BGH,
Beschl. v. 10.1.2006 - 1 StR 527/05
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS
1 StR 527/05
vom 10.01.2006
in der Strafsache
gegen 1. 2. 3. 4.
BGHSt: nein
BGHR: ja
Veröffentlichung: ja
____________________________
StPO § 338 Nr. 6, § 344 Abs. 2 Satz 2; GVG §
169 Abs. 1, § 176
1. Die Entscheidung über die Anzahl der bei einem Augenschein
an beengter Örtlichkeit (hier: schmales Treppenhaus)
zugelassenen Zuhörer ist vom Revisionsgericht nur auf
Ermessensfehler überprüfbar.
2. Ein Teil der bei öffentlichen Verhandlungen der
Allgemeinheit zur Verfügung stehenden Plätze kann
Pressevertretern vorbehalten bleiben.
3. Zum notwendigen Revisionsvortrag, wenn eine Verletzung des
Öffentlichkeitsgrundsatzes bei einem Augenschein an beengter
Örtlichkeit im Hinblick auf die Auswahl der konkret
zugelassenen Zuhörer gerügt wird.
BGH, Beschl. vom 10.01.2006 - 1 StR 527/05 - LG Ingolstadt
- 2 -
wegen zu 1. und 3.: Totschlags zu 2. und 4.: Beihilfe zum Totschlag
- 3 -
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 10.01.2006 beschlossen:
Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
Ingolstadt vom 13. Mai 2005 werden als unbegründet verworfen.
Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu
tragen. Gründe: Die Angeklagte H. R. ist die Mutter der
Angeklagten M. R. und A. R. . Die Angeklagte M. R. ist die Freundin des
Angeklagten E. . Die Angeklagten H. R. und E. wurden wegen Totschlags,
begangen zum Nachteil von R. R. - Ehemann von H. R. und Vater von M.
und A. R. - verurteilt, H. R. zu Freiheitsstrafe, der zur Tatzeit 18
Jahre alte E. zu Jugendstrafe. Die zur Tatzeit 16 und 15 Jahre alten
Angeklagten M. und A. R. wurden wegen Beihilfe zu dieser Tat zu
Jugendstrafe verurteilt. 1 Sämtliche Revisionen, die jeweils
auf eine Reihe von Verfahrensrügen und die näher
ausgeführte Sachrüge gestützt sind, bleiben
erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO). 2
- 4 -
I. Der näheren Ausführung bedarf dies nur
hinsichtlich sämtlicher Verfahrensrügen der
Angeklagten A. R. und hinsichtlich der von allen Angeklagten erhobenen
Rüge einer Verletzung der Öffentlichkeit (§
169 Satz 1 GVG, § 338 Nr. 6 StPO). 3 1. Hinsichtlich der
für die Angeklagte A. R. erhobenen Verfahrensrügen,
die von der Revision nur abstrakt gekennzeichnet sind (z. B.
"Verletzung der Aufklärungspflicht gemäß
§ 244 Abs. 2 StPO" ; "Verletzung des
Unmittelbarkeitsgrundsatzes, § 250 StPO"), ist zur
Begründung ausschließlich "auf die
Revisionsbegründung des Kollegen St. " <Verteidiger der
Angeklagten H. R. > verwiesen, dessen Ausführungen "zum
Inhalt … eigenen Vortrags" gemacht würden. 4 Der
Generalbundesanwalt hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die
bloße Bezugnahme auf Ausführungen eines anderen
Verfahrensbeteiligten den Anforderungen an die
ordnungsgemäße Begründung von
Verfahrensrügen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) nicht
genügt (vgl. BGH, Urteil vom 23. September 1983 - 2 StR 151/83
<UA S. 9>; Kuckein in KK 5. Aufl. § 344 Rdn. 39;
Hanack in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 344 Rdn.
83 m. w. N.). Hieran hält der Senat auch unter
Berücksichtigung des hiergegen gerichteten Vorbringens der
Revision (§ 349 Abs. 3 Satz 2 StPO) fest. Die von der Revision
in diesem Zusammenhang angesprochene Gefahr einer "Aufblähung
der Verfahrensakten" ist damit nicht notwendig verbunden. Die
Darstellung von Verfahrensrügen in nur einem von mehreren
Verteidigern mehrer Angeklagter gemeinsam eingereichten und gemeinsam
unterzeichneten Schriftsatz ist ohne weiteres möglich (vgl.
BGH NStZ 1998, 99 mit zustimmender Anmerkung Widmaier). 5
- 5 -
2. Soweit für die Angeklagte M. R. die Verletzung der
Öffentlichkeit gerügt ist, geht dies schon im Ansatz
ins Leere. Gegen die zur Tatzeit jugendliche Angeklagte wurde entgegen
§ 48 Abs. 1 JGG nur deshalb öffentlich verhandelt,
weil sich das Verfahren auch gegen einen Erwachsenen (H. R. ) und einen
Heranwachsenden (E. ) richtete, § 48 Abs. 3 Satz 1 JGG. Nur
diese könnten durch eine verfahrensrechtlich zu beanstandende
Ausschließung oder Einschränkung der
Öffentlichkeit beschwert sein, nicht aber die jugendliche
Angeklagte. Da sich aber nur solche Verfahrensbeteiligte auf die
Verletzung von Verfahrensvorschriften berufen können, denen
gegenüber vorschriftswidrig verfahren worden ist, kann ein
jugendlicher Angeklagter eine Verletzung der Öffentlichkeit
auch dann nicht rügen, wenn gegen ihn im Hinblick auf
erwachsene oder heranwachsende Mitangeklagte öffentlich
verhandelt worden ist (BGHSt 10, 119, 120 f.; BGH, Urteil vom 23.
Januar 2003 - 4 StR 412/02 m. w. N.). 6 3. Die Rüge der
Verletzung der Öffentlichkeit bleibt aber auch erfolglos,
soweit sie (mit identischen Ausführungen) für die
Angeklagten H. R. und E. erhoben ist. 7 Folgendes liegt zu Grunde: 8 Am
4. Hauptverhandlungstag wurde das Treppenhaus und ein Kellerraum im
Wohnhaus der Familie R. in Augenschein genommen. Wie die Revision
vorträgt und durch Vorlage von Lichtbildern untermauert, waren
aus diesem Anlass sehr viele Menschen auf der Straße in der
Nähe des Hauses. 9 Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls
war das nicht einmal einen Meter breite Treppenhaus schon allein durch
die Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten "nahezu
überfüllt". Gleichwohl wurden "zur Wahrung der
Öffentlichkeit … zwei Personen aus dem Publikum zur
Augenscheinnahme zugelassen. Mehr war 10
- 6 -
aus räumlichen Gründen und zur Aufrechterhaltung der
Kommunikation nicht möglich". Außerdem ist im
Protokoll festgehalten, dass die Haustüre offen blieb und den
"Pressevertretern ... die Möglichkeit gegeben (wurde), vor der
Haustüre die Augenscheinnahme des Treppenhauses zu verfolgen
…". Nach Abschluss der Augenscheinnahme wurde, wie ebenfalls
aus dem Protokoll ersichtlich, darüber hinaus
"sämtlichen vor Ort befindlichen Pressevertretern sowie zehn
Personen aus dem Publikum (zufällige Auswahl) … .
Gelegenheit gegeben …, die in Augenschein genommenen
Örtlichkeiten ebenfalls in Augenschein zu nehmen". 11 Dieser
letztgenannte Vorgang ist nicht Gegenstand einer
Verfahrensrüge und auch von der Revision nicht vorgetragen. 12
Im Übrigen sehen die Revisionen den Grundsatz der
Öffentlichkeit des Verfahrens durch das geschilderte Geschehen
in mehrfacher Richtung als verletzt an. 13 a) Eingehend und unter
Vorlage von Lichtbildern wird vorgetragen, wie und warum - in, wie auch
die Revision nicht verkennt, "begrenztem Umfang" - mehr Personen zum
Augenschein hätten zugelassen werden können.
Näher dargelegt ist etwa, welche Türen
hätten geöffnet werden können und dass
jedenfalls in dem Keller - Größe: 4,3 m x 4 m - , in
dem sich ein Tisch von 1,34 m x 0,69 m befand, mehr Personen Platz
gehabt hätten. 14 Mit alledem kann die Revision nicht
gehört werden. 15 Selbst wenn Teile eines Sitzungssaales (z.
B. Logen oder Galerien) für Zuhörer
unzugänglich bleiben und deshalb Interessenten abgewiesen
werden müssen, sind dadurch nicht notwendig
Grundsätze zur Gewährleistung der
Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen verletzt (BGH DRiZ
1971, 206, 207 16
- 7 -
m. w. N.). Unter den hier gegebenen Umständen kann erst recht
nichts anderes gelten. Die Revision verkennt im Übrigen, dass
bei der Entscheidung über den Umfang einer im Hinblick auf die
räumlichen Verhältnisse erforderlichen faktischen
Begrenzung der Öffentlichkeit auch die Notwendigkeit einer
geordneten und ungestörten Durchführung der
Verhandlung zu berücksichtigen ist. Ebenso wichtig wie die
Kontrolle der Gerichtsverhandlung durch die Öffentlichkeit
ist, dass die äußere Ordnung des Verhandlungsablaufs
durch die Öffentlichkeit unbeeinträchtigt bleibt
(vgl. nur BGHSt 29, 258, 259 f.; BGH NStZ 1984, 134, 135; Wickern in
Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. vor § 169 GVG Rdn. 11
jew. m. w. N.). Dies ist hier zutreffend erkannt, da auch auf die
"Aufrechterhaltung der Kommunikation" abgestellt ist. Das Vorbringen
der Revision erschöpft sich letztlich in der Darlegung, warum
nach ihrer Wertung der tatsächlichen Verhältnisse
einige wenige Zuhörer mehr an der Augenscheinseinnahme
hätten teilnehmen können. Die Würdigung der
(oft nur schwer rekonstruierbaren) tatsächlichen
Verhältnisse anlässlich eines Augenscheins und die
danach unter Berücksichtigung der Wahrung der Ordnung der
Sitzung (§ 176 GVG) zu fällende Entscheidung
über den Umfang, in dem Öffentlichkeit zugelassen
werden kann, obliegt dem Vorsitzenden. Sie ist vom Revisionsgericht
nicht in tatsächlichen Details zu überprüfen
- hier etwa in dem Sinne, ob nicht doch noch einige wenige weitere
Personen in Keller oder Treppenhaus hätten Platz finden
können -, sondern nur auf Rechtsfehler bei der
Ermessensausübung (vgl. generell zum revisionsrechtlichen
Prüfungsmaßstab bei der Rüge der Verletzung
der Öffentlichkeit Wickern aaO § 169 GVG Rdn. 63;
Kuckein in KK 5. Aufl. § 338 Rdn. 90 m. w. N.). Ein derartiger
Fehler ist jedoch weder von der Revision aufgezeigt noch sonst
ersichtlich. b) Ebenso wenig liegt eine ungesetzliche
Einschränkung der Öffentlichkeit darin, dass die -
offensichtlich sehr wenigen - "Stehplätze" außen vor
der Haustür Journalisten vorbehalten blieben, damit diese den
Augenschein im Treppenhaus von außen beobachten konnten. 17
- 8 -
Die von der Revision herangezogene Entscheidung des Bundesgerichtshofs
vom 20. März 1975 - 4 StR 7/75 ergibt nichts anderes. Hier ist
die - auch in jenem Fall tatsächlich nicht vorliegende -
Situation behandelt, dass nur Polizeischüler in einem
Gerichtssaal waren, da für sie dort die Plätze
reserviert waren und andere vor den Polizeischülern
erschienene Interessenten deshalb fortgeschickt wurden. Diese
Fallgestaltung ist mit der hier gegebenen Fallgestaltung selbst dann
nicht zu vergleichen, wenn man das vorliegend zu Grunde liegende
Geschehen mit der Reservierung von Sitzplätzen in einem
Gerichtssaal gleichsetzt. Im Hinblick auf die besondere Funktion der
Presse, deren Anwesenheit schon im Ansatz die öffentliche
Kontrolle von Gerichtsverhandlungen nicht einschränkt sondern
fördert, ist es nicht zu beanstanden, wenn einige
Zuschauerplätze - nicht alle Plätze (vgl. hierzu BGH
bei Dallinger MDR 1970, 559, 561) - Pressevertretern vorbehalten
bleiben (vgl. Wickern aaO § 169 GVG Rdn. 13; Kissel/Mayer, GVG
4. Aufl. § 169 Rdn. 33; Foth DRiZ 1980, 103). Dass hier
anderes geschehen sei, ist dem Revisionsvorbringen nicht zu entnehmen.
18 c) Hinsichtlich der beiden zum Augenschein zugelassenen
Zuhörer trägt die Revision vor, das
"Reihenfolgeprinzip" sei nicht eingehalten worden und die Auswahl
dieser beiden Zuhörer sei willkürlich erfolgt. Mit
Tatsachen unterlegt ist dies nicht. 19 Dieser Vortrag genügt
nicht den Anforderungen von § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO an die
ordnungsgemäße Begründung der
Verfahrensrüge. 20 Es fehlt der Vortrag, auf welche konkrete
Weise die beiden Zuhörer ausgewählt wurden, die am
Augenschein teilnehmen konnten. Dies wäre nur dann nicht
erforderlich gewesen, wenn die Behauptung, das "Reihenfolgeprinzip" sei
nicht eingehalten worden, schon für sich genommen
schlüssig die Behauptung eines Rechtsfehlers enthielte. So
verhält es sich nicht. Die Grundsätze, die bei 21
- 9 -
dem Einlass in einen Gerichtssaal ohne weiteres sinnvoll und praktisch
durchführbar sind - Einlass nach Reihenfolge des Erscheinens
am Eingang - , können offensichtlich nicht in vollem Umfang
auf die hier gegebene Situation übertragen werden, in der sich
eine große Menge von Menschen auf offener Straße
befand. Es versteht sich keinesfalls von selbst, dass alle Personen,
die auf der Straße waren, darauf Wert legten, zu den
jedenfalls ganz Wenigen zu gehören, die anlässlich
eines gerichtlichen Augenscheins einen Blick in das Treppenhaus werfen
können. Nicht weniger nahe liegt, dass eine Reihe von ihnen
erschienen war, weil frühere Bewohner des Hauses, die eines
spektakulären Kapitalverbrechens verdächtig waren,
vorgeführt wurden und dadurch auf der Straße zu
sehen waren. Eine gerichtliche Prüfung, wer hier wann und mit
welchem Ziel wo auf der Straße war, wäre offenbar
unverhältnismäßig und mit vertretbarem
Aufwand nicht durchführbar gewesen. Entscheidend ist vielmehr
allein, ob der Zugang zu dem Augenschein nicht gesetzeswidrig von
persönlichen Eigenschaften abhing, sondern ob er - nach
Maßgabe der tatsächlichen örtlichen
Verhältnisse - im Prinzip jedermann offen stand (vgl. nur
BGHSt 27, 13, 14; Diemer in KK 5. Aufl. § 169 GVG Rdn. 6 m. w.
N.). Ob dies der Fall war oder nicht, kann allein an Hand des
Vortrages, das Reihenfolgeprinzip sei nicht eingehalten worden, nicht
zuverlässig beurteilt werden, da tatsächliche
Angaben, wie es dazu kam, dass gerade diesen speziellen beiden Personen
die Anwesenheit im Treppenhaus gestattet wurde, fehlen. Der
zusätzliche Vortrag, dass deren Auswahl "willkürlich"
erfolgt sei, kann daran nichts ändern. Die Bewertung eines
Geschehens als will-kürlich kann Ergebnis der rechtlichen
Überprüfung eines bestimmten Sachverhalts sein, die
konkrete Angabe von Tatsachen, die diese Bewertung tragen sollen, aber
nicht ersetzen.
- 10 -
Letztlich wurde, wie dargelegt, nach der gerichtlichen
Augenscheinseinnahme noch Pressevertretern und weiteren, nach dem
"Zufallsprinzip" ausgewählten Personen die Anwesenheit in dem
Haus gestattet. Dies belegt, dass das Landgericht sowohl
überobligationsmäßig bemüht war,
Öffentlichkeit im Zusammenhang mit der Augenscheinseinnahme in
dem Haus zu ermöglichen, ebenso belegt es, dass es sich des
maßgeblichen Grundsatzes bei aus faktischen Gründen
nicht unbeschränkt möglicher Öffentlichkeit
("Zufallsprinzip") bewusst war. Dies erhärtet das Ergebnis,
dass die nicht mit konkreten Sachverhaltsschilderungen unterlegte
Behauptung, es sei das - hier nicht notwendig einzuhaltende -
"Reihenfolgeprinzip" nicht beachtet und willkürlich gehandelt
worden, nicht in der erforderlichen Weise aufzeigt, in welchen
Tatsachen der gerügte Verfahrensmangel gesehen wird
(§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Der Senat sieht daher keinen
Anlass, dem in Rede stehenden Vorgang in tatsächlicher
Hinsicht näher nachzugehen. 22
- 11 -
II. Auch im Übrigen sind die Revisionen unbegründet.
Der Senat nimmt insoweit auf die zutreffenden Ausführungen des
Generalsbundesanwalts Bezug, die auch durch die Erwiderungen der
Revision (§ 349 Abs. 3 Satz 2 StPO) nicht entkräftet
werden. 23
Nack Wahl Hebenstreit Elf Graf |