BGH,
Beschl. v. 11.11.2004 - 5 StR 376/03
Nachschlagewerk:
BGHSt
: ja
Veröffentlichung: ja
MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1
StPO § 267 Abs. 3, § 344 Abs.
2
Ein Revisionsführer, der das Vorliegen einer Art. 6 Abs. 1
Satz 1
MRK verletzenden Verfahrensverzögerung geltend machen will,
muß grundsätzlich eine Verfahrensrüge
erheben. Ergeben sich indes
bereits aus den Urteilsgründen die Voraussetzungen einer
solchen
Verzögerung, hat das Revisionsgericht auf Sachrüge
einzugreifen.
Das gilt auch, wenn sich bei der auf Sachrüge
veranlaßten Prüfung,
namentlich anhand der Urteilsgründe, ausreichende
Anhaltspunkte
ergeben, die das Tatgericht zur Prüfung einer solchen
Verfahrens-
verzögerung drängen mußten, so
daß ein sachlich-rechtlich zu bean-
standender Erörterungsmangel
vorliegt.
BGH, Beschluß vom 11. November 2004 - 5 StR
376/03
LG Frankfurt (Oder) -
5 StR 376/03
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom 11. November 2004
in der Strafsache
gegen
wegen gewerbsmäßiger Bandenhehlerei u.a.
- 2 -
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 11. November 2004
beschlossen:
Auf die Revision des
Angeklagten
M
wird das Urteil des
Landger ichts Frankfurt/Oder vom 2. April 2003
gemäß § 349
Abs. 4 StPO im
gesamten Strafausspruch aufgehoben, so-
weit es ihn betrifft.
Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als
unbegründet verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhand-
lung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmit-
tels, an eine andere
Strafkammer des Landgerichts
zurück-
verwiesen.
G r ü n d e
Das Landgericht hat den Angeklagten
M wegen
gewerbsmäßiger
Bandenhehlerei in sieben Fällen und wegen Beihilfe
zum versuchten Betrug
zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei
Jahren verurteilt. Hiergegen wendet
sich der Angeklagte mit
seiner auf die
Sachrüge gestützten
Revision. Sein
Rechtsmittel führt zur Aufhebung
des landgerichtlichen Ur teils im
gesamten
Strafausspruch gegen den Revisionsführer; im übrigen
ist es unbegründet im
Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
I.
Nach den Feststellungen des
Landgerichts gehörte der
Angeklagte
zu einer in wechselnder
Zusammensetzung arbeitsteilig und inter
national
- 3 -
organisiert handelnden Bande, die durch Straftaten erlangte hochwertige
Au-
tos von Stettin aus nach Osteuropa
verschob. Der Angeklagte wirkte
dabei
zwischen 1994 und Sommer 1998 in
insgesamt sieben Fällen als Kurierfah-
r er an dem Transport der Fahrzeuge nach Osteuropa mit. In einem Fall
betei-
ligte er sich an der
Täuschung einer
Kfz-Versicherung, als er mit
anderen
einen wahrheitswidrig als gestohlen gemeldeten Pkw nach Minsk
verbrachte
und dort veräußerte. Den letztgenannten Fall hat das
Landgericht als Beihilfe
zum versuchten Betrug gewertet, die
übrigen Taten als jeweils selbständige
Handlungen der gewerbsmäßigen Hehlerei
gemäß § 260a StGB.
Das Landgericht hat weiter festgestellt, daß der
Haupttäter nichtrevi-
dierende Mitangeklagte
T
kurz nach seiner Inhaftierung im Juni 1998
ein umfassendes Geständnis abgelegt und
dabei auch die Mittäter benannt
hat. Der Angeklagte war
in dieser Sache vom
28. Oktober 1998 bis
20. Januar 1999 in Untersuchungshaft.
II.
Die Revision ist unbegründet im
Sinne des § 349
Abs. 2 StPO, so-
weit sich der Angeklagte gegen den Schuldspruch wendet. Auf die
Sachrüge
hebt der Senat jedoch den
gesamten Strafausspruch auf, weil
das Landge-
r icht sich in den
Urteilsgründen nicht damit
auseinandergesetzt hat, ob im
vorliegenden Fall eine
rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung
gegeben
war.
1. Für die Entscheidung des Senats über die Revision
des Angeklag-
ten im vorliegenden Verfahren
ist die Frage erheblich, ob und inwieweit die
r evisionsgerichtliche Prüfung
einer Ar t. 6 Abs. 1 Satz
1 MRK verletzenden
Verfahrensverzögerung auf Sachrüge zu erfolgen hat
oder die Erhebung ei-
ner entsprechenden
Verfahrensrüge voraussetzt.
Diese Frage war in der
Rechtsprechung der Senate des
Bundesgerichtshofs bislang streitig. Der
Senat hat die Frage
mit Beschluß vom 13.
November 2003 (wistra 2004,
- 4 -
181) zum Gegenstand eines Anfrageverfahrens nach § 132 Abs. 3
GVG ge-
macht. Die Antwortbeschlüsse
der anderen Strafsenate haben
zwar kein
ganz einheitliches Bild
ergeben. Indes gibt es
deutliche Anzeichen für eine
Annäherung der gegensätzlichen Standpunkte,
die eine - im übrigen wegen
der damit verbundenen weiteren
Verfahrensver zögerung kontraindizierte -
Befassung des Großen
Senats für Strafsachen
nach § 132 Abs.
2 oder
Abs. 4 GVG entbehrlich macht.
a) Der Senat erkennt an, daß es
jenseits eines sich schon aus der Ur-
teilsurkunde ergebenden Erörterungsbedar fs einer
Verfahr ensrüge dann be-
darf, wenn der
Beschwerdeführer das Vorliegen
einer rechtsstaatswidrigen
Verfahrensverzögerung dartun
will. Deshalb ist der
Senat bereit, unter Auf-
gabe seines weitergehenden Standpunktes
im Anfragebeschluß die Rechts-
position des 3. Strafsenats
(Antwortbeschluß vom 12. August
2004
- 3 ARs 5/04) prinzipiell
zu übernehmen, dem
auch die Auffassung des
4. Strafsenats tendenziell nahekommt
(Antwortbeschluß vom 25. März 2004
- 4 ARs 6/04). Danach ist für die r evisionsgerichtliche
Prüfung, ob im Einzel-
fall eine Art. 6 Abs. 1 Satz
1 MRK verletzende
Verfahrensverzögerung vor-
liegt, grundsätzlich eine Verfahrensrüge
erforderlich. Ergeben sich indes be-
r eits aus den
Urteilsgründen die
Voraussetzungen einer solchen
Ver zöge-
r ung, hat das Revisionsgericht
auf Sachrüge einzugr eifen.
Das gleiche gilt
aber auch, wenn sich bei der auf Sachrüge
veranlaßten Prüfung, namentlich
anhand der Urteilsgründe,
ausreichende Anhaltspunkte ergeben,
die das
Tatgericht zur Prüfung
einer solchen
Verfahrensverzögerung dr ängen
muß-
ten, so daß ein sachlich-rechtlich zu beanstandender
Erörterungsmangel vor-
liegt.
Die Voraussetzungen eines
solchen Erörterungsmangels werden
nach den individuellen Gegebenheiten
eines jeden Einzelfalls zu
beurteilen
sein. So wird eine
überdurchschnittlich lange
Verfahrensdauer wegen der
vielen denkbaren Ursachen nicht
ohne weiter es einen sachlichr echtlichen
Erörterungsbedarf in diesem Sinne auslösen, wie in
den genannten Antwort-
- 5 -
beschlüssen im einzelnen
näher erläutert ist.
Den - im Rahmen des
Art. 6
Abs. 1 Satz 1 MRK freilich
dokumentationspflichtigen - Tatrichtern
wird in
diesem Ber eich kein
unangemessener übergroßer
Begründungsbedarf ab-
verlangt; selbstverständlich
wird eine schlüssige
schlagwortartige Erklärung
für eine auffällige
Verfahrensverzögerung ausreichen.
Es wird auch nicht
ernsthaft die Gefahr bestehen,
daß es zu
Urteilsaufhebungen allein wegen
Begründungsdefiziten in einer erheblichen
Zahl von Fällen kommen
wir d, in
denen tatsächlich gar
keine Ver fahrensverzögerung im
Sinne des Art. 6
Abs. 1 Satz 1 MRK vorlag.
b) Die Antwortbeschlüsse des 1. und des 2. Str
afsenats stehen dem
gefundenen Ergebnis nicht entgegen.
aa) Im Antwortbeschluß
des 2. Strafsenats vom 26. Mai
2004
- 2 ARs 33/04 - (vgl. StraFo 2004, 356) wird ebenfalls Raum
für eine revisi-
onsgerichtliche Prüfung zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK auf
Sachrüge gesehen.
Zwar werden die Vor aussetzungen hierfür enger
gefaßt, doch ist der genann-
ten Auffassung widerstreitende Rechtsprechung dieses Senats
nicht ersicht-
lich.
bb) Wie sich aus dem
Antwortbeschluß des 1.
Strafsenats vom
23. Juni 2004 - 1 ARs 5/04 - ergibt, hält dieser Senat eine
Verfahrensrüge in
Fällen der vorliegenden Art in sehr viel weitergehendem Umfang
für unerläß-
lich. Indes steht auch
der Beschluß dieses
Senats vom 3. August 2000
- 1 StR 293/00 -, der nach dem Antwortbeschluß einem
Eingreifen auf Sach-
r üge tragend entgegenstehen
soll, der Annahme eines Er
örterungsmangels
in Fällen signifikanter Anhaltspunkte für eine gegen
Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK
verstoßende
Verfahrensverzögerung nicht
zwingend entgegen. Dies hat der
1. Strafsenat auf informelle Nachfr
age bestätigt. Danach
hält zudem auch
dieser Senat im Blick auf das Gesamtbild der Ergebnisse des
Anfrageverfah-
r ens eine im Einzelfall
praktikabel zu handhabende
Vereinheitlichung der
Rechtsprechung der Senate ohne ein
Vorlageverfahren an den Großen Se-
- 6 -
nat für Strafsachen
für vertretbar und
auch sachgerecht. Der 1.
Strafsenat
tendiert nunmehr zu der Auffassung,
daß ein
Revisionsführer, der das Vor-
liegen einer Art. 6 Abs. 1 Satz
1 MRK verletzenden
Verfahrensverzögerung
geltend machen will, grundsätzlich eine
Verfahrensrüge erheben müsse; nur
in besonderen Ausnahmefällen könne
insoweit ein auf die Sachrüge zu
prü-
fender Erörterungsmangel
vorliegen; dafür sei
maßgeblich, daß in
den Ur-
teilsgründen Umstände
festgestellt sein müßten, die
für das Vorliegen einer
solchen Verfahrensverzögerung so
signifikant seien, daß
sie den Tatrichter
zur Prüfung des darin liegenden Verstoßes
drängen.
c) Damit bestehen zwischen den
Senaten im Ergebnis zwar im ein-
zelnen noch unterschiedliche
Auffassungen zur sachlich-rechtlichen
Erörte-
r ungspflicht bei Anzeichen
für eine rechtsstaatswidrige
Verfahrensverzöge-
r ung. Da aber keine
tragende Divergenz in der Frage
besteht, daß für den
Tatrichter in diesem Bereich
überhaupt eine
Erörterungspflicht entstehen
kann, ist auch die
Notwendigkeit einer Anrufung
des Großen Senats nach
§ 132 Abs. 2 GVG
entfallen. Dies gilt insbesonder
e deshalb, weil der
5. Strafsenat nunmehr zubilligt,
daß im Revisionsverfahren
der Einwand ei-
ner r echtsstaatswidrigen
Verfahrensverzögerung
grundsätzlich in der Form
einer Verfahrensrüge (vgl. BGHR
MRK Art. 6 Abs. 1
Satz 1 Verfahrensver-
zögerung 19) zu erheben ist, wobei allerdings die
Anforderungen an den Re-
visionsvortrag (§ 344 Abs. 2
Satz 2 StPO) nicht übersteigert
werden dürfen
( so auch die Antwortbeschlüsse des
1. und des 2. Strafsenats). Eine
mögli-
cherweise verbleibende Divergenz
bezieht sich letztlich nur
noch auf den
konkreten Subsumtionsvorgang und
die Reichweite der sachlich-rechtlichen
Prüfungspflicht in zukünftigen
Einzelfällen. Zwischen den Senaten
steht mit-
hin allenfalls eine unterschiedliche Bewertung zu beurteilender
Sachverhalte,
jedoch keine - vom Großen Senat
für Strafsachen abstr akt zu beantworten-
de - Rechtsfrage mehr im Streit.
2. Nach den vorgenannten
Grundsätzen hätte es
im vorliegenden
Fall einer Erörterung bedurft, ob eine rechtsstaatswidrige
Verfahrensverzöge-
- 7 -
rung eingetreten war. Mit dem
sehr umfänglichen Geständnis des
Haupttä-
ters im Juni 1998, das bereits zu Beginn der Er mittlungen erfolgte und
nach
den Urteilsgründen die
Tatabläufe und die
Tatbeteiligungen anderer umfas-
send aufdeckte, waren die Taten weitgehend geklärt, zumal auch
der (nicht-
r evidierende) Mitangeklagte
P
ebenfalls schon im Ermittlungsverfahren
geständig war. Der Angeklagte war - jedenfalls
spätestens mit seiner Inhaf-
tierung im Oktober 1998 - als Tatbeteiligter bekannt.
Die Anklageschrift, die
der Senat als
Verfahrensvoraussetzung von Amts
wegen zur Kenntnis zu
nehmen hatte, datierte gleichwohl erst vom Dezember 2001. Auf welche Um-
stände es zurückzuführen war, daß
es erst nach über drei Jahren zur Ankla-
geerhebung kam, hätte deshalb im Hinblick auf den durch die
weitgehenden
Geständnisse bestimmten
Ermittlungsstand unter dem
Gesichtspunkt einer
den Strafverfolgungsbehörden zuzur
echnenden beträchtlichen Verfahrens-
verzögerung der Darlegung bedurft.
Bei der Feststellung einer
rechtsstaatswidrigen Verfahrensver zöge-
r ung muß allerdings
immer auch die
Gesamtverfahrensdauer in Rechnung
gestellt werden, zumal dur ch
eine besondere Beschleunigung
in späteren
Verfahrensabschnitten
Verfahrensverzögerungen in
anderen Verfahrensab-
schnitten kompensiert werden
können (BGHR MRK Ar t.
6 Abs. 1 Verfah-
r ensverzögerung 9; StGB
§ 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung
17; vgl. auch
EGMR wistra 2004, 177). Der
Zeitraum zwischen Anklageerhebung und Ur-
teilsspruch, der wiederum fast
ein Jahr und fünf
Monate in Anspruch ge-
nommen hat, ist hingegen seinerseits so lang, daß auch
insoweit eine Darle-
gung der Ursachen geboten
gewesen wäre. In der
Zusammenschau beider
Verfahrensabschnitte gilt dies in besonderem Maße.
Es war hier eine - aus
der Mitteilung der relevanten Verfahrenstatsachen und
möglicherweise einer
daran anknüpfenden
Würdigung bestehende -
Erläuterung dahingehend u-
nerläßlich, warum trotz der fr ühzeitigen
umfassenden Geständnisse das Ver-
fahren insgesamt fast
fünf Jahre bis zum
erstinstanzlichen Urteil gedauert
hat. Dabei mag die Komplexität des Verfahrens und der
Auslandsbezug nach
Osteuropa eine Rolle spielen.
Andererseits erschließt sich
im vorliegenden
- 8 -
Fall nicht ohne weiteres, wie sich dieser Umstand auf den dann auch in
der
Hauptverhandlung geständigen
Angeklagten ausgewirkt haben
könnte, der
ersichtlich bereits frühzeitig von Mitangeklagten belastet
worden war .
Diese Prüfung wird
der neue Tatrichter
nachzuholen haben. Einer
Aufhebung der Feststellungen bedarf es hierfür aber
nicht, weil der neue Tat-
richter zusätzliche
Feststellungen zur
Verfahrensverzögerung wird treffen
können, ohne sich zu
den bisherigen in Widerspruch zu
setzen. Er wird zu-
dem die im Revisionsrechtszug
infolge des dur chgeführten Zwischenverfah-
rens nach § 132 Abs. 3 GVG notwendig gewor dene weitere
Verfahrensdauer
in Bedacht zu nehmen haben - dies
freilich nur unter den
allgemeinen Ge-
sichtspunkten des erheblichen zeitlichen Abstandes zwischen Tat und
Abur-
teilung sowie etwaiger
Belastungen durch die lange
Verfahrensdauer (vgl.
BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 13).
III.
Eine Erstreckung der Aufhebung gemäß
§ 357 StPO auf die nichtre-
vidierenden Mitangeklagten kommt nicht in Betracht.
Ein Er örterungsmangel
- 9 -
liegt bei diesen schon deshalb nicht vor, weil die insoweit
maßgeblichen Dar-
stellungspflichten hinsichtlich der nichtrevidierenden Mitangeklagten
in einem
nach § 267 Abs. 4 StPO abgekürzten Urteil nicht
bestehen.
Harms
RiBGH Häger ist
wegen
Raum
Urlaubs an der Unterschrifts-
leistung gehindert
Harms
Brause
Schaal
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