BGH,
Urt. v. 9.8.2001 - 1 StR 211/01
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 211/01
vom
9. August 2001
in der Strafsache gegen
JGG §§ 105 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3, 31 Abs. 3
Zur Anwendung von Jugendstrafrecht oder von allgemeinem Strafrecht bei
einem heranwachsenden Gewalttäter mit schwerer dissozialer und
emotionaler Persönlichkeitsstörung und daraus
entstehenden Zweifeln an weiteren Entwicklungsfortschritten.
BGH, Urt. vom 9. August 2001 - 1 StR 211/01 - LG München I
wegen Mordes
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung
vom 7. August 2001 in der Sitzung am 9. August 2001, an denen
teilgenommen haben: Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Dr.
Schäfer und die Richter am Bundesgerichtshof Dr. Wahl, Dr.
Boetticher, Schluckebier, Hebenstreit, Bundesanwalt als Vertreter der
Bundesanwaltschaft, Rechtsanwalt als Verteidiger in der Verhandlung,
Rechtsanwalt als Vertreter der Nebenkläger in der Verhandlung,
Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
1.
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des
Landgerichts München I vom 3. Januar 2001 mit den
Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten dieses Rechtsmittels, an eine andere
Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die Revision des Angeklagten gegen das vorgenannte Urteil wird als
unbegründet verworfen.
Der Angeklagte trägt die Kosten seines Rechtsmittels und die
den Nebenklägern durch dieses Rechtsmittel im
Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten des Mordes schuldig gesprochen.
Nachdem der Senat das erste tatrichterliche Urteil auf die Revision der
Staatsanwaltschaft im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben hatte, hat das
Landgericht den Angeklagten zu einer Jugendstrafe von zehn Jahren
verurteilt. Die in Kroatien erlittene Auslieferungshaft hat es im
Verhältnis eins zu eins auf die verhängte Strafe
angerechnet. Die Staatsanwaltschaft erstrebt mit ihrer zu Ungunsten des
Angeklagten eingelegten, auf Verfahrensrügen und auf die
Sachrüge gestützten Revision die Verurteilung des
Angeklagten nach Erwachsenenstrafrecht. Der Angeklagte erhebt
Verfahrensrügen und wendet sich gegen die Nichteinbeziehung
einer früheren Jugendstrafe (§ 31 Abs. 3 JGG). Er
erstrebt eine niedrigere Einheitsjugendstrafe. Das Rechtsmittel der
Staatsanwaltschaft hat Erfolg; die Revision des Angeklagten ist
unbegründet.
A.
I. Nach den Feststellungen des Landgerichts im bezüglich des
Schuldspruchs rechtskräftig gewordenen Urteil vom 2.
März 1999 tötete der Angeklagte im Oktober 1993 im
"Westpark" in München einen ihm bis dahin völlig
unbekannten Mann mit mehreren Messerstichen. Er wollte sich nach einem
Streit mit dem Vater seiner damaligen Freundin abreagieren und
irgendein Menschenleben vernichten. Die zunächst zur
Entscheidung berufene Jugendkammer hat angenommen, der Angeklagte habe
die Tat aus Mordlust und sonstigen niedrigen Beweggründen
begangen. Sie hat, beraten durch den Sachverständigen Prof.
Dr. Nedopil, auf den zur Tatzeit achtzehn Jahre und sechs Monate alten
Angeklagten Jugendstrafrecht angewendet (§§ 1 Abs. 2,
105 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 JGG) und - ausgehend von einer für
den Mord an sich zu verhängenden Jugendstrafe von zehn Jahren
- im Wege des Härteausgleichs für eine bereits
teilweise verbüßte Jugendstrafe von fünf
Jahren wegen früherer Delikte auf eine Einheitsjugendstrafe
von sechs Jahren und zehn Monaten erkannt.
Die Staatsanwaltschaft hatte sich in der ersten Hauptverhandlung nicht
dagegen gewandt, daß die Strafkammer den Angeklagten nach
Jugendstrafrecht verurteilt hat. Ihre Revision richtete sich allein
gegen die Höhe der Rechtsfolgen und die Bildung der
Einheitsjugendstrafe. Sie hatte im wesentlichen die Verhängung
einer selbständigen Jugendstrafe von zehn Jahren für
den Mord erstrebt.
Der Senat hat mit Urteil vom 14. Dezember 1999 das Urteil des
Landgerichts im Rechtsfolgenausspruch mit den Feststellungen aufgehoben
und in diesem Umfang die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an
eine andere Strafkammer zurückverwiesen. Aufhebungsgrund war,
daß das Landgericht nicht hinreichend geprüft hat,
ob aus erzieherischen Gründen von besonderem Gewicht eine
weitere Jugendstrafe ohne Einbeziehung der früheren
Verurteilungen verhängt werden konnte (§ 31 Abs. 3
JGG). Da der Senat den Rechtsfolgenausspruch insgesamt aufgehoben
hatte, war auch über die Anwendung von Jugendstrafrecht neu zu
befinden.
II. Die neu zur Entscheidung berufene Strafkammer hat gegen den Antrag
der Staatsanwaltschaft, die eine Verurteilung des Angeklagten zu
lebenslanger Freiheitsstrafe gefordert hat, auf diesen erneut
Jugendstrafrecht angewendet. Aufgrund eigener Gesamtwürdigung
- der Angeklagte hatte sich diesmal nicht von dem
Sachverständigen Prof. Dr. Nedopil untersuchen lassen -, ist
die Jugendkammer zu dem Ergebnis gekommen, daß beim
Angeklagten zum Tatzeitpunkt noch Entwicklungskräfte in
größerem Umfang wirksam gewesen waren. Unbehebbare
Entwicklungsrückstände, bei deren Vorliegen die
Anwendung von Jugendstrafrecht (§ 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG)
zweifelhaft sein könne, hat die Strafkammer nicht feststellen
können. Ihm sei eine inzwischen eingetretene Nachreifung nicht
abzusprechen.
Allerdings sei wegen des noch vorhandenen erheblichen
Aggressionspotentials aus erzieherischen Gründen § 31
Abs. 3 JGG anzuwenden. Unter dem Gesichtspunkt des Erziehungszwecks der
Strafe lägen Gründe von ganz besonderem Gewicht vor,
die es zweckmäßig erscheinen ließen, die
Jugendstrafe von zehn Jahren für den Mord als weitere
Jugendstrafe zu verhängen. Der Ausnahmetatbestand des
§ 31 Abs. 3 JGG sei hier auch auf den inzwischen 24 Jahre
alten Angeklagten anzuwenden, weil dieser unter Mißachtung
der Warnwirkung eines ersten gegen ihn ergangenen Urteils vom 20.
Januar 1992 erneut Straftaten begangen habe und auch jetzt noch
erziehungsbedürftig sei.
B.
Revision der Staatsanwaltschaft
Die Beschwerdeführerin rügt mit
Verfahrensrügen und der Sachrüge, die Jugendkammer
habe nicht alle für die Entscheidung nach § 105 Abs.
1 Nr. 1 JGG wesentlichen Umstände aufgeklärt und
erwogen. Sie wäre sonst zu dem Ergebnis gelangt, daß
auf den Angeklagten für den begangenen Mord nicht
Jugendstrafrecht, sondern Erwachsenenstrafrecht anzuwenden sei. Das
Rechtsmittel hat mit der Rüge eines Verstoßes gegen
§ 261 StPO Erfolg. Eines Eingehens auf die weiteren
Verfahrensrügen und die Sachrüge bedarf es nicht.
I. Die Jugendkammer hat für ihre Entscheidung nach §
105 Abs.1 Nr. 1 JGG folgende Feststellungen getroffen:
1a) Der Angeklagte wurde als Kind in Slowenien überwiegend von
seiner Großmutter aufgezogen. Er erfuhr bei seinen Eltern,
die in München einen Spielsalon betrieben und ihn 1978
nachholten, wenig Rückhalt. Er litt unter der Trennung von der
gewohnten Umgebung, konnte sich kaum verständigen und hatte
deshalb geringere soziale Entfaltungsmöglichkeiten als
gleichaltrige deutsche Kinder. Nach Beendigung der Hauptschule im Jahre
1990 schwänzte er im folgenden Berufsgrundschuljahr den
Unterricht und hatte keine Lust mehr zu arbeiten. Mit 15 Jahren
schloß er sich einer Jugendclique an und begann mit dem
Konsum von Drogen, Tabletten und Alkohol. Eine Ausbildung zum
Betonbauer brach er ab. Die Eltern fanden sich schließlich
damit ab und gaben ihm Geld, wann immer er es wollte. Er wurde Mitglied
der sogenannten Marienplatz-Clique und beging im Zusammenhang damit
eine Reihe von Straftaten. Während dieser Zeit spritzte er
sich regelmäßig Heroin, trank
übermäßig Alkohol und nahm dazu Tabletten.
b) Der Angeklagte beging seit 1991 mit anderen Jugendlichen
Diebstähle; die Gruppe stieg in die Münchner
Großmarkthalle ein und stahl Geld und Waren. Eigentumsdelikte
gegenüber anderen Jugendlichen beging der Angeklagte mehrfach
unter Anwendung von Gewalt. So drohten er und sein Mittäter im
Februar 1991 - er war noch 15 Jahre alt - Jugendlichen Schläge
an, wenn sie kein Geld hergaben. Um an eine Daunenjacke zu kommen,
packte er einen Jugendlichen am Hals und zog den
Reißverschluß der Jacke zu. Einem weiteren Opfer
gaben der Angeklagte und ein Mittäter Faustschläge
ins Gesicht und auf den Kopf sowie einen Tritt in die Nieren. Ein
weiteres Opfer "schubste" der Angeklagte gegen eine Steinmauer und
versetzte ihm einen Tritt in den linken unteren Rippenbereich. Einem
Opfer versetzten sie im Dezember 1991 so heftige Schläge,
daß sie zu einer Nasenbeinfraktur führten. Im Jahr
1992 zwangen sie einen Geschädigten auf einer
Behindertentoilette mit einer Gaspistole zur Duldung der Wegnahme. Nach
seiner Haftentlassung aus der ersten Jugendstrafe entwickelte sich im
März 1993 zwischen dem Angeklagten und der 17jährigen
W. eine Liebesbeziehung, die zunächst harmonisch verlief.
Nachdem die Freundin nicht bereit war, ihn sofort zu heiraten und der
Angeklagte keine Arbeitserlaubnis erhielt, fiel er wieder in seinen
früheren Lebensstil zurück. Er genoß seine
Führerrolle, ließ sich das Haupthaar kahl scheren
und war auffallend tätowiert. In seinen Kreisen war er
angesehen, aber auch gefürchtet, nachdem er bei
körperlichen Auseinandersetzungen seine Aggressionen
ausagierte und immer mit Messern bewaffnet war. Zu seinen Vorlieben
zählten damals Horrorfilme, die ihn insbesondere dann
faszinierten, wenn viel Blut floß und Menschen
zerstückelt wurden. Gegenüber W. wurde er zunehmend
brutaler. Ohrfeigen und andere Gewalttätigkeiten waren an der
Tagesordnung, ebenso Sexualpraktiken, die sie abstießen. Ohne
jeden Anlaß kam es vor, daß er ihr ein Messer an
die Kehle setzte und drohte sie umzubringen.
c) Im September 1993 wurde der Angeklagte von einem Türsteher
nicht zu einer Party in ein Freizeitheim eingelassen. Er schlug den
Mann mit Fäusten und Füßen und versetzte
ihm mit einem Butterfly-Messer auf der Backe einen
oberflächlichen Schnitt. Bei einer Auseinandersetzung im
November 1993 zwischen seinem Freund und mehreren Türken stach
er mit seinem Butterfly-Messer mit voller Wucht auf einen
Türken ein. Er wollte ihn im Bauch- und Rückenbereich
treffen und nahm hierbei den Tod des Opfers zumindest billigend in
Kauf. Da der Geschädigte eine wattierte Jacke trug, gelang es
dem Angeklagten nicht, mit seinem Messer bis zum zentralen
Körperbereich durchzudringen. Im Dezember 1993 stellte sich
der Angeklagte seiner früheren Freundin W. in den Weg und gab
ihr ohne jeden erkennbaren Anlaß sofort mehrere Ohrfeigen.
Anschließend würgte er sie mit beiden
Händen und schlug ihren Kopf gegen die Wand. Er forderte sie
auf mitzukommen, weil "ansonsten etwas passiere". Am 4. Februar 1994
wurde der Angeklagte verhaftet; er war in der Zeit vom 3. März
1994 bis 6. Oktober 1994 wegen des Verdachts einer Psychose, die der
Angeklagte allerdings nur vorgetäuscht hatte, im
Bezirkskrankenhaus Haar. Danach war er bis Oktober 1995 in der JVA
Stadelheim und bis zu seiner Abschiebung am 24. Januar 1996 in der JVA
Ebrach in Haft.
d) In der JVA Ebrach erwies sich der Angeklagte als aufbrausend und
jähzornig. Am Tag vor seiner Abschiebung wurde er wieder
gewalttätig, als er bei der Essensausgabe einen Hausarbeiter
schlug und einen JVA-Beamten würgte. Nach seiner Abschiebung
nach Kroatien lebte der Angeklagte im Hause seines Vaters. Im September
1996 versetzte er dort im alkoholisierten Zustand einem Landsmann, der
ihn vorher "geschubst" hatte, einen Faustschlag ins Gesicht und einen
Fußtritt in den Bauch. Er wurde zu einer Geldstrafe
verurteilt.
Nachdem er des Westparkmordes verdächtigt, in Kroatien
verhaftet und nach Deutschland eingeliefert worden war,
erklärte er im Juli 1998 in der JVA Stadelheim
gegenüber einem früheren Freund, der als Zeuge in der
vorliegenden Sache gegen ihn ausgesagt hatte, wenn er ihn wieder mal
treffe, "fresse er ihn auf". Gegenüber dem Anstaltspsychiater
der JVA, Dr. S. , der im April 1999 den Versuch unternommen hatte, mit
dem Angeklagten ein Untersuchungsgespräch zu führen,
reagierte der Angeklagte äußerst barsch und weigerte
sich Platz zu nehmen. Als er sich drohend vor Dr. S. aufbaute,
mußte dieser Hilfe rufen. Der Angeklagte schlug auf einen
herbeigerufenen Wachtmeister ein und mußte von fünf
Wachtmeistern gebändigt und gefesselt abgeführt
werden. Gegenüber dem Anstaltspsychologen und einer
Sozialarbeiterin der JVA Nürnberg, die zum Angeklagten in den
Jahren 1999 und 2000 Kontakt hatten, zeigte dieser keinerlei
Gesprächsbereitschaft; er war aber schnell aufgebracht. Im
Juli 2000 sägte der Angeklagte in seiner Zelle in der JVA
Stadelheim ein Rohr aus dem Bettgestell und fertigte mit zwei
Putzmittelkanistern eine Art Hantel zum Krafttraining an. Die Kanister
hatte er sich gegen den Widerspruch der Hausarbeiter mit auf die Zelle
genommen. Diese getrauten sich aber nicht, die Kanister
herauszuverlangen, weil der Angeklagte äußerst
aggressiv war.
2. Wegen des durchgängig gewalttätigen Verhaltens des
Angeklagten hat die Jugendkammer geprüft, ob die Anwendung von
Jugendstrafrecht hier deshalb ausscheide, weil bei diesem unbehebbare
Erziehungsdefizite vorliegen. Sie hat ausgeführt, der
Angeklagte habe bis Ende 1993 zahlreiche, mit gravierender Gewalt
verbundene Straftaten begangen. In der Folgezeit sei es nur noch zu
ganz gelegentlichen "Ausreißern" gekommen, aus denen sich
zwar ein noch vorhandenes Gewaltpotential ergebe, die aber den
Schluß, der Angeklagte habe sein Verhalten "in unverminderter
Form fortgesetzt" nicht zuließen. Die getroffenen
Feststellungen zum weiteren Lebenslauf seien nicht geeignet, das Fehlen
jeder Nachreifung anzunehmen. Weder durch das einmalige Fehlverhalten
in Freiheit noch durch die einzelnen, mehr oder weniger gravierenden
Fehlverhaltensweisen während der ca.
zweieinhalbjährigen Untersuchungshaft werde die Nachreifung in
Frage gestellt, wobei bezüglich der Vorfälle in der
Untersuchungshaft auf die psychische Belastung durch eine
länger andauernde Haft hinzuweisen sei.
a) Im einzelnen spreche für die Nachreifung, daß der
Sachverständige Prof. Dr. Nedopil in seinem Gutachten darauf
hingewiesen habe, daß er den Angeklagten seit einer
Untersuchung in einem früheren Verfahren im Oktober 1994 und
in der damaligen Hauptverhandlung im Juli 1995 nunmehr besonnener und
ausgeglichener und weniger impulsiv als damals erlebt habe. Der
Angeklagte sei zwar nach dem in der Hauptverhandlung gewonnenen
Eindruck immer noch impulsiv. Aus den Aussagen der Zeugen aus dem
Justizvollzug ergebe sich zwar, daß er bei den drei
Vorfällen im Januar 1996, im Juli 1998 und im April 1999
gegenüber anderen aggressiv gewesen sei. Andererseits ergebe
sich aber aus der Aussage der Zeugin W. , daß das
Aggressionspotential des Angeklagten stark vermindert sei,
daß er besonnener geworden sei und er einsehe,
früher anderen Unrecht getan zu haben.
b) Auch habe seine frühere Freundin ausgesagt, sie habe in den
zwei Jahren von der Abschiebung bis zur Einlieferung in regem
brieflichen Kontakt zum Angeklagten gestanden. Sie hätten
versucht, ihre Liebesbeziehung aufzuarbeiten. Zu irgendwelchen verbalen
Aggressionen sei es nicht gekommen. Auch anläßlich
von Telefonaten sei es zu keinen Auffälligkeiten gekommen. Der
Angeklagte habe vielmehr wiederholt erklärt, es tue ihm leid,
daß er sich ihr gegenüber "schandhaft" verhalten
habe.
II. Die Beschwerdeführerin hat mit der als Verstoß
gegen § 244 Abs. 2 StPO bezeichneten Verfahrensbeschwerde
Erfolg, die Strafkammer habe zwar über einen wesentlichen
Vorfall aus dem Jahr 1994 Beweis erhoben, diesen Vorfall aber bei ihrer
Gesamtwürdigung außer Betracht gelassen. Das
Landgericht hatte das früher in dieser Sache ergangene Urteil
vom 2. März 1999 zum Zwecke der Beweisaufnahme über
darin enthaltene Feststellungen verlesen. Daraus ergab sich,
daß der Angeklagte im Bezirkskrankenhaus Straubing seinen
damals 15 jährigen Mitpatienten St. brutal zusammengeschlagen
hat. Dieser Vorfall wird im Urteil nicht gewürdigt, obwohl er
angesichts der eingeschränkten Beurteilungsgrundlage - der
Angeklagte befindet sich seit der Tat im Oktober 1993 lange Zeit in
Haft; er hat therapeutische Angebote abgelehnt und sich vom
Sachverständigen nicht untersuchen lassen - bei der
Beurteilung des aggressiven Gesamtverhaltens des Angeklagten nicht
außer Betracht bleiben durfte. Der Sache nach liegt damit ein
Verstoß gegen § 261 StPO vor, den das
Revisionsgericht feststellen kann, ohne daß es einer im
Revisionsverfahren verbotenen Rekonstruktion der Hauptverhandlung
bedürfte (BGH NStZ-RR 2001, 18; BGH StV 1993, 115; StV 1991,
549; w.Nachw. b. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 45. Aufl.
§ 261 Rdn. 38a).
Hätten der Verwertung dieses früheren Urteils im
Urkundenbeweis rechtliche Hindernisse entgegengestanden, hätte
es im übrigen die Aufklärungspflicht (§ 244
Abs. 2 StPO) geboten, zu dem der Kammer aus der Verlesung bekannten
Vorfall hinreichende Feststellungen zu treffen. Daß der
frühere Vorfall sich so wie im früheren Urteil
festgestellt auch tatsächlich abgespielt hatte, wird in diesem
früheren Urteil ausführlich begründet.
Der Entscheidung des Senats über die Bedeutung der
unterlassenen Würdigung des Vorfalls aus dem Jahre 1994 liegen
folgende Erwägungen zu Grunde.
1. Ob ein Heranwachsender bei seiner Tat im Sinne des § 105
Abs. 1 Nr. 1 JGG noch einem Jugendlichen gleichstand, ist im
wesentlichen Tatfrage, wobei dem Jugendrichter ein erheblicher
Beurteilungsspielraum eingeräumt ist (vgl. BGHSt 36, 37
m.w.Nachw.).
a) Das Jugendgerichtsgesetz geht bei der Beurteilung des Reifegrades
nicht von festen Altersgrenzen aus, sondern es stellt auf eine
dynamische Entwicklung des noch jungen Menschen in dem Lebensabschnitt
vom 18. bis zum 21. Lebensjahr ab. Einem Jugendlichen gleichzustellen
ist der noch ungefestigte, in der Entwicklung stehende, noch
prägbare Heranwachsende, bei dem Entwicklungskräfte
noch in größerem Umfang wirksam sind. Hat der
Täter dagegen bereits die einen jungen Erwachsenen
kennzeichnende Ausformung erfahren, dann ist er nicht mehr einem
Jugendlichen gleichzustellen und auf ihn ist das allgemeine Strafrecht
anzuwenden. Dabei steht die Anwendung von Jugend- oder
Erwachsenenstrafrecht nicht im Verhältnis von Regel und
Ausnahme. § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG stellt keine Vermutung
für die grundsätzliche Anwendung des einen oder
anderen Rechts auf. Nur wenn der Tatrichter nach Ausschöpfung
aller Möglichkeiten Zweifel nicht beheben kann, muß
er die Sanktionen dem Jugendstrafrecht entnehmen (BGHSt aaO S. 40).
b) Nach der Entscheidung des Senats in BGHSt 22, 41, 42 kann die
Anwendung des Jugendstrafrechts ausnahmsweise auch dann
ungerechtfertigt sein, wenn der Heranwachsende in dieser Phase seine
Entwicklung bereits abgeschlossen hat, selbst wenn er noch einem
Jugendlichen gleichsteht. Kann nicht mehr erwartet werden,
daß er über die erreichte Entwicklungsstufe hinaus
gelangt und die im Jugendstrafrecht vorgesehenen Rechtsfolgen bei ihm
nicht mehr wirksam werden können, ist auf ihn
Erwachsenenstrafrecht anzuwenden.
aa) Jener Entscheidung aus dem Jahr 1968 lag die Beurteilung eines im
19. Lebensjahr stehenden Heranwachsenden nach § 105 Abs. 1 Nr.
1 JGG zugrunde, der aufgrund eines leichten Schwachsinns und seiner
Willensschwäche negative jugendtümliche Züge
aufwies und der nach Beurteilung durch einen Sachverständigen
über die erreichte Entwicklungsstufe bis zur Vollendung seines
21. Lebensjahres nicht hinaus kommen konnte. Dabei wurde von einem
Zustand des Schwachsinns ausgegangen, der als eigenständiges
Merkmal nach § 20 StGB als angeborener Intelligenzmangel ohne
nachweisbare organische Ursache eingestuft wird (Lenckner/Perron in
Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 20 Rdn.
18; vgl. zum Unterschied zwischen der medizinischen und der rein
juristischen Terminologie beim Schwachsinn Specht in Venzlaff/Foerster,
Psychiatrische Begutachtung 3. Aufl. 191, 193; Nedopil, Forensische
Psychiatrie 2. Aufl. S. 20 f.; Rasch, Forensische Psychiatrie 3. Aufl.
S. 71). Der Senat hat in jener Entscheidung die Nichtanwendung von
Jugendstrafrecht damit begründet, daß nach dem
Wortlaut des § 105 JGG ("nach seiner sittlichen und geistigen
Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand..") und nach dem Zweck
der Vorschrift die für Straftaten Jugendlicher vorgesehenen
Rechtsfolgen nur "auf den noch unfertigen, noch formbaren Menschen
zugeschnitten" seien; bei ihm müßten die auf das
Erziehungsbedürfnis abgestellten, nach § 5 JGG
auszuwählenden differenzierten jugendstrafrechtlichen
Maßnahmen noch eine Besserung und Abschreckung erwarten
lassen.
bb) Dieser für den angeborenen Schwachsinn entwickelte
Maßstab kann im Fall des Angeklagten nicht unmittelbar
gelten. Nach den im Urteil wiedergegebenen Ausführungen des
Sachverständigen Prof. Dr. Nedopil lag beim Angeklagten zur
Tatzeit im Oktober 1993 auf der Grundlage einer ersten Untersuchung im
Oktober 1994 und aufgrund der Eindrücke in der
Hauptverhandlung vom Juli 1995 eine
Persönlichkeitsstörung mit ausgeprägten
dissozialen und emotional instabilen Zügen nach ICD-10 F 60.2
und 60.3 vor (vgl. Dilling/Mombour/Schmidt (Hrsg.) Internationale
Klassifikation psychischer Störungen 4. Aufl. S. 254 ff.).
Diese dissoziale Entwicklung sei spätestens ab dem Zeitraum
erkennbar, zu dem sich der Angeklagte nach dem Schulabschluß
dem Druck seiner Eltern widersetzte. Sie sei so erheblich gewesen,
daß sie als schwere andere seelische Abartigkeit nach
§ 20 StGB anzusehen sei; eine erhebliche
Einschränkung der Steuerungsfähigkeit nach §
21 StGB habe aber nicht vorgelegen. Die mangelnde Frustrationstoleranz
und die unzureichende Kontrolle bei aggressiver Anspannung hat der
Sachverständige vorwiegend auf die mangelnde Reife
zurückgeführt und nicht einer chronischen psychischen
Störung zugeordnet (UA S. 34).
cc) In der psychiatrischen Begutachtungspraxis wird bei jugendlicher
Gewaltdelinquenz insbesondere zwischen zwei Tätertypen
unterschieden: Quantitativ im Vordergrund stehen die
Aggressionstäter, deren oft in Gruppen ausgeführte
Delikte als Symptom einer schon im Grundschulalter begonnenen
Sozialverhaltensstörung einzuordnen sind. Defizitäre
familiäre Bedingungen, Traumatisierungen,
Leistungsschwächen, Drogen- und Alkoholkonsum können
dazu führen, daß sich im Erwachsenenalter eine
dissoziale oder antisoziale Persönlichkeitsstörung
manifestiert (Nedopil aaO S. 217; Specht in Venzlaff/Foerster aaO S.
275, 290; Nedopil aaO S. 151; Rasch aaO S. 265 f. jeweils m.w.Nachw.).
Bei solchen Heranwachsenden, die aufgrund schlechter
Entwicklungsbedingungen keine Normen und Werte verinnerlicht haben, ist
bei der Beurteilung nach § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG jeweils im
Einzelfall zu ermitteln, ob er gegen soziale Normen
verstößt, obwohl er sich anders verhalten
könnte, oder ob er aufgrund eines bereits verfestigten
negativen Wertesystems nicht mehr dazu in der Lage ist (vgl. Venzlaff
aaO S. 237). Ein zweiter jugendlicher Gewalttätertyp begeht
solche aggressiven Handlungen, die sich für die Umgebung des
Täters überraschend ereignen und scheinbar
unerklärlich sind. Dies sind leicht kränkbare
Jugendliche, die auch zurückgezogen und
einzelgängerisch leben. Bei dieser Gruppe kann die Diagnose zu
einer möglicherweise bisher unerkannten psychiatrischen
Störung, etwa in Form einer schweren neurotischen
Fehlentwicklung, einer
Persönlichkeits(entwicklungs)störung oder gar einer
schizophrenen Psychose führen (Nedopil aaO S. 217, 218).
Ergibt die Diagnose, daß die Entwicklung des Täters
in der Kindheit früh gehemmt worden ist und bereits schwere
Schäden, etwa in Form frühkindlicher
Deprivationssyndrome vorliegen, kann dies im Ausnahmefall zu schweren
Persönlichkeitsstörungen mit tiefgreifender
Ich-Kontrolle führen (vgl. Venzlaff aaO S. 238). In diesen
Fällen kann das Vorliegen unbehebbarer
Entwicklungsrückstände - dem Fall des Schwachsinns
nicht unähnlich - erwogen werden.
c) Diesen fachpsychiatrischen Vorgaben und dem in BGHSt 22, 41
entwickelten Maßstab für die Annahme unbbehebbarer
Entwicklungsrückstände entnimmt der Senat,
daß eine die Chancen jeder Nachreifung gering achtende,
pessimistische Prognose völliger
Entwicklungsunfähigkeit bereits in der Lebensphase zwischen
dem 18. und dem 21. Lebensjahr nur auf einer Zusammenschau aller
für die gesamte Entwicklung maßgeblichen
tatsächlichen Umstände und nur ausnahmsweise mit
Sicherheit zu stellen sein wird (allgemein Schaffstein/Beulke aaO S.
68; Eisenberg, JGG 8. Aufl. § 105 Rdn. 27; Ostendorf aaO;
Diemer/Schoreit/Sonnen aaO). Liegen über das
tatgegenständliche schwere Tötungsdelikt hinaus
weitere erhebliche Gewalthandlungen vor und stehen - wie im Fall des
Angeklagten - Erkenntnisse über den Umgang mit Aggression und
Gewalt auch aus den Entwicklungsphasen als junger Erwachsener zur
Verfügung, so sind diese Umstände
vollständig heranzuziehen und vertieft zu würdigen,
bevor ausnahmsweise die weittragende Diagnose unbehebbarer
Entwicklungsrückstände ausgesprochen werden kann.
2. Diese Maßstäbe hat die Jugendkammer nicht in
jeder Hinsicht beachtet. Sie hat den kurz nach dem kaum
erklärbaren Tötungsdelikt im Oktober 1993 geschehenen
erneuten Gewaltausbruch im Bezirkskrankenhaus Straubing von 1994 nicht
in ihre Erwägungen einbezogen. Dem Urteil ist auch nicht zu
entnehmen, ob dem Sachverständigen dieser Vorfall bekannt war.
Damit ist nicht erkennbar, ob der Vorfall Einfluß auf die
Zuordnung des Angeklagten zu einem der beiden Tätertypen haben
oder bestimmend für die bereits länger
zurückliegende Diagnose aus der Untersuchung von 1994 sein
könnte. Die Jugendkammer hat sich damit der
Möglichkeit einer vollständigen
Gesamtwürdigung begeben, die auch zum Ergebnis hätte
führen können, daß der Angeklagte seit 1991
nicht nur im Zusammenhang mit seiner Jugendclique Diebstahlstaten unter
Anwendung von Gewalt begangen hat. Eine vollständige
Zusammenschau hätte auch zu dem Schluß
führen können, daß der Angeklagte
über den Mord von Oktober 1993 hinaus bis heute weiter
aggressiv und gewalttätig gegen Personen war und dies auf
Störungen beruht, die bereits in der Entwicklungsphase eines
Heranwachsenden unbehebbar waren.
Die Annahme der Jugendkammer, beim Angeklagten hätten nur im
Zeitraum seines Straffälligwerdens von 1990 bis Ende 1993 noch
Entwicklungskräfte in größerem Umfang
gewirkt, trägt dann nicht, wenn er bereits 1994 und in den
Folgejahren bis 2000 ohne wesentliche Unterbrechungen nicht
unerhebliche Gewalt gegen andere Personen ausgeübt hat.
Daß eine solche Möglichkeit nicht fernliegend ist,
ergibt sich aus der zweiten, der Jugendkammer an die Hand gegebenen
beiden Perspektiven des Sachverständigen Prof. Dr. Nedopil:
Sei beim Angeklagten das inkriminierte Verhalten nicht mehr zu
erwarten, weil er bei weiterer Reifung andere Einstellungen und
Verhaltensweisen übernommen habe, sei das Fehlverhalten auf
die mangelnde Reife zurückzuführen. Gelange die
Kammer aber aufgrund der Beweiswürdigung zu dem
Schluß, der Zustand des Angeklagten habe sich seit dem 1994
erstellten Gutachten nicht verändert, dann "bestehe sehr wohl
die Möglichkeit, die gegenständliche Tat des
Angeklagten als nicht im Zusammenhang mit der noch fehlenden Reife zu
sehen". Insofern müsse unter Berücksichtigung dieses
Aspekts rückblickend beim Angeklagten geprüft werden,
ob der Mord eher in das Fehlverhaltensmuster des Erwachsenen
paßt, als in das Verhaltensmuster des gleichen Menschen als
Jugendlicher.
d) Die neu zur Entscheidung berufene Jugendkammer wird - beraten durch
den Sachverständigen - die gesamte
Persönlichkeitsentwicklung des Angeklagten unter besonderer
Berücksichtigung seines Umgangs mit seiner Aggression nach dem
Mord im Oktober 1993 und seines Verhaltens im Strafvollzug neu zu
bewerten haben. Gelangt die Jugendkammer wiederum zur Anwendung des
Jugendstrafrechts, wird sie wiederum die Anwendung der
Ausnahmevorschrift § 31 Abs. 3 JGG zu
überprüfen haben.
C.
Revision des Angeklagten
I. Die Verfahrensrügen, mit denen der Angeklagte die
Behandlung seiner Anträge auf Aussetzung des Verfahrens nach
§ 246 Abs. 2 StPO rügt, bleiben aus den
Gründen, die der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift
angeführt hat, ohne Erfolg.
II. Die Sachrüge ist nicht begründet. Es stellt
keinen den Angeklagten belastenden Rechtsfehler dar, daß das
Landgericht nach § 31 Abs. 3 JGG aus erzieherischen
Gründen von besonderem Gewicht davon abgesehen hat, in die
Verurteilung des Angeklagten zu zehn Jahren Jugendstrafe wegen des
Mordes vom Oktober 1993 die frühere, teilweise
verbüßte Einheitsjugendstrafe einzubeziehen.
1. Nach der Rechtsprechung des Senats kann in Ausnahmefällen
neben einer gesetzlichen Höchststrafe eine andere Jugendstrafe
nach § 31 Abs. 3 JGG bestehenbleiben (BGHSt 36, 37, 42 = NStZ
1989, 574 mit Anm. Walter/Pieplow; BGH NStZ 1985, 410; 2000, 263). Beim
Widerstreit zweier gesetzlicher Prinzipien des Jugendgerichtsgesetzes -
hier Begrenzung der Jugendstrafe (§ 105 Abs. 3 JGG), dort
Absehen von der üblichen Einheitsstrafe aus erzieherischen
Gründen (§ 31 Abs. 3 Satz 1 JGG) - kann nicht von
vornherein generell gesagt werden, die eine Maxime habe
grundsätzlich Vorrang vor der anderen. Im Vordergrund steht
der Erziehungsgedanke als Basis aller Regelungen des Jugendstrafrechts.
Diesem Gedanken trägt § 31 Abs. 3 JGG für
den Einzelfall Rechnung - maßgebend ist der konkrete
Täter (vgl. BGHSt 22, 21, 23). Andererseits ist zu bedenken,
daß sich aus den Vorschriften in § 18 Abs. 1 Satz 2,
§ 31 Abs. 1 Satz 3, § 105 Abs. 3 JGG zu ergeben
scheint, der Gesetzgeber habe auch bei schwersten Straftaten die
Möglichkeit der erzieherischen Einwirkung im Strafvollzug auf
zehn Jahre begrenzt. Nähere Betrachtung zeigt aber einen
grundlegenden Unterschied zu der hier zu beurteilenden Verfahrenslage
auf. Während in jenen Vorschriften bestimmt wird, welche
Höchstgrenzen der Richter bei der Entscheidung über
das Reaktionsmittel auf die in einem bestimmten Verfahren zu
beurteilenden Straftaten zu beachten hat, regelt § 31 JGG in
seinen Absätzen 2 und 3 den Fall, daß im Augenblick
der Entscheidung bereits ein rechtskräftiges, noch nicht
erledigtes Erkenntnis wegen früherer Straftaten gegen den
Täter vorliegt. Auch insoweit soll es nach § 31 Abs.
2 Satz 1 JGG (»in gleicher Weise«) bei der Regel
des Absatzes 1 verbleiben, wonach unter Beachtung der
Höchstgrenzen einheitlich über alle Straftaten zu
entscheiden ist. Nach dem Wortlaut von Absatz 3 können aber
erzieherische Gründe ein Ausklammern des früheren
Urteils rechtfertigen. Die in § 105 Abs. 3 JGG für
erforderlich gehaltene ausdrückliche Bindung an die
Höchstgrenze der Jugendstrafe kehrt in der einen besonderen
Fall betreffenden Vorschrift des § 31 Abs. 3 JGG nicht wieder
(dies räumen auch Walter/Pieplow aaO S. 577 ein). Daraus
schließt der Senat weiterhin, daß die
Höchstgrenzen hier nicht gelten sollen. Das
Jugendgerichtsgesetz bietet keinen Anhalt dafür, die nach der
Systematik der Vorschriften als zulässig erkannte
Überschreitung des Höchstmaßes durch
Kumulierung zweier Strafen auf die Fälle zu
beschränken, in denen die frühere Strafe den Rahmen
bereits (weitgehend) ausgeschöpft hat. Die möglichen
Unterschiede in der Fallgestaltung haben vielmehr bei der
Prüfung der Frage Berücksichtigung zu finden, ob
erzieherische Gründe das Absehen von der Einbeziehung der
früheren Taten rechtfertigen.
2. Dem Vorrang des Erziehungsgedankens kann nicht entgegen gehalten
werden, der Angeklagte sei bei seiner Verurteilung wegen Mordes am 14.
Dezember 1999 bereits 24 Jahre alt gewesen. Eisenberg hat zwar unter
Berufung auf die für die Jugendstrafe nicht
einschlägige Entscheidung BVerfGE 22, 180, 219f. (diese
befaßt sich mit der Unterbringung in einer Erziehungsanstalt
nach dem BSHG) eingewandt, es verbiete sich, beim Angeklagten noch auf
erzieherische Gründe abzuheben. Dem Staat stehe
gegenüber einem Erwachsenen, dem spätestens mit
Überschreiten der Grenze von 21 Jahren die nach Art. 2 Abs. 1
GG geschützte allgemeine Handlungsfreiheit zustehe, kein
Erziehungsanspruch mehr zu (Anm. zum Senatsurteil vom 14. Dezember 1999
in NStZ 2000, 484). Dem Grundgesetz ist aber für den
besonderen Bereich des Jugendstrafrechts keine absolute Grenze
für die Verhängung einer Jugendstrafe zu entnehmen.
Dies entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, daß unter
strafrechtlichen Gesichtspunkten der Reifegrad Jugendlicher und
Heranwachsender - unabhängig von den sonstigen
Gründen, die für die Regelung des
Volljährigkeitsalters allgemein gelten - unterschiedlich sein
kann. Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb in seiner Entscheidung
über die vom Jugendrichter anzuordnenden
Erziehungsmaßregeln nach § 10 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4
JGG eine Fortwirkung des staatlichen Erziehungsrechts auf
Heranwachsende angenommen, obschon der Gesetzgeber durch das
Neuregelungsgesetz vom 31. Juli 1974 (BGBl. I S.1713) das
Volljährigkeitsalter auf 18 Jahre festgesetzt hat und das
elterliche Erziehungsrecht zu diesem Zeitpunkt erlischt (BVerfGE 74,
102, 125). Es hat den Gesetzgeber nicht gehindert gesehen, in dem
gegenständlich begrenzten Umfang die Erziehungshilfe als
jugendgerichtliche Maßregel fortwirken zu lassen. Nur als
Anhaltspunkt für die zeitliche Begrenzung des staatlichen
Erziehungsrechts für eine gegenüber der Jugendstrafe
weniger einschneidende Maßregel hat das
Bundesverfassungsgericht die Vollendung des 21. Lebensjahres
herangezogen, was der Rechtslage beim Inkrafttreten des Grundgesetzes
entspricht.
Dem entnimmt der Senat, daß für die Jugendstrafe der
Widerstreit zwischen den Prinzipien des § 105 Abs. 3 JGG und
denen des § 31 Abs. 3 JGG unverändert bestehen
geblieben ist, auch nachdem der Gesetzgeber die Vorschriften des
§ 105 und des § 31 JGG nach der Herabsetzung des
Volljährigkeitsalters nicht geändert hat. Da es den
Jugendlichen und den Erwachsenen nicht gibt, mit dem ein
Heranwachsender verglichen werden kann, muß das Gericht
entsprechend § 105 JGG den Reifegrad eines jungen
Straftäters mit Hilfe des Sachverständigen
individuell feststellen. Neuere psychiatrische Studien weisen im
übrigen darauf hin, daß heute zwar einschneidende
Entwicklungsfortschritte um die Vollendung des 18. Lebensjahres nicht
zu erwarten sind, daß aber die Folgejahre bis zum 24.
Lebensjahr durch fließende Übergänge zum
Erwachsenenstatus geprägt sind (Nedopil aaO S. 63).
3. Allerdings müssen für die Anwendung des §
31 Abs. 3 JGG im Einzelfall Gründe vorliegen, die unter dem
Gesichtspunkt einer Erziehung eines jungen Erwachsenen von ganz
besonderem Gewicht sind (so schon BGH NStZ 1985, 410) und zur
Verfolgung dieses Zweckes über die üblichen
Strafzumessungsgesichtspunkte hinaus das Nebeneinander zweier
Jugendstrafen notwendig erscheinen lassen. Das Landgericht hat dazu
ausgeführt, die Einbeziehung der früheren
Verurteilung würde dem Angeklagten die Bedeutung seiner
Mordtat nicht ausreichend bewußt machen. Angesichts der
Ablehnung jeden therapeutischen Gesprächs mit dem
Anstaltspsychiater oder Anstaltspsychologen und seines nach wie vor
vorhandenen Gewaltpotentials ist es revisionsrechtlich nicht zu
beanstanden, daß die Jugendkammer ausgeführt hat,
beim Angeklagten müsse die erzieherisch nachteilige Annahme
unterbunden werden, durch die Bildung einer Einheitsjugendstrafe auch
für den abgeurteilten Mord würden die Rechtsfolgen
der früheren Taten untergehen oder es würde auf sie
verzichtet. Der erzieherische Zweck der verhängten
Jugendstrafe von zehn Jahren für einen Mord kann somit beim
Angeklagten durch die Konfrontation mit seiner Tat als Mittel der
Nacherziehung und Nachreife auch noch im Erwachsenenalter durchaus
erreicht werden.
Schäfer Wahl Boetticher Schluckebier Herr RiBGH Hebenstreit
ist wegen Urlaubs an der Unterschrift verhindert.
Schäfer |