt. Die Verfahrensbeschwerde ist nicht
ausgeführt und daher unzulässig (§ 344 Abs.
2 Satz 2 StPO). Jedoch hat das Rechtsmittel mit der Sachrüge
Erfolg.
1. Nach den getroffenen Feststellungen hatte der Angeklagte albanischen
Drogenhändlern verraten, daß der
Nebenkläger Hintermann eines Raubes war, bei dem den Albanern
gehörende Betäubungsmittel entwendet worden waren.
Hierfür wollte sich der Nebenkläger am Angeklagten
rächen. Der Angeklagte, der wußte, daß der
Nebenkläger eine scharfe Schußwaffe besaß,
fürchtete daher um sein Leben. Am Abend des 11. Juni 1999
besuchte der Angeklagte das Stadtfest in A. . Er hatte ein Anglermesser
mit 9 cm langer Klinge bei sich. Der Angeklagte hatte bereits
tagsüber Alkohol sowie Betäubungsmittel konsumiert
und setzte diesen Konsum auf dem Fest fort. Gegen 21.00 Uhr erschien
der Nebenkläger mit einer Gruppe von etwa zehn Begleitern. Er
entdeckte den Angeklagten, schaute aus einigen Metern Entfernung immer
wieder und langandauernd zu diesem hin und sprach wiederholt mit seinen
Begleitern, während er auf den Angeklagten hinwies. Der
Angeklagte fühlte sich über einen Zeitraum von fast
zwei Stunden fixiert, geriet in Angst und überlegte, ob er das
Fest verlassen sollte. Er verwarf diesen Gedanken jedoch, weil er
befürchtete, vom Nebenkläger und seinen Leuten
eingeholt zu werden und ihnen dann ausgeliefert zu sein.
Schließlich mußte der Angeklagte zum Austreten am
Nebenkläger vorbeigehen. Als er zurückkehrte stellte
sich ihm der Nebenkläger in den Weg, packte ihn an der
Schulter und versetzte ihm einen Schlag ins Gesicht, wobei er schrie,
jetzt würden sie abrechnen. Der Zeuge S. versuchte, die beiden
zu trennen, wurde vom Nebenkläger jedoch mit den Worten, das
gehe ihn nichts an, weggestoßen. Danach ging der
Nebenkläger wieder auf den Angeklagten zu und griff dabei
innen in seine Bomberjacke, in der sich - wie das Landgericht zugunsten
des Angeklagten feststellt - eine scharfe Schußwaffe befand.
In seiner Angst dachte der Angeklagte nunmehr sofort an die scharfe
Waffe des Nebenklägers und fürchtete, daß
dieser ihn erschießen wolle. Um sich vor dem weiteren Angriff
zu wehren und selbst zu schützen, zog er aus seiner
Jackentasche das mitgeführte Messer, klappte es mittels eines
Hebels auf und stieß es, um dem erwarteten unmittelbaren
"Schießangriff" des Nebenklägers zuvorzukommen, in
diesen hinein. In seiner panischen Angst davor, daß der
Nebenkläger noch an die Waffe kommen und schießen
könne, stieß der Angeklagte danach wiederholt
kräftig zu, bis er den Nebenkläger zu Boden gebracht
hatte. Er hielt den Nebenkläger, der noch nicht mit dem ganzen
Körper lag, mit der linken Hand und stand seitlich in dessen
Rücken, während er in unverminderter Angst von hinten
über den Nebenkläger gebeugt mit Wucht auf diesen
einstach. Der Nebenkläger war nicht mehr in der Lage, etwas
gegen den Angeklagten zu unternehmen und sich ihm zu widersetzen. In
seiner starken Angst vor dem vermeintlichen
Schußwaffenangriff vermochte der Angeklagte indessen "auch
unter der Einwirkung des Alkohols" die Situation nicht mehr richtig
einzuschätzen. Seine Angst war so groß,
daß er den Tod des Nebenklägers billigend in Kauf
nahm. Er bemerkte auch nicht, daß der Zeuge S. , der nochmals
versuchte, den Angeklagten und den Nebenkläger zu trennen,
sich durch das Messer des Angeklagten eine bis auf den Knochen
reichende Schnittverletzung am linken Daumenballen mit Durchtrennung
der Sehne zuzog. Der Nebenkläger sackte schließlich,
im Gesicht, am Hals und im Brustbereich getroffen, ganz zu Boden. Der
Angeklagte, der nun auf den Nebenkläger eintrat, wurde
schließlich von hinzukommenden Helfern weggerissen und floh.
Der Nebenkläger erlitt durch die Stiche
lebensgefährliche Verletzungen, die ohne ärztliche
Versorgung zum Tode geführt hätten. Er wurde operiert
und schwebte tagelang in Lebensgefahr. Er wird auch in Zukunft aufgrund
der Verletzungen Beschwerden haben.
2. Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des versuchten
Totschlags freigesprochen, weil er sich in einem den Vorsatz
ausschließenden Irrtum über sein Notwehrrecht
befunden habe. Er sei in seiner Angst, die durch Vorfälle vor
dem Tatabend sowie durch das Verhalten des Nebenklägers auf
dem Stadtfest und schließlich den körperlichen
Angriff ausgelöst worden sei, irrig davon ausgegangen, ein
Schußwaffenangriff des Nebenklägers stehe
unmittelbar bevor. Gegen diesen vermeintlich lebensbedrohlichen Angriff
habe er sich durch Einsatz des Messers verteidigen dürfen,
denn dieser sei das erforderliche und geeignete Mittel gewesen, um die
angenommene Gefahr zu beseitigen. Dies gelte zunächst
für die Stiche, die der Angeklagte dem Nebenkläger
versetzt habe, bevor dieser zu Boden ging. Zwar habe der Angeklagte
danach aus seiner Sicht keine Lebensbedrohung mehr zu
befürchten brauchen. Daß er gleichwohl weiterstach,
könne ihm jedoch nicht vorgeworfen werden, denn da er aus
Verwirrung und Angst handelte, sei er nach § 33 StGB
entlastet. Außerdem sei nicht auszuschließen,
daß er wegen aufgehobener Steuerungsfähigkeit ohne
Schuld gehandelt habe (§ 20 StGB).
a) Diese Würdigung hält rechtlicher Prüfung
nicht stand. Dabei kann dahinstehen, ob die Auffassung des Landgerichts
frei von Rechtsfehlern ist, der Angeklagte könne nicht wegen
der Messerstiche bestraft werden, die er dem Nebenkläger
versetzte, bis er diesen zu Boden gebracht hatte. Jedenfalls soweit das
Landgericht den Angeklagten gemäß § 33 StGB
wegen der Messerstiche für entschuldigt hält, die er
führte, als der Nebenkläger bereits am Boden lag und
nicht mehr in der Lage war, etwas gegen den Angeklagten zu unternehmen
und sich diesem zu widersetzen, ist seine rechtliche Beurteilung des
Geschehens fehlerhaft. In diesem Zeitpunkt lag kein
gegenwärtiger rechtswidriger Angriff des Nebenklägers
gegen den Angeklagten mehr vor. Es entschuldigt den Angeklagten nicht,
daß er dies aus panischer Angst und Verwirrung nicht
erkannte. § 33 StGB kommt dem Täter, der aus einem
der dort genannten asthenischen Affekten handelt, nur so lange zugute,
bis die Notwehrlage und Angriffsgefahr endgültig beseitigt
sind (RGSt 21, 189 ff.; 54, 36, 37; 62, 76, 77; BGH NJW 1968, 1885; BGH
NStZ 1987, 20; BGH NStE Nr. 3 zu § 33 StGB).
Da der Angeklagte infolge seiner unverminderten Angst und Verwirrung
die Situation aber immer noch verkannte und auch auf den bereits am
Boden liegenden Nebenkläger einstach, um den vermeintlichen
Schußwaffenangriff zu verhindern, befand er sich zwar in
einem Erlaubnistatbestandsirrtum, der seine Bestrafung wegen versuchten
Totschlags (§§ 212, 22, 23 StGB) oder
gefährlicher Körperverletzung (§ 224 Abs. 1
Nr. 2 und 5 StGB) ausschließt (§ 16 Abs. 1 Satz 1
StGB). Aber dies allein rechtfertigt seinen Freispruch nicht. Denn da
für diese weiteren Stiche eine Entschuldigung nach §
33 StGB ausscheidet, kommt insoweit zumindest eine Verurteilung des
Angeklagten wegen fahrlässiger Körperverletzung in
Betracht, wenn der Angeklagte seinen Irrtum über den
möglicherweise unmittelbar bevorstehenden
Schußwaffenangriff des Nebenklägers hätte
vermeiden können (§ 16 Abs. 1 Satz 2 StGB). Das
Landgericht hätte daher prüfen müssen, ob
der Angeklagte trotz seines psychischen Zustandes in der Lage war zu
erkennen, daß ihm von dem am Boden liegenden
Nebenkläger keine Gefahr mehr drohte. Allein seine
Feststellung, der Angeklagte habe wegen der Angst und der Einwirkung
des Alkohols "die reale Situation nicht mehr richtig
einzuschätzen" vermocht (UA S. 13), belegt nicht,
daß es dem Angeklagten unmöglich war, die
tatsächliche Sachlage zutreffend einzuschätzen, zumal
diese Feststellung nicht im Hinblick auf die Vermeidbarkeit des Irrtums
des Angeklagten getroffen wurde. Auch die vom Landgericht nicht
ausschließbare Schuldunfähigkeit des Angeklagten (s.
dazu unten b) läßt keine tragfähigen
Schlüsse auf das Maß der
Erkenntnisfähigkeit des Angeklagten im Tatzeitpunkt zu. Das
Fehlen der Steuerungsfähigkeit hat für sich keine
Aussagekraft zu den kognitiven Fähigkeiten des
Täters, da es gerade voraussetzt, daß der
Täter in Bewertung der objektiven Tatumstände das
Unrecht seiner Tat einsieht und lediglich nicht in der Lage ist, nach
dieser Einsicht zu handeln.
b) Auch soweit das Landgericht den Freispruch ergänzend noch
darauf stützt, es sei nicht auszuschließen,
daß die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zum
Tatzeitpunkt aufgehoben war, hält das Urteil rechtlicher
Überprüfung nicht stand. Denn die
Urteilsgründe erlauben dem Senat nicht die Prüfung,
ob die dieser Annahme zugrunde liegende Beweiswürdigung des
Landgerichts frei von Rechtsfehlern ist. Die Jugendkammer
schließt sich bei der Beurteilung der
Schuldfähigkeit des Angeklagten dem von ihr gehörten
Sachverständigen an, teilt im Urteil aber lediglich mit, der
Angeklagte habe sich in einem seelischen Ausnahmezustand befunden,
durch das als existenzielle Bedrohung empfundene Auftreten des
Nebenklägers habe sich bei ihm - verstärkt durch
Wirkungen des Alkohols und der Drogen - panische Angst und Wut
aufgebaut und die Blutalkoholkonzentration des Angeklagten habe zur
Tatzeit bei 2,6 %o gelegen.
Dies wird den Anforderungen an die Darstellung der
Beweiswürdigung im Urteil nicht gerecht. Schließt
sich der Tatrichter - wie hier - ohne eigene Erwägungen dem
Ergebnis einer sachverständigen Begutachtung an, muß
er im Urteil die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und
Darlegungen des Sachverständigen wiedergeben, um dem
Revisionsgericht die rechtliche Prüfung der
Beweiswürdigung zu ermöglichen (BGHSt 12, 311, 314
f.; 34, 29, 31; BGH NStZ 1991, 596 m.w.Nachw.). Daran fehlt es hier. Es
wird schon nicht deutlich, welchem der biologischen Merkmale des
§ 20 StGB der Sachverständige die durch Alkohol und
Drogen verstärkte Angst und Wut des Angeklagten zuordnet. Auch
bleibt offen, auf welche psycho-diagnostischen Beurteilungskriterien
der Sachverständige seine Beurteilung des "seelischen
Ausnahmezustandes" und dessen Auswirkungen auf die
Steuerungsfähigkeit des Angeklagten stützt. Dessen
hätte es um so mehr bedurft, als sich aus dem mitgeteilten
Verhalten des Angeklagten vor, während und nach der Tat trotz
der erheblichen Alkoholisierung und des zusätzlichen
Drogenkonsums keinerlei Anzeichen für irgendwelche
Ausfallerscheinungen des Angeklagten ergeben.
3. Da das Landgericht eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen
fahrlässiger Körperverletzung nicht rechtsfehlerfrei
ausgeschlossen hat, hat die Revision des Nebenklägers Erfolg.
Denn unter Berücksichtigung der Schwere der vom
Nebenkläger erlittenen Verletzungen und deren Folgen handelt
es sich bei diesem Vergehen hier um ein Nebenklagedelikt (§
395 Abs. 3 StPO), so daß der Nebenkläger seine
Revision auf die unterbliebene Verurteilung des Angeklagten nach
§ 229 StGB stützen kann (§ 400 Abs. 1 StPO).
Der Generalbundesanwalt hat in der mündlichen Verhandlung vor
dem Senat das besondere Interesse an der Strafverfolgung bejaht
(§ 230 Abs. 1 StGB).
Die Teilaufhebung des Urteils erstreckt sich auch auf den Freispruch
des Angeklagten vom Vorwurf der fahrlässigen
Körperverletzung zum Nachteil des Zeugen S. , die als
tateinheitliche Straftat mit dem versuchten Tötungsdelikt zum
Nachteil des Nebenklägers angeklagt ist (vgl. Kuckein in
KK-StPO 4. Aufl. § 353 Rdn. 10).
4. Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin,
daß die nunmehr zur Entscheidung berufene Jugendkammer sich
eingehender mit der Frage wird befassen müssen, ob der
Nebenkläger tatsächlich eine scharfe
Schußwaffe bei sich führte und diese bei dem Angriff
gegen den Angeklagten einzusetzen beabsichtigte. Denn hiervon
hängt maßgeblich ab, wann durch die Messerstiche des
Angeklagten der Angriff des Nebenklägers endgültig
beendet war und damit eine Entschuldigung weiterer
Verletzungshandlungen nach § 33 StGB nicht mehr in Betracht
kam. Bei seiner diesbezüglichen Überzeugungsbildung
wird der neue Tatrichter zu beachten haben, daß der
Zweifelssatz es nicht gebietet, zugunsten des Angeklagten
Umstände zu unterstellen, für deren Vorliegen das
Beweisergebnis keine durch tatsächliche Anhaltspunkte
konkretisierte Möglichkeit aufzeigt.
Rissing-van Saan Miebach Winkler von Lienen Becker |