BGH,
Urt. v. 27.8.2009 - 3 StR 246/09
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
3 StR 246/09
vom
27. August 2009
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Totschlags u. a.
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Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 27.
August 2009, an der teilgenommen haben:
Richterin am Bundesgerichtshof Sost-Scheible
als Vorsitzende,
die Richter am Bundesgerichtshof
Pfister,
Hubert,
Dr. Schäfer,
Mayer
als beisitzende Richter,
Staatsanwältin
als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des
Landgerichts Hannover vom 5. Dezember 2008 mit den Feststellungen
aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten
sowie dem Nebenkläger dadurch entstandenen notwendigen
Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts
zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher
Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren
verurteilt. Die Staatsanwaltschaft beanstandet mit ihrer zum Nachteil
des Angeklagten eingelegten, auf die Rüge der Verletzung
materiellen Rechts gestützten Revision, dass das Landgericht
den Angeklagten nicht wegen versuchten Totschlags verurteilt hat. Das
Rechtsmittel hat Erfolg.
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Nach den Feststellungen des Landgerichts geriet der erheblich
alkoholisierte (BAK von maximal 2,5 ‰) Angeklagte in einer
Diskothek mit einem anderen Gast in Streit. Als der
Nebenkläger mit Blick zum Angeklagten zwischen die
Kontrahenten trat, um die Auseinandersetzung zu beenden, drang der
Angeklagte auf ihn ein, zog ein Messer und stach damit in Richtung von
dessen Kopf. Er traf ihn am Kinn und verursachte dort eine
Stichverletzung. Ein Ein-
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dringen des Messers in den Hals wurde dadurch verhindert, dass das
Messer auf den Kieferknochen traf. Dem Nebenkläger gelang es,
dem Angeklagten, der weiterhin auf ihn einstach und ihm noch zwei
kleinere Stichwunden an der Hand zufügte, das Messer zu
entwinden.
Das Landgericht hat direkten Verletzungsvorsatz angenommen, sich
hingegen von einem (auch nur bedingten) Tötungsvorsatz nicht
zu überzeugen vermocht. Zur Begründung hat es
ausgeführt, dass die generelle Gefährlichkeit von
Stichverletzungen im Kopfbereich zwar für einen solchen
Vorsatz sprechen könnte; wegen der erheblichen Alkoholisierung
des Angeklagten im Tatzeitpunkt, des Fehlens eines (nachvollziehbaren)
Tötungsmotivs und der bei der Begehung von
Tötungsdelikten generell hohen Hemmschwelle könne die
Kammer jedoch nicht ausschließen, dass der Angeklagte auf das
Ausbleiben tödlicher Verletzungen vertraut habe.
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1. Die Ablehnung des bedingten Tötungsvorsatzes hält
rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
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Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist
angesichts der hohen Hemmschwelle gegenüber einer
Tötung unter Berücksichtigung aller Umstände
des Einzelfalls sorgfältig zu prüfen, ob der
Täter, der sein gefährliches Handeln
durchführt, obwohl er mit der Möglichkeit
tödlicher Verletzungen rechnet, den Tod des Opfers billigend
in Kauf nimmt, wobei dies bei äußerst
gefährlichen Gewalthandlungen nahe liegt. Ferner sind vor
allem die konkrete Angriffsweise, die psychische Verfassung des
Täters bei der Tatbegehung sowie seine Motivation in die
Beweiswürdigung mit einzubeziehen (vgl. BGHR StGB §
212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 51 m. w. N.).
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Diese sorgfältige Prüfung lässt das
Landgericht vermissen. Es wird schon nicht erkennbar, ob die Kammer
bereits Zweifel daran hatte, dass der Angeklagte den Eintritt des
tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fern
liegend erkannte, oder nur daran, dass er ihn billigte oder sich um des
erstrebten Zieles willen mit der Tatbestandsverwirklichung abfand (zur
Bedeutung des Wissens- und des Willenselements bei der Prüfung
des bedingten Vorsatzes vgl. BGH NStZ-RR 2006, 9 m. w. N.). Soweit die
Alkoholisierung des Angeklagten angesprochen wird, könnte dies
für Zweifel der Strafkammer auch am Wissenselement sprechen;
die Erörterung der Motivlage und der Hemmschwelle
könnte sich auf das Willenselement beziehen. Erkannte der
Angeklagte jedoch, wozu sich das Urteil nicht verhält, trotz
seiner Alkoholisierung die äußerste
Gefährlichkeit eines mit einem Messer geführten
Stiches in Richtung der für tödliche Verletzungen in
hohem Maße anfälligen Kinn- und Halspartie, dann
liegt bei der hier gegebenen Tatgestaltung auch die Billigung des Todes
durchaus nahe. Denn der Angeklagte "fuchtelte" nicht etwa ziellos mit
dem Messer herum und traf dabei (zufällig) mit dessen Spitze
das Kinn des Nebenklägers, sondern stach nach den
Feststellungen zielgerichtet in Richtung des Kopfes des
Nebenklägers.
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Soweit das Landgericht auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
zur hohen Hemmschwelle bei Tötungsdelikten abstellt, darf
diese nicht dahin missverstanden werden, dass durch sie die Wertung der
hohen und offensichtlichen Lebensgefährlichkeit von
Gewalthandlungen als einem gewichtigen, auf einen
Tötungsvorsatz hinweisenden Beweisanzeichen in der praktischen
Rechtsanwendung in Frage gestellt werden soll und dieser Beweisgrund
den Schluss auf einen Tötungsvorsatz in aller Regel nicht
tragen kann (BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 51 m.
w. N.).
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Hinzu kommt, dass die Erwägung des Landgerichts, für
den Angeklagten habe es "keinen Grund" gegeben, den die
Auseinandersetzung schlichtenden Nebenkläger zu
töten, nicht gegen eine Billigung des Todes spricht und
deshalb für die Überzeugungsbildung hinsichtlich
eines (lediglich) bedingten Tötungsvorsatzes an Bedeutung
verliert. Der für möglich erkannte Erfolg muss den
Wünschen des Täters nicht entsprechen (vgl. BGHSt 7,
363, 369). Allenfalls hochgradig interessenwidrige Tatfolgen
widerstreiten der Annahme einer Billigung des Erfolges durch einen in
der Steuerungsfähigkeit beeinträchtigten, ohnehin
überaus unüberlegt handelnden Täter (BGHR
StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 51, 61 jew. m. w. N.).
Zuletzt lässt das Landgericht außer Betracht, dass
der Angeklagte nicht nur einmal, sondern mit dem Messer noch weiter in
Richtung des Nebenklägers stach; dies hätte als ein
Indiz dafür, dass er nicht auf einen glimpflichen Ausgang
vertraute, erörtert werden müssen.
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2. Für die neue Verhandlung weist der Senat darauf hin, dass
sich sowohl eine nähere Beschreibung des Tatwerkzeugs als auch
eine Darstellung der Taten empfehlen wird, die zu den erheblichen
Vorstrafen des Angeklagten wegen zahlreicher Gewaltdelikte
geführt haben; letzteres auch mit Blick darauf, dass das
Landgericht wegen der nicht ausschließbaren erheblich
verminderten Schuldfähigkeit aufgrund des Alkoholkonsums eine
Strafrahmenverschiebung vorgenommen und sich dabei nicht damit
auseinandergesetzt hat, dass nach der neueren Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs bei selbstverschuldeter
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Trunkenheit eine Strafrahmenverschiebung in der Regel nicht mehr in
Betracht kommt (vgl. BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung
31, 33, 37; einschränkend BGHR aaO 35; BGH NStZ 2008, 619).
Für einen Ausnahmefall (vgl. hierzu NStZ-RR 2009, 230)
bestehen bislang keine Anhaltspunkte.
Sost-Scheible Pfister Hubert
Schäfer Mayer |