BGH,
Beschl. v. 13.7.2004 - 4 StR 120/04
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
4 StR 120/04
vom
13. Juli 2004
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Mißbrauchs eines Kindes
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Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des
Generalbundesanwalts
und des Beschwerdeführers am 13. Juli 2004
gemäß § 349 Abs. 4
StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des
Landgerichts Neubrandenburg vom 15. September 2003
mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte
verurteilt worden ist.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung,
auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine
andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten - unter Freisprechung im
übrigen -
wegen schweren sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in zwei
Fällen zu einer
(Gesamt-)Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt.
Gegen
dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der
er die
Verletzung materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat
Erfolg.
1. Nach den Feststellungen vollzog der Angeklagte im Sommer 2001 an
zwei Tagen im Schlafzimmer seiner geschiedenen Ehefrau mit seiner damals
12jährigen Stieftochter Peggy G. den Geschlechtsverkehr.
Soweit der Angeklagte
über die beiden festgestellten Taten hinaus angeklagt war,
auch mit
seiner 11jährigen Stieftochter Franziska G. in drei
Fällen den Geschlechtsverkehr
durchgeführt zu haben, hat das Landgericht den Angeklagten aus
tat-
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sächlichen Gründen freigesprochen, weil "ihm die
Begehung der ihm vorgeworfenen
Taten nicht mit einer für die Verurteilung ausreichenden
Sicherheit
nachgewiesen werden (konnte)" (UA 14). Nähere
Ausführungen hierzu enthält
das Urteil nicht.
2. Die Jugendkammer hält den Angeklagten aufgrund der Angaben
seiner
zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung 14jährigen Stieftochter
Peggy G. für
überführt, die abgeurteilten Taten begangen zu haben.
Die Beweiswürdigung
hält jedoch rechtlicher Nachprüfung nicht stand:
a) Das Landgericht stellt bei seiner Überzeugung,
daß die Schilderung
der abgeurteilten Tatgeschehen durch Peggy G. auf tatsächliche
sexuelle
Erlebnisse mit dem Angeklagten zurückgeht,
maßgeblich (UA 6, 8, 9) auf das
Glaubwürdigkeitsgutachten des Sachverständigen Dr. B.
ab, "der unter
dem Eindruck der Aussage der Zeugin in der Hauptverhandlung seine im
schriftlichen Gutachten abgegebene Beurteilung revidiert (habe)" (UA
9). Näheres
hierzu wird nicht mitgeteilt. Das ist rechtsfehlerhaft. Zwar bereitet
das
schriftliche Gutachten die Begutachtung durch den
Sachverständigen in der
Hauptverhandlung nur vor; widerspricht das mündlich erstattete
Gutachten
aber dem vorbereitenden Gutachten in entscheidenden Punkten - wovon hier
nach den Urteilsgründen auszugehen ist -, so muß
sich das Gericht mit diesen
Widersprüchen auseinandersetzen und nachvollziehbar darlegen,
warum es
das eine Ergebnis für zutreffend, das andere (im
vorbereitenden Gutachten) für
unzutreffend erachtet. Die Widersprüche müssen eine
Erklärung und Lösung
finden, die Zweifel an der Richtigkeit des angenommenen Ergebnisses
beseitigt
(BGH NStZ 1990, 244, 245; vgl. auch Schoreit in KK 5. Aufl. §
261
Rdn. 31). Daran fehlt es hier. Eine revisionsrechtliche
Überprüfung, ob das in
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der Hauptverhandlung erstattete Gutachten die Glaubwürdigkeit
der Zeugin
den wissenschaftlichen Anforderungen entsprechend (vgl. hierzu BGHSt 45,
164 ff.) beurteilt hat, ist daher nicht möglich.
b) Die Jugendkammer meint, die Glaubwürdigkeit der Peggy G.
werde
nicht dadurch in Frage gestellt, daß sie in einem anderen
Verfahren wegen
"sexuellen Mißbrauchs" ihrer Mutter gegenüber
zunächst den Angeklagten und
später "den Nachbarn Peter M. " als Täter benannt
habe. Zur Begründung
führt das Landgericht lediglich aus, daß "die in dem
damaligen Verfahren abgegebenen
Erklärungen - aus heutiger Sicht nach den Feststellungen in der
Hauptverhandlung des vorliegenden Verfahrens - schlüssig
(seien) und keinerlei
Rückschlüsse auf den Wahrheitsgehalt der für
das vorliegende Verfahren
maßgeblichen Aussagen (zuließen)" (UA 12). Diese
Begründung ist unzureichend;
denn sie ist nicht nachvollziehbar, und eine revisionsrechtliche
Überprüfung,
ob die Schlüsse des Landgerichts frei von Rechtsfehlern sind,
ist nicht
möglich. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund,
daß Peggy G. im Ermittlungsverfahren
bei der Polizei angegeben hat, sie habe sich die
Mißbrauchshandlungen
des Angeklagten “nur ausgedacht“ (UA 10).
c) Das Landgericht hat festgestellt, daß die Schwestern Peggy
und Franziska
miteinander über die beide betreffenden sexuellen
Übergriffe des Angeklagten
gesprochen haben, somit jede von dem Mißbrauch der anderen
Schwester wußte (UA 5). Das legt nahe, daß auch
Franziska G. als Zeugin
in der Hauptverhandlung gehört wurde. Dazu verhalten sich die
Urteilsgründe
ebensowenig wie dazu, was Peggy G. zu den ihr bekannten
Mißbrauchshandlungen
zum Nachteil der Franziska gesagt hat, warum der Angeklagte wegen
dieser Taten freigesprochen wurde und ob Peggy insoweit nicht geglaubt
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wurde. Auch das wäre vom Landgericht näher zu
erörtern gewesen (vgl.
BGHSt 44, 256, 257; BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung
1, 14).
Die Sache bedarf daher erneuter Verhandlung und Entscheidung.
3. Für die neue Hauptverhandlung empfiehlt es sich, einen
weiteren
Sachverständigen mit der aussagepsychologischen Begutachtung
der Peggy
G. zu beauftragen. Zu der vom Generalbundesanwalt in seiner
Antragsschrift
angesprochenen Frage der nachträglichen Gesamtstrafenbildung
mit der Strafe
aus dem Urteil des Amtsgerichts Demmin - Zweigstelle Malchin - vom 18.
September
2001 verweist der Senat auf Tröndle/Fischer, StGB 52. Aufl.
§ 55
Rdn. 6 und 20 sowie auf die in NStZ 1993, 235, 1997, 73 (bei Kusch) und
BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Erledigung 1, 2 abgedruckten
Entscheidungen
des Bundesgerichtshofs.
Maatz Kuckein Solin-Stojanovi
Ernemann Sost-Scheible |