BGH,
Beschl. v. 12.2.2004 - 1 StR 566/03
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung ja
StPO § 250, § 255a
Der Augenschein durch Vorführen der zu Beweiszwecken
erstellten Bild-Ton-
Aufzeichnung über die Erklärung eines Zeugen ist im
Zusammenhang mit seiner
Vernehmung zulässig (Fortführung von BGHSt 48, 268).
BGH, Beschluß vom 12.02.2004 - 1 StR 566/03 - LG Stuttgart
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
1 StR 566/03
vom
12.02.2004
in der Strafsache
gegen
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wegen schweren sexuellen Mißbrauchs von Kindern u.a.
- 3 -
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 12.02.2004
gemäß
§ 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Stuttgart vom 12. August 2003
a) im Schuldspruch dahin geändert, daß in den
Fällen II. 1 und
2 der Urteilsgründe die Verurteilung wegen jeweils
tateinheitlich
begangenen sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen
entfällt,
b) im Strafausspruch dahin ergänzt, daß zum
Ausgleich für die
30 Arbeitsstunden, die der Angeklagte in teilweiser Erfüllung
der ihm durch das Amtsgericht Heilbronn am 6. Juli
2000 erteilten Bewährungsauflage geleistet hat, fünf
Tage
Freiheitsstrafe auf die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe
von vier Jahren angerechnet wird.
Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.
Der Angeklagte trägt die Kosten des Rechtsmittels und die der
Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen
Auslagen.
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Gründe:
Dem Angeklagten liegt zur Last, seine beiden minderjährigen
Stieftöchter
M. und A. ab 1995 in einer Vielzahl von Fällen
mißbraucht zu
haben. Das Landgericht hat ihn deshalb wegen sexuellen
Mißbrauchs von Kindern
in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch von Schutzbefohlenen in
vier Fällen,
wegen schweren sexuellen Mißbrauchs von Kindern in Tateinheit
mit sexuellem
Mißbrauch von Schutzbefohlenen in 13 Fällen unter
Einbeziehung einer
Verurteilung des Amtsgerichts Heilbronn vom 6. Juli 2000 zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe
von vier Jahren und wegen schweren sexuellen Mißbrauchs
von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch von
Schutzbefohlenen in 17
Fällen, wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in
Tateinheit mit sexuellem
Mißbrauch von Schutzbefohlenen in vier Fällen, wegen
sexuellen Mißbrauchs
von Schutzbefohlenen in 13 Fällen sowie wegen Beleidigung zu
einer weiteren
Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Gegen dieses
Urteil wendet
sich der Angeklagte mit Verfahrensrügen und der allgemein
erhobenen Sachrüge.
Das Rechtsmittel führt zu geringfügigen
Änderungen im Schuldspruch
und im Strafausspruch und hat im übrigen keinen Erfolg.
I.
1. Die Verfahrensrüge, das Landgericht habe es unter
Verstoß gegen
die Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO)
unterlassen, nach dem letzten Wort
des Angeklagten erneut in die Beweisaufnahme einzutreten, hat keinen
Erfolg.
Die Revision trägt selbst vor, der Angeklagte habe nur
erklärt, es sei über die
von ihm eingeräumten drei Fälle zu weiteren sexuellen
Handlungen mit der
Geschädigten M. gekommen. Einzelheiten hat er nicht
mitgeteilt. Wie der
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Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift zutreffend dargelegt hat,
wäre es dem
Angeklagten unbenommen gewesen, zu erklären, nunmehr
„reinen Tisch“ machen
zu wollen. Damit hätte er selbst den Wiedereintritt in die
Beweisaufnahme
herbeiführen können. Daß das Landgericht
dem Angeklagten verwehrt hätte,
ein weitergehendes Geständnis abzulegen, behauptet die
Revision nicht.
2. Die Verfahrensbeschwerde wegen Verletzung des
Unmittelbarkeitsgrundsatzes
nach § 250 StPO dringt ebenfalls nicht durch. Der
Rüge liegt folgender
Verfahrensablauf zugrunde:
a) Die Strafkammer hat am ersten Verhandlungstag die beiden
geschädigten
Mädchen M. und A. als Zeuginnen vernommen und sie im
Anschluß daran entlassen. Am zweiten Verhandlungstag hat sie
die Vorführung
der Bild-Ton-Aufzeichnung der ermittlungsrichterlichen Vernehmung der
Geschädigten
vom 3. April 2003 vor dem Amtsgericht Waiblingen beschlossen.
Zur Begründung hat die Kammer ausgeführt, die
Vorführung werde auf § 255a
Abs. 2 StPO gestützt, da die Zeuginnen unter 16 Jahre seien
und der Angeklagte
und sein Verteidiger der aufgezeichneten Vernehmung beigewohnt
hätten.
Der Umstand, daß die Geschädigten bereits in der
Hauptverhandlung vernommen
worden seien, hindere die Inaugenscheinnahme der Bild-Ton-
Aufzeichnung nicht. Die Angaben der Zeuginnen bei dieser Vernehmung
müßten zum Gegenstand der Beweisaufnahme gemacht
werden, um die Konstanz
der Aussagen zu überprüfen.
b) Die Verteidigung hat in der Hauptverhandlung der Vorführung
und der
Verwertung der Bild-Ton-Aufzeichnung widersprochen. Mit ihrer Revision
macht sie geltend, die Strafkammer habe mit der Vorführung der
Bild-Ton-
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Aufzeichnung nach der persönlichen Vernehmung der beiden
Zeuginnen nicht
nur gegen § 255a StPO, sondern auch gegen den
Unmittelbarkeitsgrundsatz
verstoßen. Die Zeuginnen hätten in ihrer Vernehmung
in der Hauptverhandlung
ausführlich ausgesagt. Durch die Vorführung der
gesamten Bild-Ton-
Aufzeichnung sei es zu einer kompletten Wiederholung der gesamten
Aussagen
zum Tatgeschehen gekommen. Hinsichtlich der sich ergebenden Differenzen
habe die Verteidigung aus Gründen des Opferschutzes auf ihr
Nachbefragungsrecht
verzichtet. Die Verteidigung hätte in einer
anschließenden Vernehmung
die Zeuginnen zu Differenzen zu der vorher in Augenschein genommenen
Bild-Ton-Aufzeichnung befragen können.
c) Die Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung der
ermittlungsrichterlichen
Vernehmung des Zeugen neben dessen persönlicher Vernehmung ist
zulässig; sie verstößt nicht gegen den
Unmittelbarkeitsgrundsatz (§ 250 StPO).
Zu einer ergänzenden Protokollverlesung im Wege des
Urkundenbeweises
hat der Bundesgerichtshof (BGHSt 20, 160, 161 f.; vgl. im
übrigen auch
RGSt 37, 317 f.; BGH NStZ 1995, 609; BGH, Beschluß vom 30.
Januar 2001 -
1 StR 454/00; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl.
§ 250 Rdn. 17 f.;
G. Schäfer, Die Praxis des Strafverfahrens 6. Aufl. Rdn. 1094)
ausgeführt:
„§ 250 StPO untersagt nämlich nur die Er s
e t z u n g der Zeugenaussage
durch die Verwertung einer berichtenden, zu Beweiszwecken erstellten
Urkunde,
mag es sich dabei nun um ein Protokoll oder um eine schriftliche
Erklärung
des Zeugen handeln. Daß n e b e n der Vernehmung der in
Betracht kommenden
Person als Zeuge eine frühere protokollarisch oder in einer
schriftlichen
Erklärung festgehaltene Äußerung dieser
Person im Wege des Urkun-
7 -
denbeweises verwertet wird, verbietet die Vorschrift nicht.
(…) Das Gesetz hat
insofern in § 253 StPO nur eine besondere Vorkehrung
für die Verwendung
von P r o t o k o l l e n getroffen, deren Verlesung zum Zweck des
Urkundenbeweises
es erst (als letzten Ausweg) zuläßt, nachdem
Vorhalte aus dem Protokoll
keine Übereinstimmung der gegenwärtigen Aussage mit
dem Inhalt des
Protokolls bewirkt und auch nicht dazu geführt haben,
daß der Zeuge bekundete,
bei der Aufnahme des Protokolls abweichend von seiner
gegenwärtigen
Aussage tatsächlich das im Protokoll Festgehaltene ausgesagt
zu haben. Indessen
kann hieraus nicht der Schluß gezogen werden, daß
das Gesetz die
Verwertung schriftlicher Erklärungen neben der Zeugenaussage
überhaupt
verbiete, … , noch kann daraus gefolgert werden,
daß § 253 StPO auf schriftliche
Erklärungen entsprechend anzuwenden, die Verlesung zum Zweck
des
Urkundenbeweises also erst nach vergeblichen Vorhalten
zulässig sei. Es ist
vielmehr von dem der Systematik des Gesetzes zu entnehmenden allgemeinen
Grundsatz auszugehen, daß das Gesetz den Urkundenbeweis
zuläßt, wo es
ihn nicht ausdrücklich untersagt.“
Diese Grundsätze gelten auch für die
ergänzende (nicht ersetzende) Inaugenscheinnahme
der Bild-Ton-Aufzeichnung der ermittlungsrichterlichen
Zeugenvernehmung. Das „Videoprotokoll“ ist insoweit
der Niederschrift einer
Zeugenvernehmung gleichzusetzen. In Fällen dieser Art kommt
auch § 255a
StPO als Rechtsgrundlage für die Vorführung nicht in
Betracht, weil diese Bestimmung
nur die vernehmungsersetzende Vorführung regelt (vgl. BGHSt 48,
268). Eine ergänzende Vorführung der
Bild-Ton-Aufzeichnung kann insbesondere
zur Prüfung der Aussagekonstanz in Betracht kommen (vgl. BGHSt
20,
160, 161 f.). Wegen des authentischen Beweiswerts der Bild-Ton-
Aufzeichnung ist eine Vernehmung des Ermittlungsrichters
regelmäßig nicht
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veranlaßt. Auch insoweit ist der Unmittelbarkeitsgrundsatz
nicht berührt. Denn
der Beweis zur Aussage des Zeugen beim Ermittlungsrichter beruht nicht
„auf
der Wahrnehmung einer Person“ (§ 250 StPO), sondern
auf der Bild-Ton-
Aufzeichnung als Augenscheinsobjekt.
d) Der Senat sieht für Fälle der vorliegenden Art
Anlaß zu folgendem
Hinweis: Der Tatrichter hat sich regelmäßig
zunächst die Frage vorzulegen, ob
die persönliche Vernehmung des Zeugen in der Hauptverhandlung
nach §
255a Abs. 2 StPO ersetzt werden kann. Dabei hat er die Zwecksetzung
dieser
Bestimmung zu bedenken, zum Schutz kindlicher Zeugen deren wiederholte
Vernehmung zu vermeiden. Macht er von der Vernehmungsersetzung Gebrauch,
so ist die durch Vorspielen der Bild-Ton-Aufzeichnung
eingeführte
Vernehmung so zu behandeln, als sei der Zeuge in der Hauptverhandlung
selbst gehört worden. Im Ausnahmefall kann danach die
ergänzende Vernehmung
des Zeugen in der Hauptverhandlung nach Maßgabe der
Aufklärungspflicht
oder auch des Beweisantragsrechts erforderlich werden (dazu BGHSt
48, 268).
Kommt der Tatrichter allerdings bei der Vorbereitung der Beweisaufnahme
zu dem Ergebnis, daß die persönliche
(originäre) Vernehmung des
Zeugen in der Hauptverhandlung unabweisbar geboten ist und nicht durch
das
Vorspielen der Aufzeichnung der früheren richterlichen
Vernehmung ersetzt
werden kann, so ist er von Rechts wegen nicht gehindert, dem Zeugen bei
der
Vernehmung die Bild-Ton-Aufzeichnung vorzuhalten oder sie im
Anschluß ergänzend
durch Vorspielen in Augenschein zu nehmen, etwa um die Frage der
Aussagekonstanz zu beurteilen.
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II.
Die Überprüfung des Urteils aufgrund der
Sachrüge hat bis auf die aus
dem Tenor ersichtlichen Änderungen im Schuld- und
Strafausspruch, die aus
den Gründen, die der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift
zutreffend dargelegt
hat und denen sich der Senat anschließt, erforderlich waren,
keinen den
Angeklagten belastenden Rechtsfehler ergeben.
Herr RiBGH Schluckebier
befindet sich in Urlaub und
ist deshalb an der
Unterschrift gehindert.
Nack Boetticher Nack
Hebenstreit Elf |