BGH,
Beschl. v. 10.10.2000 - 1 StR 420/00
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
1 StR 420/00
vom
10. Oktober 2000
in der Strafsache gegen
wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 10. Oktober 2000
beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Heilbronn vom 13. Juni 2000 im gesamten Rechtsfolgenausspruch mit den
Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine
andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen
Mißbrauchs von Kindern in zwei Fällen sowie wegen
schweren sexuellen Mißbrauchs von Kindern zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt.
Darüber hinaus hat es die Unterbringung des Angeklagten in der
Sicherungsverwahrung angeordnet. Gegen dieses Urteil wendet sich der
Angeklagte mit seiner auf eine Verfahrensrüge und die
Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat im
Rechtsfolgenausspruch Erfolg; im übrigen ist es
unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Rüge der Verletzung der Vorschriften über die
Mitteilung der Gerichtsbesetzung (§§ 220a, 338 Nr. 1
StPO) ist unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Wie
der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift zutreffend darlegt,
hätte es der Behauptung der unrichtigen Besetzung des Gerichts
bedurft und nicht nur des Vortrags, dieses habe die Mitteilung einer
Änderung der Besetzung unterlassen (BGH, Beschl. v. 25.
November 1997 - 1 StR 675/97; Beschl. v. 16. Dezember 1994 - 2 StR
652/94).
2. Die Überprüfung des Schuldspruchs aufgrund der
Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten
ergeben.
3. Dagegen kann der gesamte Rechtsfolgenausspruch nicht bestehen
bleiben, weil die Urteilsgründe dem Senat nicht die
Nachprüfung ermöglichen, ob das Landgericht eine
erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit nach
§ 21 StGB in rechtlich zutreffender Weise ausgeschlossen hat.
Dadurch ist der Angeklagte beschwert, denn bei Annahme einer schweren
anderen seelischen Abartigkeit könnte die Tatschuld geringer
zu bewerten sein und es könnte eine Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB in Betracht kommen.
a) Das Landgericht ist, die Ergebnisse des Gutachtens des
psychiatrischen Sachverständigen referierend, zu der sicheren
Überzeugung gelangt, bei dem Angeklagten sei zwar eine
sexuelle Devianz im Sinne einer "Pädophilie" gegeben. Es
handele sich aber nicht um eine suchtartige Einengung des sexuellen
Verhaltens. Es seien durchaus auch dissoziale
Persönlichkeitszüge vorhanden, ohne daß
jedoch das Vollbild einer dissozialen
Persönlichkeitsstörung im Sinne des aktuellen
psychiatrischen Klassifikationssystems ICD 10 F 65. 4 (vgl.
Internationale Klassifikation psychischer Störungen,
Dilling/Mombour/Schmidt (Hrsg.) 3. Aufl. [1999]) vorliege.
Die Jugendkammer hat zur Entwicklung des abweichenden Sexualverhaltens
des jetzt 58jährigen Angeklagten folgendes festgestellt:
Bereits im Alter von zwölf oder dreizehn Jahren traten die
ersten sexuellen Impulse auf. Mit vierzehn Jahren kam es zu
gelegentlichen sexuellen Kontakten zu Jungen. Im 18. Lebensjahr hatte
der Angeklagte wiederum sexuelle Kontakte zu einem gleichaltrigen
Jungen und im selben Jahr den ersten heterosexuellen Geschlechtsverkehr
mit einer etwa zehn Jahre älteren Frau. Etwa zu dieser Zeit
hatte der Angeklagte einen ersten pädophilen Kontakt zu zwei
sechs- und siebenjährigen Nachbarsmädchen und einem
siebenjährigen Jungen. 1959, 1963, 1976 und 1991 wurde er
jeweils wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern verurteilt.
Nachdem sein Sexualverhalten in der Zeit von Dezember 1992 bis April
1993 darin gipfelte, daß er sich an seiner leiblichen Tochter
verging, unterzog er sich - zunächst freiwillig und dann im
Rahmen einer gerichtlichen Weisung - einer Sexualtherapie. Im Rahmen
dieser Therapie wurde auch ein sexualdämpfendes Medikament mit
antiandrogener Wirkung (Androcur) verabreicht. Diese
medikamentöse Behandlung wurde in Form von
vierzehntägigen Depotspritzen bis 1996 fortgeführt.
Aufgrund der mehrjährigen Einnahme des Medikaments kam es beim
Angeklagten zu einer erektilen Dysfunktion, die dazu führte,
daß sexuelle Kontakte zu seiner langjährigen
Bekannten erfolglos blieben. Da er jedoch weiterhin einen starken
Sexualtrieb verspürte, kam etwa ab Mitte 1999 seine
pädophile Neigung wieder stärker zum Ausbruch. An
eine Wiederaufnahme der Sexualtherapie einschließlich der
Medikation dachte der Angeklagte nicht.
Diese Feststellungen hätten dazu drängen
müssen, in einer Gesamtschau von
Täterpersönlichkeit und Taten der Frage besonders
kritisch nachzugehen, ob die "Pädophilie" aufgrund der bereits
lang andauernden pathologischen Entwicklung beim Angeklagten nicht zu
Symptomen geführt hat, die zunehmend seine
Persönlichkeit besetzt, d.h. "führend" geworden sind,
oder sogar bei ihm zu einer schweren und umfassenden
Persönlichkeitsdeformierung geführt haben (Rasch,
Forensische Psychiatrie 2. Aufl. S. 279). Dann liegen in der Regel die
psychiatrischen Voraussetzungen für eine schwere andere
seelische Abartigkeit vor, die auch strafrechtlich die
Beeinträchtigung seiner Verantwortlichkeit nahe legt (Rasch,
Die psychiatrisch-psychologische Beurteilung der sogenannten schweren
anderen seelischen Abartigkeit, StV 1991, 126, 131).
b) Allerdings ist nicht jedes abweichende Sexualverhalten in Form einer
"Pädophilie" ohne weiteres einer schweren
Persönlichkeitsstörung gleichzusetzen, die als
Merkmal des § 20 StGB einer schweren anderen seelischen
Abartigkeit zuzuordnen ist und zu einer Schuldmilderung nach
§§ 21, 49 Abs. 1 StGB führen muß
(BGH NStZ 1999, 126 mit Anm. Winckler/Foerster). Liegt ausreichendes
Anknüpfungsmaterial für ein umfassendes
Persönlichkeitsbild vor, kann aus psychiatrischer Sicht auch
der Schluß gerechtfertigt sein, daß nur eine
gestörte sexuelle Entwicklung vorliegt, die als eine
allgemeine Störung der Persönlichkeit, des
Sexualverhaltens oder der Anpassung kein krankheitswertiges
Ausmaß aufweist und damit keinen Einfluß auf die
strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten hat.
Dagegen kann die Steuerungsfähigkeit beeinträchtigt
sein, wenn Sexualpraktiken zu einer eingeschliffenen
Verhaltensschablone werden, die sich durch abnehmende Befriedigung,
zunehmende Frequenz, durch Ausbau des Raffinements und durch
gedankliche Einengung auf diese Praktiken auszeichnen (Nedopil,
Forensische Psychiatrie 2. Aufl. [2000] S. 165, 168).
Der vom Landgericht verwendete psychiatrische Begriff
"Pädophilie" ist dabei nur eine Sammelbezeichnung, die alle
sexuell betonten Neigungen zu Kindern umfaßt (Nedopil aaO S.
165). Eine Einordnung in die für die Begutachtung
übliche Typologie nach Schorsch, Sexualstraftäter
[1971], ist nicht erfolgt. Damit bleibt offen, ob die aktuellen
strafbaren sexuellen Handlungen auf Verhaltensmustern beruhen, die sich
bereits im jugendlichen Alter verfestigt haben, ob sie Folge einer
Destabilisierung und sozialen Desintegration im mittleren Lebensbereich
oder ob sie bereits Ausdruck einer beginnenden
Alterspädophilie sind (vgl. zur Typologie Venzlaff/Foerster,
Psychiatrische Begutachtung, 3. Aufl. S. 254 f.). Wichtiger als die
Feststellung der Art der sexuellen Deviation sind allerdings
Ausführungen über die Verlaufsformen des sexuellen
Verlangens beim Angeklagten. Das Urteil enthält keine
näheren Darlegungen darüber, ob die Wünsche
und das Verlangen nach pädophilen Kontakten krisenhaft
entstanden und über welche Möglichkeiten der inneren
Auseinandersetzung mit seiner Deviation der Angeklagte
verfügte. Damit fehlt auch das Ergebnis der
sachverständigen Beurteilung des Maßes der
Determiniertheit der sexuellen Handlungen (Venzlaff/Foerster aaO S.
252; vgl. auch die Anm. von Winckler/Foerster zu BGH NStZ 1999, 126,
128). Schließlich fehlt die Wiedergabe der Beurteilung
dafür, welchen Einfluß die langjährige
Behandlung mit Androcur und das Absetzen des Medikaments auf die
aktuellen Verlaufsformen der sexuellen Deviation und den
Entschluß des Angeklagten zur erneuten Begehung strafbarer
Handlungen des sexuellen Mißbrauchs an Kindern gehabt hat.
Erst auf der Grundlage einer angesichts der Gesamtumstände
gebotenen ausführlichen psychiatrischen Diagnose kann der
Tatrichter im Rahmen der Erheblichkeitsprüfung die Wertung
treffen, ob die von der Norm abweichende sexuelle Präferenz
den Täter - nicht anders als bei den sonstigen
Persönlichkeitsstörungen - in seiner
Persönlichkeit so nachhaltig verändert hat,
daß er selbst bei Aufbietung aller ihm eigenen
Willenskräfte dem Trieb nicht ausreichend zu widerstehen
vermag oder ob sie - in Folge seiner Abartigkeit - den Täter
in seiner gesamten inneren Grundlage und damit im Wesen seiner
Persönlichkeit so verändert, daß er zur
Bekämpfung seiner Triebe nicht die erforderlichen Hemmungen
aufbringt (BGH NStZ 1998, 30, 31; 1996, 401, 402; Jähnke in LK
StGB 11. Aufl. § 20 Rdn. 64). Steht fest, daß der
Täter aus einem mehr oder weniger unwiderstehlichen Zwang
heraus gehandelt hat und drohen weitere erhebliche Straftaten, hat der
Tatrichter zu prüfen, ob eine Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus notwendig ist (BGHSt 42, 385, 388).
d) Eine solche Gesamtbetrachtung der Taten und der
Persönlichkeit des Täters fehlt hier. Die Darlegungen
des Landgerichts zum bisherigen Werdegang des Angeklagten und zu seinem
abweichenden Sexualverhalten legen es eher nahe, daß er seine
pädophile Neigung nicht beherrschen kann. Dem Urteil ist zu
entnehmen, daß der Angeklagte bereits seit vielen Jahren
immer wieder in einschlägiger Weise in Erscheinung getreten
ist und daß er zumindest in den Jahren von 1993 bis 1996
Hilfe in der Medikation mit Androcur gesucht hat. Die mitgeteilten
Beziehungen zu erwachsenen Frauen legen nahe, daß erhebliche
Schwierigkeiten bei normalen Sexualkontakten bestanden haben. Die
Wiederaufnahme von pädophilen Sexualkontakten nach dem
Scheitern der letzten Beziehung, der Ausbau des Raffinements zur
Erlangung ungestörter Kontakte zu den Kindern und die
Hinwendung zu drei Tatopfern während der Zeit von Juli bis
Ende November 1999 deuten auf eine sich steigernde Frequenz der
Sexualkontakte und damit auf eine süchtige Entwicklung hin
(BGH NJW 1982, 2009; BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 22
m.w.N.). Dies erfordert eine vertiefte Auseinandersetzung damit, ob der
Angeklagte infolge seiner pädophilen Veranlagung in seiner
Persönlichkeit derart beeinträchtigt ist,
daß er die Anforderungen an normgemäßes
Verhalten nicht oder nur in erheblich geringerem Maße
erfüllen konnte als andere Menschen (vgl. BGHR StGB §
63 Zustand 23, 28). Weshalb der vom Landgericht gehörte
Sachverständige davon ausgegangen ist, "es handele sich dabei
aber nicht um eine suchtartige Verengung des sexuellen Verhaltens
gerade auf diesen Sektor sexueller Betätigung", ist
für den Senat aus den Urteilsgründen nicht
nachzuvollziehen. Dies gilt nicht zuletzt deshalb, weil der
Sachverständige zur Begründung der für die
Sicherungsverwahrung erforderliche Feststellung eines Hanges im Sinne
des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB ausgeführt hat, beim
Angeklagten sei ein erheblicher Mangel an Empathie und
Frustrationstoleranz festzustellen. Diese Merkmale hätten sich
beim Angeklagten so verfestigt, daß die Taten "allesamt
dasselbe Verhaltensmuster zeigen und auf eine fest verwurzelte Neigung
schließen lassen".
4. Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich
darauf hin, daß der Tatrichter seiner Aufgabe, sich eine
eigene Überzeugung über den Zustand des Angeklagten
zu bilden, grundsätzlich nicht dadurch gerecht wird,
daß er lediglich die Befunde des Sachverständigen
wiedergibt, ohne sich mit diesen auseinanderzusetzen (BGHR StPO
§ 261 Überzeugungsbildung 17).
Jedenfalls müssen, wenn der Tatrichter dem Ergebnis eines
Sachverständigengutachtens ohne Angaben eigener
Erwägungen folgt, die wesentlichen
Anknüpfungstatsachen und Darlegungen des
Sachverständigen im Urteil so wiedergegeben werden, wie dies
zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner
Schlüssigkeit erforderlich ist (BGH NStZ 1999, 610, 611).
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