BGH,
Beschl. v. 15.1.2008 - 4 StR 452/07
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
4 StR 452/07
vom
15.1.2008
in der Strafsache
gegen
wegen besonders schwerer Vergewaltigung u.a.
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Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des
Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 15.1.2008
gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Bielefeld vom 20. April 2007 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit
die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung
angeordnet worden ist.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine
Jugendschutzkammer des Landgerichts Hagen zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen in der Zeit von 1996 bis 2006
begangener 96 (zumeist Missbrauchs-) Taten zum Nachteil seiner
minderjährigen Stieftochter, wobei bei einer Tat auch sein
damals 12-jähriger Stiefsohn mit einbezogen worden war, zu
einer Gesamtfreiheitsstrafe von 12 Jahren verurteilt;
außerdem hat es die Unterbringung des Angeklagten in der
Sicherungsverwahrung angeordnet. Gegen dieses Urteil wendet sich der
Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung formellen und
materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat mit der
Sachrüge nur zu der Maßregel Erfolg; im
Übrigen ist es unbegründet im Sinne des §
349 Abs. 2 StPO.
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1. Die angeordnete Unterbringung des Angeklagten in der
Sicherungsverwahrung, die das Landgericht auf § 66 Abs. 2 und
Abs. 3 Satz 2 StGB gestützt hat, kann nicht bestehen bleiben.
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Die Strafkammer hat - im Anschluss an die gehörten
Sachverständigen - einen Hang des Angeklagten zu erheblichen
Straftaten und seine Gefährlichkeit für die
Allgemeinheit (§ 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB) damit
begründet, dass die Kriminalprognose für den
Angeklagten "eher ungünstig" und voraussichtlich auch eine
langjährige Strafe allein nicht ausreichend sei, um
zukünftig gleichartige Straftaten zu verhindern (UA 85). Es
sei "schon grundsätzlich" nach empirischen Auswertungen im
Bereich der heterosexuellen Pädophilie (wie der des
Angeklagten) von einer hohen Rezidivrate von 25 bis 50 % in der Zeit
bis zu fünf Jahren nach Tatbegehung auszugehen.
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Ausgehend von diesem "bereits allgemein sehr ungünstigen
Level" spräche u.a. gegen eine günstige Prognose,
dass zwischen dem Täter (Angeklagten) und seinem Opfer (der
Stieftochter) "keine partnerschaftliche Bindung bzw. psychische
Vernetzung" bestanden habe. Die Einwirkungsmöglichkeiten in
der Haft seien schwierig vorherzusagen, da sich der Angeklagte - der
sich in der Hauptverhandlung zur Sache nicht eingelassen und seiner
Exploration durch die Sachverständigen nicht zugestimmt hatte
- nicht öffne. Deshalb sei die Frage, ob man
möglicherweise Zugang zu ihm finden und einen zur Verringerung
der Wiederholungsgefahr erforderlichen therapeutischen Prozess
einleiten könne, derzeit nicht zu beantworten, obwohl der
Angeklagte "grundsätzlich als
veränderungsfähig" einzuschätzen sei. Die
Prognose sei daher auch bei Berücksichtigung des
“recht fortgeschrittenen Alters“ des Angeklagten
als zweifelhaft, aber eher ungünstig, zu bezeichnen; im
Wiederholungsfalle sei mit massiven sexuellen Übergriffen "auf
Kinder" zu rechnen (UA 87).
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Diese Erwägungen halten rechtlicher Nachprüfung nicht
stand:
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Bereits der "statistische" Ausgangspunkt der Überlegungen - es
sei "schon grundsätzlich" von einer hohen Rezidivrate
auszugehen - ist weder nachvollziehbar belegt noch konkret im Hinblick
auf den nicht vorbestraften Angeklagten als Grundlage für die
Unterbringungsanordnung tragfähig (vgl. hierzu BVerfGE 109,
190, 242; BVerfG NStZ 2007, 87, 88; BGHSt 50, 121, 130 f.; BGH NStZ
2007, 464, 465).
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Auch die zweite Erwägung, zwischen dem Angeklagten und seiner
Stieftochter habe keine "psychische Vernetzung" bestanden, ist nicht
ohne Weiteres nachvollziehbar; denn nach den Feststellungen
kümmerte sich der Angeklagte - jedenfalls zunächst -
"wie ein Vater" (UA 6) liebevoll (UA 7) um seine Stieftochter und lebte
bis zum Jahre 2002 in häuslicher Gemeinschaft mit ihr (UA 15).
Auch danach besuchte er sie regelmäßig (UA 16). Es
bestand somit ein äußerst enger - auch psychischer -
Kontakt zwischen beiden. Der Angeklagte nutzte nach den Feststellungen
(vgl. UA 71) gerade diese enge Verbindung zu seiner Stieftochter, um
die Taten zu begehen.
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Aus diesem Grunde ist auch die Prognoseerwägung, es
müsse mit massiven sexuellen Übergriffen "auf Kinder"
gerechnet werden, nicht nachvollziehbar. Im Hinblick darauf, dass der
Angeklagte bisher nicht bestraft ist und er lediglich in einem Fall,
bei einem gemeinsamen Urlaub im Jahre 2002, ein weiteres Kind - seinen
Stiefsohn - in eine Tathandlung mit einbezogen hatte, ist diese
Prognose eine reine - nicht tragfähige - Vermutung.
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Rechtlichen Bedenken begegnet auch die für die "eher
ungünstige" Prognose herangezogene Erwägung, ein
therapeutisches Einwirken auf den Angeklagten sei schwierig
vorauszusagen, weil dieser sich "nicht öffne"; denn bei dieser
Beweisführung ist zu besorgen, dass das Schweigen des
Angeklagten - unzulässigerweise - zu seinem Nachteil verwertet
worden ist (vgl. BGHR StPO § 261 Aussageverhalten 4, 7, 9,
11). Im Übrigen ist eine "zweifelhafte" bzw. "eher
ungünstige" Prognose nicht geeignet, die Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung zu rechtfertigen (vgl. BGH NStZ-RR 2003, 108 f.;
Fischer, StGB 55. Aufl. § 66 Rdn. 33 m.w.N).
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2. Die Sache bedarf daher im Hinblick auf die angeordnete
Maßregel erneuter Verhandlung und Entscheidung. Der Senat
macht von der Möglichkeit Gebrauch, die Sache an ein anderes
Landgericht zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 Satz 1 2.
Alt. StPO).
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