BGH,
Beschl. v. 14.4.2010 - 1 StR 64/10
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
1 StR 64/10
vom
14. April 2010
BGHSt: ja
BGHR: ja
Nachschlagewerk: ja
Veröffentlichung: ja
_______________________
StPO § 302 Abs. 1 Satz 2
Ist dem Urteil eine Verständigung (§ 257c StPO)
vorausgegangen, so kann eine Zurücknahme des Rechtsmittels
grundsätzlich auch noch vor Ablauf der Frist zu seiner
Einlegung wirksam erfolgen.
BGH, Beschl. vom 14. April 2010 - 1 StR 64/10 - LG Hechingen
in der Strafsache
gegen
wegen schweren Bandendiebstahls u.a.
- 2 -
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 14. April 2010
beschlossen:
1. Es wird festgestellt, dass die am 18. November 2009 eingelegte
Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hechingen
vom 18. November 2009 wirksam zurückgenommen ist.
2. Die Revision der Angeklagten vom 25. November 2009 gegen das
vorbezeichnete Urteil wird auf ihre Kosten als unzulässig
(§ 349 Abs. 1 StPO) verworfen.
Gründe:
Das Landgericht hat die Angeklagte - neben zwei weiteren Angeklagten -
unter anderem wegen mehrfachen schweren Bandendiebstahls und wegen
banden- und gewerbsmäßig begangenen Computerbetrugs
zu der Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.
1
I. Die Angeklagte macht zu Unrecht geltend, die Zurücknahme
der vom Instanzverteidiger eingelegten Revision habe nicht wirksam
erfolgen können. Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen
zugrunde:
2
1. Dem am 18. November 2009 um 11.30 Uhr verkündeten Urteil
war eine förmliche Verständigung (§ 257c
StPO) vorausgegangen. Am selben Tag legte der bestellte
Instanzverteidiger um 17.17 Uhr per Fax Revision ein und rügte
zugleich allgemein die Verletzung materiellen Rechts. Etwa eine Stunde
später, um 18.11 Uhr, nahm der Instanzverteidiger
„namens und im Auftrag meiner Mandantin“ -
gleichfalls per Fax - die Revision zurück.
3
- 3 -
2. Am 20. November 2009 legitimierte sich ein anderer Verteidiger als
Wahlverteidiger. Mit an das Landgericht gerichteten Schriftsatz vom 25.
November 2009 legte er „auf ausdrücklichen Wunsch
der Angeklagten“ Revision ein.
4
Nachdem das Urteil dem Instanzverteidiger am 3. Dezember 2009
zugestellt worden war, begründete der neue Verteidiger mit Fax
vom 2. Januar 2010 die Revision und trug zu deren Zulässigkeit
vor:
5
„Die Angeklagte D. versicherte dem Unterzeichner, dass sie zu
keinem Zeitpunkt mit dem Urteil ohne Bewährungsausspruch
einverstanden gewesen ist. Sie hätte ihrem Pflichtverteidiger
ausdrücklich aufgetragen, Revision einzulegen. Der
Pflichtverteidiger habe schon anlässlich der Hauptverhandlung
gesagt, es sei ein ‚Deal‘ mit dem Gericht gemacht
worden. … Frau D. lässt durch den Unterzeichner
ausdrücklich vortragen, dass sie zu keinem Zeitpunkt mit einer
Rücknahme der Revision einverstanden gewesen sei. Die Handlung
ihres Pflichtverteidigers zur Rücknahme erfolgte so ohne ihr
Wissen und vor allem ohne ihre Zustimmung!“
6
3. Der Vorsitzende der Strafkammer übersandte daraufhin diesen
Schriftsatz dem Instanzverteidiger und bat ihn um eine Stellungnahme zu
den Behauptungen der Angeklagten. Der Instanzverteidiger teilte dem
Vorsitzenden am 12. Januar 2010 mit,
7
„dass ich selbstverständlich Frau D. über
das Ergebnis der am 18.11.2009 geführten Gespräche
zwischen der Kammer, des Herrn Staatsanwalt und den Verteidigern
informiert habe. Unabhängig davon, dass Sie auch in der
Hauptverhandlung die Angeklagten über das Ergebnis dieser
Gespräche informierten, war es Frau D. natürlich
bewusst, dass die in Aussicht gestellte Strafe von zwei Jahren nicht
zur Bewährung ausgesetzt wird. Darüber hinaus hatte
ich mit ihr die Möglichkeit einer vorzeitig bedingten
Entlassung gem. § 57 II Nr. 1 StGB erörtert.
8
- 4 -
Frau D. habe ich auch, insbesondere um ihr einen raschen
Übergang von der Untersuchungshaft in die Strafhaft zu
ermöglichen, über die Möglichkeit einer
gegenseitigen Revisionseinlegung und Rücknahme durch
Verteidigung und Staatsanwaltschaft informiert. Auch hiermit war Frau
D. einverstanden. Warum sich Frau D. nun eines anderen besonnen hat,
ist mir bis heute unerklärlich. Bei meinem letzten Besuch in
der JVA Ravensburg lehnte sie es ab, mit mir zu sprechen, was mir in
meiner mittlerweile über 10jährigen
Tätigkeit als Strafverteidiger noch nie widerfahren
ist.“
9
4. Der Vorsitzende der Strafkammer gab zu dem Revisionsvorbringen des
neuen Verteidigers eine dienstliche Äußerung ab:
10
„In der Sitzung vom 18. November 2009 wurde auf meinen - in
Absprache mit der Kammer getroffenen - Vorschlag die Hauptverhandlung
unterbrochen, um die Chancen einer verfahrensbeendenden
Verständigung zu erörtern. Die Erörterung
fand statt in Anwesenheit der Kammermitglieder, des Vertreters der
Staatsanwaltschaft und der drei Verteidiger. Das Ergebnis der
Erörterung war eine Absprache, wie sie im
Hauptverhandlungsprotokoll festgehalten wurde.
11
Gegenstand beziehungsweise Inhalt der Absprache war nicht die Frage
eines Rechtsmittelverzichts. Vielmehr erklärte der Verteidiger
der Angeklagten D., Rechtsanwalt W., von sich aus, nachdem die
Absprache bereits getroffen war, dass er ja Revision einlegen und diese
wieder zurücknehmen könne. Ich erklärte ihm
hierauf, dass es seine Sache sei, ob er dies mache; jedenfalls
Gegenstand der Absprache sei es nicht.“
12
5. Auf das Schreiben des Instanzverteidigers und die dienstliche
Äußerung des Vorsitzenden reagierte der neue
Verteidiger nicht.
13
II. Die am 18. November 2009 eingelegte Revision hat der
Instanzverteidiger wirksam zurückgenommen. Die am 25. November
2009 eingelegte Revision ist damit unzulässig (vgl. BGH
NStZ-RR 2010, 55).
14
1. Der Senat glaubt der - unwidersprochen gebliebenen -
Erklärung des Instanzverteidigers. Er wurde zur
Zurücknahme des Rechtsmittels von der An-
15
- 5 -
geklagten ausdrücklich ermächtigt (§ 302
Abs. 2 StPO). Die Rücknahme der Revision ist auch sonst
wirksam.
2. Hieran ändert auch der Umstand nichts, dass dem Urteil eine
Verständigung (§ 257c StPO) vorausgegangen ist.
16
Zwar ist nach § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO ein Verzicht auf die
Einlegung eines Rechtsmittels ausgeschlossen, wenn dem Urteil eine
Verständigung vorausgegangen ist. Die - in Satz 1
ausdrücklich genannte - Rechtsmittelrücknahme
hingegen ist schon nach dem Wortlaut dieser Bestimmung nicht
ausgeschlossen. In der hier vorliegenden Fallgestaltung liegt keine
Umgehung des Verbots des Rechtsmittelverzichts nach vorausgegangener
Verständigung, sodass die Zurücknahme des
Rechtsmittels auch noch vor Ablauf der Frist zu seiner Einlegung
wirksam erfolgen konnte.
17
Der Instanzverteidiger hatte im Anschluss an das Urteil
zunächst Revision eingelegt und damit die Möglichkeit
einer revisionsgerichtlichen Überprüfung des Urteils
durch die Angeklagte offen gehalten. Das ist für einen
Angeklagten eine andere Entscheidungssituation als beim
Rechtsmittelverzicht nach vorausgegangener Verständigung.
Dieser erfolgt durch eine einzige, womöglich nicht hinreichend
überlegte Erklärung und mag deshalb vorschnell
ausgesprochen werden. Demgegenüber bedarf die spätere
Rechtsmittelrücknahme einer weiteren Erklärung, durch
welche die zuvor getroffene Entscheidung revidiert wird, Rechtsmittel
einzulegen. Dadurch wird eine vorschnelle Festlegung des Angeklagten,
kein Rechtsmittel einzulegen, vermieden.
18
Dies ermöglicht einem Angeklagten, seine Entscheidung
(nochmals) zu überdenken, denn sein Verteidiger wird ihn
regelmäßig auch vor dieser (zwei-
19
- 6 -
ten) Entscheidung beraten. Wird zudem - wie hier - das Rechtsmittel
durch einen (bestellten) Verteidiger zurückgenommen, so muss
dieser dazu zuvor ausdrücklich ermächtigt sein
(§ 302 Abs. 2 StPO).
Stimmt der Angeklagte - wie hier - einer solchen nach Beratung
ergangenen Empfehlung durch den Verteidiger bereits vor
Verkündung des Urteils zu, ist das jedenfalls dann
unschädlich, wenn das Urteil der bekannt gegebenen Strafe
entspricht und die für diesen Fall gegebene Empfehlung des
Verteidigers auftragsgemäß umgesetzt wird. Denn auch
dann hat es der Angeklagte noch immer in der Hand, autonom
über die Durchführung des Rechtsmittels zu
entscheiden und den Verteidiger zu veranlassen, von der
Zurücknahme des Rechtsmittels (durch bloßes
Nichtstun) abzusehen.
20
Die hier eingeschlagene Vorgehensweise war ausweislich der glaubhaften
Äußerung des Instanzverteidigers mit der Angeklagten
vorab besprochen worden. Für seine - den Interessen der
Angeklagten Rechnung tragende - Empfehlung hat der Verteidiger auch
einleuchtende Gründe genannt: So war die Staatsanwaltschaft
ersichtlich bereit, das Urteil ebenfalls zu akzeptieren. Wenn es dann
bei der Strafe von zwei Jahren verblieb, war die Möglichkeit
einer Halbstrafenentlassung eröffnet. Würde man einem
Angeklagten unter diesen Umständen verbieten, sein
Rechtsmittel - auch noch innerhalb der Revisionseinlegungsfrist -
zurückzunehmen (mit dem Risiko, dass die Staatsanwaltschaft
ebenfalls Rechtsmittel mit dem Ziel einer höheren Strafe
einlegt), so wäre dies mit der Rolle des Angeklagten als
Subjekt des Strafverfahrens nicht vereinbar. Denn die Subjektstellung
des Angeklagten erfordert, dass er Einfluss auf das Verfahren und auch
auf sein Ergebnis nehmen können muss (vgl. nur BVerfG NJW
2004, 2443; NStZ 2007, 274).
21
- 7 -
3. Der Senat geht aufgrund der dienstlichen Äußerung
des Vorsitzenden ferner davon aus, dass das Gericht auf die
Revisionseinlegung und die anschließende
Rechtsmittelrücknahme in keiner Weise hingewirkt hat und dass
dieses Vorgehen auch nicht Inhalt der Verständigung war.
Dieses Prozessverhalten war vielmehr die autonome Entscheidung der von
ihrem Verteidiger sachgerecht beratenen Angeklagten.
22
Anders wäre der Fall wohl zu beurteilen, wenn ein Gericht im
Zusammenhang mit Verständigungsgesprächen auf den
Angeklagten einwirkt, Rechtsmittel allein deshalb einzulegen, um sodann
durch Zurücknahme des Rechtsmittels die Rechtskraft
herbeizuführen oder wenn eine solche Vorgehensweise gar Inhalt
einer Verständigung wäre. Dann läge eine
Umgehung des § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO nahe mit der Folge der
Unwirksamkeit einer solchen Rechtsmittelrücknahme.
23
Nack Rothfuß Hebenstreit
Elf Graf |