BGH,
Urt. v. 6.11.2002 - 2 StR 289/02
2 StR 289/02
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom
6. November 2002
in der Strafsache gegen
wegen versuchten Totschlags u.a.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat in der Sitzung vom 6.
November 2002, an der teilgenommen haben: Vorsitzende Richterin am
Bundesgerichtshof Dr. Rissing-van Saan und die Richter am
Bundesgerichtshof Dr. h.c. Detter, Dr. Bode, die Richterin am
Bundesgerichtshof Dr. Otten, der Richter am Bundesgerichtshof
Rothfuß, Staatsanwalt als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt in der Verhandlung als Verteidiger, Justizangestellte als
Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle, für Recht erkannt:
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des
Landgerichts Köln vom 19. März 2002 mit den
Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere
Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher
Körperverletzung in Tateinheit mit unerlaubtem Führen
einer halbautomatischen Selbstladekurzwaffe zu der Freiheitsstrafe von
fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die
Staatsanwaltschaft erstrebt mit ihrer auf die Sachrüge
gestützten Revision die Verurteilung des Angeklagten auch
wegen tateinheitlich begangenen versuchten Totschlags und macht
Rechtsfehler in der Beweiswürdigung geltend, die zur Ablehnung
des bedingten Tötungsvorsatzes geführt
hätten. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel
hat Erfolg.
1. Das Landgericht hat im wesentlichen festgestellt:
Der Angeklagte wollte sich bei seinem Arbeitgeber für eine als
ungerecht empfundene fristlose Kündigung rächen und
ihm einen Denkzettel verpassen. Mit seiner scharf geladenen Pistole
betrat er das Büro des Zweigstellenleiters H. Als dieser
meinte, der Angeklagte habe nur eine Schreckschußpistole,
schoß der Angeklagte demonstrativ in einen
Heizkörper. Sodann schoß der Angeklagte aus zwei
Meter Entfernung viermal in kurzen Abständen auf den hinter
seinem Schreibtisch sitzenden H. Dabei hielt er die Waffe
schräg nach unten in Richtung des Stuhlsitzes. H. bewegte sich
auf seinem Drehstuhl hin und her und versuchte, den Schüssen
auszuweichen. Der erste Schuß drang durch den Stuhlsitz. Der
Geschoßkern durchschlug die herabhängende linke Hand
des H., der Geschoßmantel verletzte ihn
oberflächlich an der linken Innenhand. Der Angeklagte
bemerkte, daß er H. getroffen hatte, denn dieser hielt seine
blutige Hand hoch und flehte den Angeklagten an, mit dem
Schießen aufzuhören. Der Angeklagte gab jedoch noch
drei weitere Schüsse auf H. ab, die sämtlich durch
die Sitzfläche des Stuhls drangen, H. jedoch "wie durch ein
Wunder" nicht verletzten. Als die Pistole eine Ladehemmung hatte,
machte der Angeklagte die Waffe wieder schußbereit und
schoß noch zweimal auf H. Das erste Geschoß
durchdrang den Stuhlsitz, prallte von der Wand zurück und
durchschlug H.´s linken Unterschenkel. Der nächste
Schuß traf den Drehstuhl. Die letzte Patrone stellte sich
quer, so daß der Schlitten der Pistole offenstand, und fiel
auf den Boden. Erst jetzt ließ der Angeklagte von seinem
Vorhaben ab. H.´s Verletzungen waren schwerwiegend,
Lebensgefahr bestand jedoch nicht.
Zur subjektiven Tatseite hat das Landgericht ausgeführt, der
Angeklagte habe nicht die Absicht gehabt, H. zu töten, ihm sei
aber bewußt gewesen, daß er H. durch einen
Schuß verletzen konnte und Schüsse in Richtung auf
einen Menschen potentiell lebensgefährlich sind. Er habe sich
jedoch für fähig gehalten, die Tötung des H.
zu verhindern und darauf vertraut, daß ihm das auch
gelänge.
Direkten Tötungsvorsatz schließt das Landgericht
aus, weil der Angeklagte den H. durch gezielte Schüsse in
Brust oder Kopf hätte töten können, aber
nicht auf diese Körperpartien geschossen habe.
Auch bedingten Tötungsvorsatz verneint das Landgericht, wobei
es meint, alle insoweit relevanten Umstände bedacht zu haben.
Für einen bedingten Tötungsvorsatz spreche,
daß der Angeklagte aus nächster Nähe sechs
Schüsse auf H. abgegeben habe. Er habe zwar nicht direkt auf
lebensgefährdende Körperpartien gezielt, habe aber
auch nicht sicher darauf vertrauen können, daß er
Kopf, Brust, Bauch oder Unterleib des H. nicht treffen würde.
Es seien Querschläger möglich, zudem sei der
Angeklagte kein geübter Kunstschütze und somit nicht
in der Lage, genau zu treffen. Nach dem Trefferbild sei davon
auszugehen, daß die einzelnen Geschosse tiefer als angepeilt
eingeschlagen seien. Das alles spreche dafür, daß
der Angeklagte die Gefahr der Tötung erkannt, dennoch sein
gefährliches Tun begonnen und selbst nach der erkannten
Verletzung H.´s fortgesetzt habe.
Andererseits deute jedoch die nach unten gerichtete
Schußrichtung eher darauf hin, daß der Angeklagte
den Tod H.´s habe vermeiden wollen. Alle Schüsse
hätten den Stuhlsitz getroffen. Auch sei der Angeklagte nicht
auf seine Eigensicherung bedacht gewesen. Entscheidend spreche aber die
Persönlichkeit des Angeklagten gegen einen
Tötungsvorsatz.
2. Die Beweiswürdigung, mit der das Landgericht einen
Tötungsvorsatz verneint, enthält Lücken und
ist deshalb rechtsfehlerhaft. Diese Rechtsfehler stellen zugleich die
Feststellung des Landgerichts in Frage, der Angeklagte habe bei den
Schüssen die Waffe nach unten in Richtung des Stuhlsitzes
gehalten (UA S. 13).
a) Das Landgericht erörtert nicht die nahe liegende
Möglichkeit, daß der Angeklagte nicht auf den
Stuhlsitz, sondern in Wirklichkeit auf den Unterleib oder noch
höher liegende Körperpartien des H.
schießen wollte und diese nur wegen der Zielabweichung seiner
Pistole nicht getroffen hat. Das sachverständig beratene
Landgericht hat festgestellt, daß die mit der Waffe des
Angeklagten abgefeuerten Schüsse tiefer treffen als sie
gezielt werden (UA S. 32). Das Urteil teilt aber nicht mit, wie
groß diese Zielabweichung ist. Ebensowenig wird mitgeteilt,
ob dem Angeklagten die Zielabweichung bekannt war, obwohl er die Waffe
nur einmal ausprobiert hatte (UA S. 12). Unter diesen
Umständen liegt es sehr nahe, daß der mit seiner
Waffe nicht vertraute und ungeübte Angeklagte bei seinen
Schüssen die Zielabweichung seiner Waffe nach unten nicht
berücksichtigt hat, so daß die Schüsse
tiefer einschlugen als sie von ihm gezielt worden waren. Das
Landgericht hätte daher die Möglichkeit
erörtern müssen, daß der Angeklagte bei
seinen Schüssen nicht auf den Schreibtischstuhl, sondern
zumindest auf den Unterleib, wenn nicht gar auf höhere
Körperpartien des H. gezielt hat. Auch Schüsse in den
Unterleib sind jedoch - wie allgemein bekannt ist - wegen der dort
vorhandenen großen Blutgefäße in aller
Regel lebensgefährlich. Je nach dem wie groß die
Zielabweichung ist, kommt sogar der Oberkörper des H. als Ziel
in Betracht, woraus sich auch ein direkter Tötungsvorsatz des
Angeklagten ergeben könnte. Das Landgericht hätte
sich daher in seiner Beweiswürdigung mit diesen
Möglichkeiten auseinandersetzen müssen.
b) Entscheidend für die Verneinung eines bedingten
Tötungsvorsatzes war für das Landgericht die
Berücksichtigung der Persönlichkeit des Angeklagten.
Danach könne nicht ausgeschlossen werden, daß er
aufgrund eines "selbstbewußten
Größenwahns" darauf vertraut habe, H. nicht
tödlich zu verletzen. Der Angeklagte habe ein subjektives
Rechtsbewußtsein, das ihn zu Bestrafungsaktionen treibe, wenn
er glaube, im Recht zu sein.
Dieser Annahme des Landgerichts ist aber schon deshalb der Boden
entzogen, weil infolge der bereits unter 2 a) dargestellten
Lücke in der Beweiswürdigung bisher nicht
rechtsfehlerfrei festgestellt ist, daß der Angeklagte seine
Waffe schräg nach unten in Richtung des Stuhlsitzes gesenkt
hielt.
Zudem fehlt eine tragfähige Tatsachengrundlage für
die Annahme, der Angeklagte habe im Sinne eines
"Größenwahns" seine Fähigkeiten im Umgang
mit der Pistole derart überschätzt, daß er
sich zu zielgenauen Schüssen für befähigt
hielt, obwohl er kein geübter "Kunstschütze" ist (UA
S. 32) und mit der Tatwaffe nicht vertraut war (UA S. 12). Soweit das
Landgericht unter Berufung auf den Sachverständigen
beispielhaft darauf abstellt, daß der Angeklagte 1998 einem
Streitkontrahenten einen 25 cm langen oberflächlichen, aber
letztlich nicht lebensgefährlichen Schnitt am Hals
zugefügt habe, läßt sich jener Vorfall
nicht mit dem vorliegenden Sachverhalt vergleichen. Ein am Hals
angesetztes Messer läßt sich ungleich leichter
kontrollieren, als Pistolenschüsse eines ungeübten
Schützen.
4. Das Urteil beruht auf den dargelegten Mängeln der
Beweiswürdigung, weil nicht ausgeschlossen ist, daß
das Landgericht ohne diese Mängel einen
Tötungsvorsatz des Angeklagten festgestellt hätte.
Der neue Tatrichter wird bei seiner Beurteilung zu bedenken haben,
daß auch der Täter bedingt vorsätzlich
handelt, dem bei seiner Tat der Erfolgseintritt gleichgültig
ist. Denn auch ein solcher Täter handelt vorsätzlich,
weil er mit jeder eintretenden Möglichkeit einverstanden ist
(vgl. BGHSt 40, 304, 306 f. m.w.N.). Ein strafbefreiender
Rücktritt vom versuchten Totschlag liegt nicht nahe, da der
Angeklagte nach seiner eigenen Einlassung erst aufgehört hat
zu schießen, "als das Magazin leergeschossen" war (UA S. 24).
Rissing-van Saan Detter Bode Otten Rothfuß
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