BGH,
Beschl. v. 15.4.2003 - 1 StR 64/03
1 StR 64/03
StPO § 255a Abs. 2
Die vernehmungsersetzende Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung
einer früheren richterlichen Vernehmung in der
Hauptverhandlung nach § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO erfordert
nicht, daß der Verteidiger vor seiner Mitwirkung an jener
früheren Vernehmung teilweise oder vollständige
Akteneinsicht nehmen konnte.
Die Notwendigkeit zu einer ergänzenden Vernehmung in der
Hauptverhandlung kann sich nach Maßgabe der richterlichen
Aufklärungspflicht ergeben (§ 255a Abs. 2 Satz 2,
§ 244 Abs. 2 StPO). Die Beurteilung insoweit ist stets eine
Frage des Einzelfalles.
Ein Antrag auf ergänzende Vernehmung in der Hauptverhandlung
ist nach den Grundsätzen des Beweisantragsrechts zu behandeln,
wenn der Zeuge zum Beweis einer neuen Behauptung benannt ist, zu der er
bei der aufgezeichneten und vorgeführten Vernehmung noch nicht
gehört werden konnte.
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom
15. April 2003
in der Strafsache gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat am 15. April 2003
gemäß § 349 Abs. 2 StPO beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
München I vom 30. August 2002 wird als unbegründet
verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die
der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen
notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung und zweier
versuchter Vergewaltigungen, begangen jeweils in Tateinheit mit
sexuellem Mißbrauch von Kindern, sowie wegen sexuellen
Mißbrauchs von Kindern in zwei weiteren Fällen unter
Einbeziehung anderweitig verhängter Einzelstrafen zur
Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten
verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten erhebt
Verfahrensrügen und die Sachbeschwerde. Das Rechtsmittel hat
keinen Erfolg.
I. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen
mißbrauchte der Angeklagte die am 18. März 1987
geborene Ni. J. in der Zeit vom Winter 1994 bis zum Jahr 1996 in
fünf Fällen. Die Geschädigte ist die Tochter
eines Arbeitskollegen des Angeklagten, der diesem
vorübergehend Unterkunft gewährt hatte. In dreien der
Fälle versuchte der Angeklagte, mit seinem Glied in die
Scheide des sich wehrenden Kindes einzudringen, was ihm indes nur in
einem Falle teilweise gelang.
II. Die Verfahrensrügen greifen nicht durch.
1. Die Revision macht als absoluten Revisionsgrund eine Verletzung des
Öffentlichkeitsgrundsatzes geltend (§ 338 Nr. 6 StPO,
§ 169 GVG). Sie beanstandet, daß während
des Ausschlusses der Öffentlichkeit (gemäß
§ 171b GVG) nicht nur der Polizeibeamte S. als Zeuge vernommen
und eine Bild-Ton-Aufzeichnung der polizeilichen Vernehmung der
Geschädigten vom 11. Oktober 2001 mit dem Zeugen in
Augenschein genommen wurde, sondern auch über die Vereidigung
und Entlassung des Zeugen S. befunden, die Hauptverhandlung sodann
unterbrochen und Termin zu ihrer Fortsetzung bestimmt worden ist.
Die Rüge ist unbegründet. Beschränkt sich
der Ausschluß der Öffentlichkeit auf einen
bestimmten Verfahrensabschnitt, wie hier die Dauer der (weiteren)
Vernehmung eines Zeugen unter Einschluß einer
Augenscheinseinnahme, so umfaßt er alle
Verfahrensvorgänge, die mit der Vernehmung in enger Verbindung
stehen oder sich aus ihr entwickeln und die daher zu diesem
Verfahrensabschnitt gehören. Dazu zählt nach
bisheriger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes auch die Entscheidung
über die Vereidigung des Zeugen, die noch während des
Ausschlusses der Öffentlichkeit vorgenommen werden kann (vgl.
nur BGH NJW 1996, 2663). Nichts anderes kann aber für die
Entlassung des Zeugen gelten.
Soweit die Anordnung der Unterbrechung der Hauptverhandlung im
Anschluß an die Zeugenvernehmung in Rede steht und die
Öffentlichkeit währenddessen nicht wiederhergestellt
war, ist denkgesetzlich auszuschließen, daß das
Urteil hierauf beruhen kann (vgl. Meyer-Goßner StPO 46. Aufl.
§ 338 Rdn. 50b; siehe auch BGH NJW 1996, 138). Die Bestimmung
des Termins zur Fortsetzung der Hauptverhandlung erfolgt zwar
grundsätzlich in öffentlicher Hauptverhandlung. Sie
unterfällt indessen nicht dem Schutz des
Öffentlichkeitsgrundsatzes. Das ergibt sich schon daraus,
daß der Fortsetzungstermin auch außerhalb der
Hauptverhandlung verlegt werden kann und auch in jenem Falle der Schutz
des Vertrauens in die Terminsankündigung am letzten
voraufgegangenen Hauptverhandlungstag vom
Öffentlichkeitsgrundsatz nicht erfaßt wird (BGH NStZ
1984, 134, 135). Handlungen, die auch außerhalb der
Hauptverhandlung vorgenommen werden dürfen oder jedenfalls
außerhalb der Hauptverhandlung in Abänderung von
Anordnungen in der Hauptverhandlung ergehen dürfen,
können auch im Rahmen der Hauptverhandlung während
des Ausschlusses der Öffentlichkeit erledigt werden, ohne
daß darin ein Verstoß gegen den Grundsatz der
Öffentlichkeit liegt (vgl. BGH NStZ 2002, 106, 107).
2. Die Ablehnung des Beweisantrages, der auf die Vernehmung der Sa. J.
als Zeugin gerichtet war, gefährdet den Bestand des Urteils
nicht.
Die Verteidigung erstrebte die Vernehmung dieser Zeugin, einer Cousine
der Geschädigten, zum Nachweis dessen, daß ein von
der Geschädigten behauptetes Gespräch über
sexuelle Vorfälle mit ihr nicht stattgefunden habe, und
daß die Geschädigte zu keinem Zeitpunkt - wie von
ihr behauptet - während des Vollzugs des Geschlechtsverkehrs
zwischen der benannten Zeugin und dem Angeklagten in das entsprechende
Zimmer gekommen sei. Ziel dieses Antrages war es ersichtlich, generell
die Glaubhaftigkeit der Angaben der Geschädigten zu
erschüttern.
Der Revision ist einzuräumen, daß die Ablehnung des
Antrages durch die Strafkammer mit der Begründung, es handele
sich um Negativtatsachen, die nicht hinreichend bestimmt seien, hier
nicht ohne weiteres tragfähig ist.
a) Der erste Teil der Beweisbehauptung - Nichtstattfinden eines
Gesprächs der benannten Zeugin mit der Geschädigten -
betraf freilich eine negative Beweistatsache, nicht jedoch nur ein
Beweisziel, wie die Strafkammer zu meinen scheint (vgl. BGHSt 39, 251,
253 ff.). Da die Geschädigte eine Interaktion (hier ein
Gespräch) mit Sa. J. geschildert hatte, hätte die
benannte Zeugin aufgrund eigener Wahrnehmung bekunden können,
ob ein solches Gespräch stattgefunden hat (vgl. BGH NStZ 2000,
267). Es lag also gerade keiner der Fälle vor, in denen aus
der unmittelbaren Wahrnehmung der Beweisperson erst darauf geschlossen
werden soll, daß ein weiteres Geschehen nicht stattgefunden
habe. Die Beweisbehauptung konnte deshalb insoweit tauglicher
Gegenstand des Zeugenbeweises sein (vgl. BGHSt 39, 251, 253 ff.).
Die Strafkammer hat jedoch die Ablehnung ersichtlich auch auf die
Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache gestützt. Sie hat
ausgeführt, daß - sinngerecht verstanden - die
Beweisbehauptung insoweit nicht geeignet sei, die
Glaubwürdigkeit der Geschädigten in Zweifel zu ziehen
und dies kurz begründet. Der Ablehnungsbeschluß ist
grundsätzlich auslegungsfähig (vgl. BGHSt 1, 29, 32;
Meyer-Goßner aaO § 24 Rdn. 4). Die Formulierung
dieses Ablehnungsgrundes läßt noch hinreichend
erkennen, daß die Strafkammer damit verdeutlichen wollte, sie
werde den vom Beweisantragsteller gewünschten Schluß
nicht ziehen. Damit hat sie den Antrag der Sache nach wegen
tatsächlicher Bedeutungslosigkeit der Beweisbehauptung
abgelehnt. Das war auch für den Antragsteller erkennbar, der
sich mithin darauf einstellen konnte.
b) Hinsichtlich des zweiten Behauptungsteils (die Geschädigte
sei entgegen ihrer Aussage zu keinem Zeitpunkt ins Zimmer gekommen,
während die benannte Zeugin mit dem Angeklagten den
Geschlechtsverkehr ausgeübt habe) ist die
Verfahrensrüge nicht in zulässiger Form erhoben
(§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Die Revision teilt die
polizeiliche Vernehmungsniederschrift zu den angeblich unzutreffenden
Angaben der Geschädigten in dem hier entscheidenden Teil nicht
vollständig mit. Die Geschädigte hatte in der in
Bezug genommenen polizeilichen Vernehmung - was die Revision nicht
vorträgt - auch ausgesagt, sie habe "nur ganz schnell
reingeschaut" und dann "die Tür zugemacht"; es habe
"gewackelt", der Angeklagte habe "gestöhnt" (vgl. Bd. I Bl. 85
d.A.). Damit hat sie gerade nicht bekundet, was der
unvollständige Revisionsvortrag nahelegen könnte,
daß die benannte Zeugin ihre kurze Anwesenheit bemerkt
hätte.
Ob mit dem zweiten Teil der Beweisbehauptung eine dem unmittelbaren
Zeugenbeweis zugängliche Tatsache unter Beweis gestellt oder
nur ein Beweisziel bezeichnet wurde, hängt nach allem davon
ab, ob die benannte Zeugin insoweit lückenlose eigene
Wahrnehmungen gemacht haben konnte, was sich hier nicht von selbst
verstand. Dies ist von den näheren Umständen,
namentlich den Wahrnehmungsmöglichkeiten abhängig,
wie sie sich aus der polizeilichen Aussage der Geschädigten in
dem hier maßgeblichen Teil - die der Beweisantragsteller
widerlegen wollte - erhellen. Die Strafkammer hat ihre Ablehnung auf
die Erwägung gestützt, es seien keine konkreten
Anhaltspunkte dafür dargetan, daß die Zeugin die
kurze Anwesenheit der Geschädigten "in jedem Fall bemerkt
hätte". Gerade deshalb war aber für einen
vollständigen Vortrag der "den Mangel enthaltenden Tatsachen"
die Mitteilung der Angaben der Geschädigten und auch der
benannten Zeugin vor der Polizei erforderlich. Wäre das
geschehen, hätte sich zudem ergeben, daß die
Ablehnungsbegründung insoweit rechtlich sogar zutreffend war,
insbesondere die Anforderungen des Landgerichts an die Beweisbehauptung
der gegebenen Erkenntnislage entsprochen haben. Denn die von der
Revision nicht mitgeteilten Bekundungen der Geschädigten bei
der Polizei enthalten konkrete Hinweise darauf, daß die
benannte Zeugin ein kurzes Hineinsehen der Geschädigten in das
Zimmer gerade nicht wahrgenommen hatte. Es lag auch nicht nahe,
daß demgegenüber die benannte Zeugin, dazu in der
Hauptverhandlung befragt, plausibel hätte bekunden
können, daß ihr ein solcher Vorgang nicht entgangen
wäre.
Die Kammer hat mit ihrer Ablehnungsbegründung zum Ausdruck
gebracht, daß sie die aufgestellte negative Behauptung nach
dem Wortlaut des Antrages und auf der Grundlage ihrer bisherigen
Erkenntnis - nach den Grundsätzen von BGHSt 39, 251, 253 ff. -
als Formulierung lediglich eines Beweiszieles gewertet hat. Die Angaben
der Geschädigten und der benannten Zeugin vor der Polizei
waren gerade im Blick darauf unerläßliche
Voraussetzung für die revisionsgerichtliche
Überprüfung des Ablehnungsbeschlusses.
Soweit in der Begründung des Beweisantrages zu dessen zweitem
Teil erwähnt wird, die Geschädigte habe sich zu den
entsprechenden Zeitpunkten (zu denen Sa. J. mit dem Angeklagten
Geschlechtsverkehr hatte) nicht in der Wohnung aufgehalten, war auch
dies - ohne weitere Behauptung unmittelbarer Wahrnehmungen der
benannten Zeugin hierzu - beweisantragsrechtlich kein tauglicher
Gegenstand des Zeugenbeweises, sondern nur die Angabe eines
Beweiszieles (vgl. BGHSt 39, 251, 253 ff.).
3. Die Ablehnung des Antrages auf ergänzende Vernehmung der
Geschädigten in der Hauptverhandlung ist von Rechts wegen
nicht zu beanstanden.
a) Folgendes Verfahrensgeschehen liegt zugrunde: Die Strafkammer hat
die Bild-Ton-Aufzeichnung der Vernehmung der Geschädigten
durch die Ermittlungsrichterin in der Hauptverhandlung
vorgeführt und dadurch die Vernehmung der Zeugin "ersetzt"
(gemäß § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO; vgl. UA
S. 12). Nach der Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung hat der
Verteidiger des Angeklagten die ergänzende Vernehmung der
Geschädigten beantragt: Er habe zwar mit dem Angeklagten an
der Vernehmung der Geschädigten (audiovisuell) teilgenommen.
Ihm hätten jedoch die Ermittlungsakten zuvor nicht zur
Einsicht vorgelegen, so daß er keine genaue Kenntnis von der
vorangegangenen kriminalpolizeilichen Vernehmung der
Geschädigten gehabt habe. Er habe deshalb keine Gelegenheit
zur Konfrontation der Geschädigten "mit dem restlichen
Akteninhalt" und mit einem Widerspruch zu deren polizeilicher
Vernehmung vom 11. Oktober 2001 gehabt. Deshalb wolle die Verteidigung
der Geschädigten nun vorhalten, daß sie vor der
Polizei den Analverkehr verneint habe, während sie vor der
Ermittlungsrichterin "von einem versuchten Eindringen" in den Po
berichtet habe. Der Geschädigten solle die ergänzende
Frage gestellt werden, ob "der F. (der Angeklagte) nur bei ihr unten
rein wollte, oder auch in den Po", und was sie zu dem Widerspruch
zwischen den Aussagen sage.
Darüber hinaus müsse der Geschädigten
vorgehalten werden, daß die Großmutter ausgesagt
habe, die Schlafzimmertür habe immer offen gestanden und sie
habe den von der Geschädigten geschilderten "dritten Vorfall"
bemerken müssen. Der Geschädigten, die in ihrer
richterlichen Vernehmung angegeben habe, die Schlafzimmertür
sei (während eines der Vorfälle) geschlossen gewesen,
solle deshalb die Frage gestellt werden, was sie zur Aussage der
Großmutter sage.
Das Landgericht hat den Antrag auf ergänzende Vernehmung
abgelehnt. Hinsichtlich der Frage eines versuchten Analverkehrs bestehe
der behauptete Widerspruch nicht. Die Geschädigte sei in der
polizeilichen Vernehmung nicht ausdrücklich danach gefragt
worden; eine detaillierte Befragung dazu sei erst in der richterlichen
Vernehmung erfolgt. Aus der Aussage der Großmutter ergebe
sich ebenfalls kein aufzuklärender Widerspruch zu der Aussage
der Geschädigten. Die Großmutter habe bekundet, "sie
lasse grundsätzlich ihre Schlafzimmertüre offen"; sie
habe keine Angaben dazu machen können, ob die Tür,
wie von der Geschädigten behauptet, in der Tatnacht offen
gestanden habe.
b) Die Revision meint, die Ablehnung sei schon deshalb
rechtsfehlerhaft, weil Verteidiger und Angeklagter mangels vorheriger
Akteneinsicht bei ihrer Teilnahme an der aufgezeichneten richterlichen
Vernehmung im Ermittlungsverfahren der Geschädigten keine
Vorhalte aus ihrer polizeilichen Vernehmung hätten machen
können; zu einer sachgerechten Mitwirkung seien sie deshalb
bei jener Vernehmung nicht in der Lage gewesen.
Mit diesem grundsätzlichen Einwand dringt die Revision nicht
durch. Bei der rechtlichen Beurteilung ist zwischen der
Zulässigkeit der vernehmungsersetzenden Vorführung
der Bild-Ton-Aufzeichnung nach § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO und
der Pflicht zur ergänzenden Vernehmung des Zeugen aus
§ 244 Abs. 2 und 3 StPO (i.V.m. § 255a Abs. 2 Satz 2
StPO) zu unterscheiden.
aa) Nach § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO kann die Vernehmung eines
Zeugen in der Hauptverhandlung durch die Vorführung einer
Bild-Ton-Aufzeichnung seiner früheren richterlichen Vernehmung
ersetzt werden, wenn der Angeklagte und sein Verteidiger Gelegenheit
hatten, an ihr mitzuwirken. Die Zulässigkeit der
Vorführung ist nach dem Gesetz nicht von einer vorherigen -
ganz oder teilweise gewährten - Akteneinsicht
abhängig. Diese ist anderweit näher geregelt und
unterliegt besonderen Voraussetzungen und gegebenenfalls auch
Einschränkungen (vgl. § 147 StPO). Allerdings wird es
sich aus verfahrenspraktischen Erwägungen zumeist als sinnvoll
erweisen, dem Verteidiger vor seiner Mitwirkung an der aufzuzeichnenden
Vernehmung möglichst weitgehend Akteneinsicht zu
gewähren.
Mit der in Rede stehenden Regelung werden Zwecke des Zeugen- und
Opferschutzes verfolgt (Vermeidung einer sog. sekundären
Viktimisierung; siehe auch § 58a StPO). Zugleich soll der
Garantie des Fragerechts des Beschuldigten gegenüber dem
Belastungszeugen Rechnung getragen werden (Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK;
vgl. BGHSt 46, 93 m.w.N. aus der Rspr. des EGMR). Das Gesetz
(§ 255a Abs. 2 Satz 1 StPO) verlangt für die
vernehmungsersetzende Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung
indessen nicht, daß der Verteidiger vor seiner Mitwirkung an
der aufgezeichneten Vernehmung Akteneinsicht nehmen oder die
Niederschrift einer vorangegangenen polizeilichen Vernehmung des Zeugen
einsehen konnte (vgl. Weigend, Gutachten C DJT 1998, S. 63, 64; siehe
auch Bittmann DRiZ 2001, 112, 120; kritisch: Beulke ZStW Bd. 113
<2001> S. 709, 713 f.; Schünemann StV 1998, 391,
400; Schlothauer StV 1999, 47, 49). Für die
"Vernehmungsersetzung" ist die "Gelegenheit zur Mitwirkung"
ausreichend. Dazu wird der Verteidiger allerdings
regelmäßig - falls möglich - auch die
Gelegenheit haben müssen, sich vor der Vernehmung mit dem
Beschuldigten zu besprechen (vgl. BGHSt 46, 93). Das Fragerecht (Art. 6
Abs. 3 Buchst. d MRK) selbst ist durch das etwaige Unterbleiben einer
vorherigen Akteneinsicht nicht verletzt; es wird durch die Gelegenheit
zur Teilnahme an der aufgezeichneten Vernehmung und zur Befragung der
Beweisperson gewahrt. In seinen Gewährleistungsbereich
fällt nicht, daß es auf der Grundlage der Kenntnis
des aktuellen Standes der Ermittlungen ausgeübt wird. Ein
dahingehendes Verständnis würde die Regelung des
Akteneinsichtsrechts mit ihrer den Untersuchungszweck sichernden
Versagungsmöglichkeit und das Beweissicherungsinteresse,
mithin das allgemeine Aufklärungs- und
Wahrheitsfindungsinteresse nicht hinreichend berücksichtigen.
Es fände auch in der Gesetzgebungsgeschichte zu §
255a StPO keine Stütze. Daß es bei der
Vernehmungsersetzung nach § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO deshalb zu
einer Einschränkung der "Konfrontationsmöglichkeiten"
der Verteidigung kommen kann, ist wegen des zeugen- und
opferschützenden Anliegens der Regelung hinzunehmen (vgl.
BGHSt 46, 93, 96).
Das alles ändert freilich nichts daran, daß es je
nach Lage des Einzelfalles sowohl unter dem Gesichtspunkt der
prozessualen Fürsorge als auch dem der sachgerechten
Förderung des Verfahrens mit Blick auf eine etwaige
spätere Hauptverhandlung meist sinnvoll sein wird, dem
Verteidiger zuvor die Niederschrift einer vorangegangenen Vernehmung
derselben Aussageperson und auch die sonst bis dahin angefallenen
Ermittlungsergebnisse offenzulegen, um so seine Möglichkeiten
zu verbessern, verteidigungsgerechte Fragen zu stellen und Vorhalte
anzubringen. Ist die Gewährung von Akteneinsicht im Blick auf
eine Gefährdung des Untersuchungszwecks nicht angezeigt (vgl.
§ 147 Abs. 2 StPO) oder sonst aus praktischen Gründen
etwa allenfalls begrenzt möglich, beispielsweise weil der
schnellen Beweissicherung Vorrang eingeräumt wird, so steht
auch dies der Ersetzung der Vernehmung in der Hauptverhandlung durch
das Vorführen der Aufzeichnung grundsätzlich nicht
entgegen.
bb) Der Aufklärungspflicht des erkennenden Richters in der
Hauptverhandlung kommt bei einer Vernehmungsersetzung allerdings
erhöhte Bedeutung zu. Eine ergänzende Vernehmung in
der Hauptverhandlung wird sich oft aufdrängen, wenn nach der
aufgezeichneten Vernehmung weitere Beweisergebnisse angefallen sind,
die mit den Angaben des Zeugen in wesentlichen Punkten nicht im
Einklang stehen oder sonst klärungsbedürftige weitere
Fragen aufwerfen (§ 255a Abs. 2 Satz 2, § 244 Abs. 2
StPO; vgl. Diemer NJW 1999, 1667, 1675; Schlüchter/Greff,
Kriminalistik 1998, 530, 534). In praktischer Hinsicht wird - unter dem
Zeugenschutzaspekt der Regelung - die Wahrscheinlichkeit des
Erfordernisses einer ergänzenden Vernehmung steigen, wenn der
Verteidiger vor der aufgezeichneten Vernehmung keine Akteneinsicht
hatte. Denn er kann dazu beitragen, schon zu einem frühen
Zeitpunkt auch den aus seiner Sicht
klärungsbedürftigen Fragen nachzugehen, die sich in
ihrer Bedeutung sonst möglicherweise erst in der
Hauptverhandlung erhellen. Unterbleiben bei der aufgezeichneten
Vernehmung Vorhalte und Fragen, die sich später für
den Tatrichter als aufklärungspflichtig erweisen, wird die
ergänzende Vernehmung oft zwingend sein. Sie kann dann
möglicherweise auch in der Hauptverhandlung als audiovisuelle
Vernehmung geführt werden (§ 247a StPO).
cc) Für die Bescheidung eines Antrags auf ergänzende
Vernehmung des Zeugen in der Hauptverhandlung ist in der Regel
jedenfalls dann, wenn Angeklagter und Verteidiger bei der
gemäß § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO
durchgeführten ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung
mitgewirkt haben - nur diese Fallgestaltung ist hier zu entscheiden -
nicht § 244 Abs. 3 StPO, sondern § 244 Abs. 2 StPO
heranzuziehen. Da die Vorführung der aufgezeichneten
Vernehmung (§ 255a Abs. 2 Satz 1 StPO) in der Hauptverhandlung
die Vernehmung des Zeugen "ersetzt", ist diese Vernehmung
grundsätzlich so zu behandeln, als sei der Zeuge in der
Hauptverhandlung selbst gehört worden. Für die
Stellung eines Beweisantrages auf ergänzende (nochmalige)
Vernehmung gelten deshalb dieselben Maßstäbe wie bei
einem Antrag auf wiederholte Vernehmung eines in der Hauptverhandlung
bereits vernommenen Zeugen (BGH StV 1995, 566; zustimmend
Rieß StraFo 1999, 1, 5; Schlothauer StV 1999, 47, 49;
Boetticher in Sonderheft für Gerhard Schäfer 2002, 8,
15 f.).
dd) Dies hat zur Folge, daß grundsätzlich mit der
Revision nicht beanstandet werden kann, dem Zeugen seien bestimmte
Fragen nicht gestellt worden. Denn das liefe auf die Behauptung hinaus,
ein Beweismittel sei nicht ausgeschöpft worden. Dem geht das
Revisionsgericht grundsätzlich nicht nach, weil das einer
teilweisen inhaltlichen Rekonstruktion der tatrichterlichen
Beweisaufnahme gleichkäme, die dem System des
Revisionsverfahrens nicht entspräche. Das gilt auch
für die aufgezeichnete Vernehmung: Es widerstritte der
Aufgabenverteilung zwischen Tatgericht und Revisionsgericht,
wäre das Revisionsgericht in solchen Fällen gehalten,
sich die Aufzeichnung selbst anzusehen und etwa daraufhin zu bewerten,
ob die Beweisperson dies oder jenes so oder anders gesagt,
ausgedrückt oder gemeint hat, und ob die vorangegangene Frage
in diese oder jene Richtung ging. Es liegt auf der Hand, daß
damit oft auch tatsächliche Wertungen zur
Beweiswürdigung verlangt wären, die vorzunehmen nicht
Aufgabe des Revisionsrichters ist. 41
ee) Danach ist es zunächst stets eine Frage der
Aufklärungspflicht, ob ein bereits vernommener Zeuge - wenn
auch im Wege der "Ersetzung" nach § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO -
nochmals ergänzend zu vernehmen ist. Die
Aufklärungspflicht wird indessen nicht unmittelbar und von
Rechts wegen, sondern allenfalls mittelbar in verfahrenspraktischer
Hinsicht von dem Gesichtspunkt mitbestimmt, ob und inwieweit die
Teilnahme- und Mitwirkungsmöglichkeiten der Verteidigung bei
der ersetzenden Vernehmung eingeschränkt waren. Entscheidend
ist insoweit allein, ob aus Sicht des erkennenden Richters in der
Hauptverhandlung - auf diesen Zeitpunkt kommt es an - bei der
aufgezeichneten und vorgespielten Vernehmung Vorhalte und Fragen zu
wesentlichen, aufklärungsbedürftigen Punkten
unterblieben sind und sich deshalb auch im Blick auf die Beweislage im
übrigen die ergänzende Vernehmung aufdrängt.
Stets ist die Beurteilung eine Frage des Einzelfalles.
Wird der Zeuge zum Beweis einer neuen Behauptung benannt, zu der er bei
der aufgezeichneten und vorgeführten Vernehmung noch nicht
gehört werden konnte, so kann eine ergänzende
Vernehmung unabweisbar geboten sein. Insofern gilt nichts anderes als
für den in der Hauptverhandlung bereits vernommenen und
entlassenen Zeugen (vgl. dazu BGH StV 1995, 566); denn in solchen
Fällen wird nicht nur die Wiederholung einer Beweiserhebung
erstrebt. Bei dieser Fallgestaltung ist ein dahingehender Antrag
deshalb nach den Grundsätzen des Beweisantragsrechts zu
behandeln.
c) Der Ablehnungsbeschluß des Landgerichts begegnet nach
allem keinen rechtlichen Bedenken. Unter den gegebenen
Umständen zielte der abgelehnte Antrag lediglich auf eine
teilweise Wiederholung der Vernehmung ab. Er ist deshalb am
Maßstab der richterlichen Aufklärungspflicht zu
messen, die nicht verletzt ist. Die von der Revision und zuvor von der
Verteidigung in ihrem Antrag aufgegriffenen Sachverhaltspunkte waren
bereits Gegenstand der vorgeführten ermittlungsrichterlichen
Vernehmung der Geschädigten sowie der ebenfalls
eingeführten polizeilichen Vernehmung gewesen. Es ging um
einen Vorhalt und eine Frage, die nichts grundlegend Neues
beinhalteten. Eine neu zu Tage getretene Erkenntnis, die bei der
vorgeführten Vernehmung noch nicht bekannt gewesen, nun aber
zu ergänzender Vernehmung gedrängt hätte,
stand nicht in Rede. Die Zeugin war vielmehr ausführlich zu
dem Geschehen vernommen worden (vgl. § 69 Abs. 1 Satz 1 StPO).
Der von der Verteidigung beabsichtigte Vorhalt aus der Vernehmung der
Großmutter der Geschädigten in der Hauptverhandlung
war, wie die Revision selbst vorträgt, der
Geschädigten im wesentlichen inhaltsgleich schon beim
Ermittlungsrichter durch den Angeklagten selbst gemacht worden, und sie
hatte darauf geantwortet. Schließlich betrafen die Punkte
ersichtlich eher Randfragen. Es gab zudem weitere Beweismittel und
Beweisanzeichen, welche die Aussage der Geschädigten zum
Tatgeschehen bestätigten. Die Strafkammer war nach allem nicht
zur ergänzenden Vernehmung der Geschädigten
gezwungen. Auch ein Verstoß gegen die prozessuale
Fürsorgepflicht, der sich in der Entscheidung des erkennenden
Richters fortgesetzt hätte, liegt nach allem nicht vor.
4. Die weitere Verfahrensrüge, mit der die Revision die
Bescheidung eines Beweisantrages auf Vernehmung der P. V. als Zeugin
rügt, ist aus den Erwägungen in der Zuschrift des
Generalbundesanwalts unbegründet im Sinne des § 349
Abs. 2 StPO.
III. Auch die sachlich-rechtliche Nachprüfung des
angefochtenen Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des
Angeklagten aufgedeckt (§ 349 Abs. 2 StPO).
Nack Schluckebier Elf
Richter am BGH Dr. Boetticher ist in Urlaub und deshalb an der
Unterschrift verhindert.
Richter am BGH Hebenstreit ist in Urlaub und deshalb an der
Unterschrift verhindert. |