BGH,
Beschl. v. 15.11.2007 - 4 StR 362/07
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
4 StR 362/07
vom
15.11.2007
in der Strafsache
gegen
wegen Erschleichens von Leistungen u.a.
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Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Vorsitzende
Richterin am Bundesgerichtshof Dr. Tepperwien, die Richter am
Bundesgerichtshof Maatz und Athing sowie die Richterinnen am
Bundesgerichtshof Solin-Stojanović und Sost-Scheible am 15.11.2007
beschlossen:
Die Sache wird an das Oberlandesgericht Naumburg zurückgegeben.
Gründe:
A.
I. Das Amtsgericht Halle-Saalkreis verurteilte den Angeklagten am 8.
März 2006 wegen vorsätzlichen Fahrens ohne
Fahrerlaubnis sowie "Beförderungserschleichung" in zwei
Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten. Nach
den Feststellungen des Urteils hatte der Angeklagte am 23. September
2005 einen Pkw im öffentlichen Straßenverkehr
geführt, ohne im Besitz der dafür erforderlichen
Fahrerlaubnis zu sein, sowie am 28. und 29.11.2005 öffentliche
Verkehrsmittel in Halle ohne gültigen Fahrschein benutzt. Das
Amtsgericht hielt - unter Berücksichtigung von § 47
Abs. 1 StGB - die Verhängung von Freiheitsstrafen gegen den
Angeklagten für unerlässlich und setzte für
das vorsätzliche Fahren ohne Fahrerlaubnis eine
Freiheitsstrafe von sechs Monaten und für die beiden
Fälle der Leistungserschleichung Einzelstrafen von einem bzw.
zwei Monaten fest. Die auf den Rechtsfolgenausspruch
beschränkte Berufung des Angeklagten verwarf das Landgericht
Halle durch Urteil vom 15. Februar 2007 als unbegründet.
Ergänzend stellte die Strafkammer fest, dass in den
Fällen der Leistungserschleichung jeweils nur ein
Kurzstreckentarif in Höhe von 1,10 Euro vom Angeklagten zu
entrichten gewesen
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war. Trotz des geringen Werts des zu entrichtenden
Beförderungsentgelts und auch in Ansehung des
Übermaßverbots sah sich das Berufungsgericht nicht
gehindert, auch die wegen der Leistungserschleichung
verhängten beiden Einzelstrafen - und die Gesamtstrafe - zu
bestätigen, da der Angeklagte mehrfach vorbestraft sei und
bereits Freiheitsstrafen verbüßt habe. Gegen dieses
Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er
allgemein die Verletzung sachlichen Rechts rügt.
II. Das Oberlandesgericht Naumburg beabsichtigt, die Revision des
Angeklagten entsprechend dem Antrag des Generalstaatsanwalts in
Naumburg nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu
verwerfen. Es erachtet die vom Landgericht verhängten
Freiheitsstrafen wegen besonderer Umstände, die in der
Persönlichkeit des Angeklagten liegen, zur Einwirkung auf ihn
als unerlässlich im Sinne des § 47 Abs. 1 StGB. Die
Einzelfreiheitsstrafen und die Gesamtfreiheitsstrafe seien zudem in
ihrer Höhe noch angemessen und geeignet, ihrer Bestimmung
eines gerechten Schuldausgleichs zu genügen; das
Übermaßverbot werde durch sie nicht verletzt.
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Soweit für einen Fall der Leistungserschleichung eine
Einzelfreiheitsstrafe von zwei Monaten verhängt wurde, sieht
sich das Oberlandesgericht Naumburg an der beabsichtigten Entscheidung
durch den Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 9. Februar
2006 - 1 Ss 575/05 - NStZ 2007, 37 gehindert: Das Oberlandesgericht
habe den seine Entscheidung tragenden Rechtssatz aufgestellt, die
Verhängung einer zweimonatigen Freiheitsstrafe zur
Sühne von Tatschuld und Tatunrecht sei bei einer
Leistungserschleichung mit einem Schaden von 1,65 Euro - ohne
Rücksicht auf die strafrechtliche Vergangenheit eines
Angeklagten - unverhältnismäßig und nicht
mehr vertretbar, so dass wegen des zu beachtenden
Übermaßverbotes eine tatrichterliche Ermes-
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sensausübung ausscheide. Das Oberlandesgericht Stuttgart habe
deshalb die vom Tatrichter verhängte Freiheitsstrafe von zwei
Monaten auf die allein als angemessen angesehene gesetzliche
Mindeststrafe von einem Monat zurückgeführt.
Das Oberlandesgericht Naumburg hat die Sache daher
gemäß § 121 Abs. 2 GVG dem
Bundesgerichtshof zur Entscheidung über folgende Frage
vorgelegt:
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"Stehen das Übermaßverbot und das Gebot
schuldangemessenen Strafens der Verhängung einer
Freiheitsstrafe von mehr als einem Monat unabhängig von der
strafrechtlichen Vergangenheit des Täters stets entgegen, wenn
der Täter einer Erschleichung der Beförderung durch
ein Verkehrsmittel ein Entgelt von nicht mehr als 1,10 Euro nicht
entrichten wollte?"
III. Der Generalbundesanwalt hat beantragt, die Sache an das
Oberlandesgericht Naumburg zurückzugeben; hilfsweise zu
beschließen:
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"Ob das Übermaßverbot und das Gebot
schuldangemessenen Strafens der Verhängung einer
Freiheitsstrafe von mehr als einem Monat entgegensteht, wenn der
Täter einer Erschleichung der Beförderung durch ein
Verkehrsmittel ein Entgelt von nicht mehr als 1,10 Euro nicht
entrichten wollte, kann nur nach Lage des Einzelfalles unter
Berücksichtigung aller für die Strafzumessung
erheblicher Faktoren beurteilt werden".
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B.
Die Sache ist an das Oberlandesgericht Naumburg zurückzugeben.
Die Vorlegungsvoraussetzungen des § 121 Abs. 2 GVG sind nicht
gegeben, weil sich die vom Oberlandesgericht Naumburg beabsichtigte
Abweichung auf die Bewertung von Tatsachen, nicht aber auf eine
Rechtsfrage bezieht. Durch den Beschluss des Oberlandesgerichts
Stuttgart ist das vorlegende Oberlandesgericht daher nicht gehindert,
in dem von ihm zu entscheidenden Fall ungeachtet einer
Ähnlichkeit der zu beurteilenden Sachverhalte die Revision des
Angeklagten zu verwerfen.
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Der Generalbundesanwalt hat dazu u.a. ausgeführt:
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"Die Entscheidung, unter welchen Umständen die Grenzen
schuldangemessenen Strafens überschritten sind und dadurch das
Übermaßverbot verletzt ist, gehört zur
Strafzumessung und ist als tatrichterliche Wertung
tatsächlicher Umstände eine Frage des Einzelfalls,
die der Klärung im Wege eines Vorlageverfahrens nicht
zugänglich ist (vgl. BGHSt 27, 212, 214ff; NStZ 1983, 261,
262; 1988, 270f; Franke in Löwe/Rosenberg StPO 25. Aufl.
§ 121 GVG Rdnr. 59; KK-Hannich 5. Aufl. StPO § 121
GVG Rdnr. 36); darauf, dass das vorlegende Oberlandesgericht die Frage
als Rechtsfrage behandelt hat, kommt es nicht an (vgl. BGHSt 31, 314,
316; NStZ 1995, 409, 410).
(…)
Im Hinblick auf das Wesen der Strafzumessung, die zugleich
tatrichterlicher Wertungsakt und Rechtsanwendung auf einen bestimmten
Strafzumessungssachverhalt unter vom Gesetzgeber formulierte
Strafzumessungskriterien und -leitlinien ist (vgl. BVerfG, Beschluss
vom 14.06.2007 - 2 BvR 1447/05 und 2 BvR 136/05 Rdnr. 78 [= NStZ 2007,
598 ff.]), muss daher in
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der Regel davon ausgegangen werden, dass sich die
Rechtsausführungen der Obergerichte zu den Grenzen
schuldangemessenen Strafens nur auf den der Entscheidung zugrunde
liegenden Einzelfall beziehen (vgl. BGHSt 27, 212, 215f; 28, 318, 324f;
Schäfer Praxis der Strafzumessung 3. Aufl. Rdnr. 485),
mögen sie auch so formuliert sein, dass sie als
grundsätzliche Aussage aufgefasst werden könnten
(vgl. BGHSt 18, 324, 325f; 28, 165, 166; NStZ 1988, 270f). Denn
unterschiedliche Ergebnisse rechtsfehlerfrei angewendeten
tatrichterlichen Ermessens bei der Strafzumessung haben mit
abweichenden Entscheidungen in Rechtsfragen nichts gemein; die
denkbaren Umstände des Einzelfalles sind zu vielschichtig
für generelle Aussagen (BGHSt 27, 212, 216; Franke in
Löwe/Rosenberg StPO 25. Aufl. § 121 GVG Rdnr. 59;
KK-Hannich 5. Aufl. StPO § 121 GVG Rdnr. 36; Schäfer
Praxis der Strafzumessung 3. Aufl. Rdnr. 485).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist nicht
davon auszugehen, dass das Oberlandesgericht Stuttgart die
Verhängung von die Mindeststrafe übersteigenden
Freiheitsstrafen unabhängig von der strafrechtlichen
Vergangenheit des Täters in Fällen des Erschleichens
sehr geringwertiger Leistungen stets als Verstoß gegen das
Gebot schuldangemessenen Strafens und gegen das
Übermaßverbot bewertet hat.
(…)
Der vom Oberlandesgericht Naumburg aus den
Entscheidungsgründen des Oberlandesgerichtes Stuttgart
hervorgehobene Satz ("Die Verhängung einer zweimonatigen
Freiheitsstrafe zur Sühne für Tatschuld und
Tatunrecht ist bei einer Leistungserschleichung mit einem Schaden von
1,65 Euro - ohne Rücksicht auf die strafrechtliche
Vergangenheit des Angeklagten -
unverhältnismäßig und nicht mehr
vertretbar.") ist bei verständiger Würdigung nur
Ergebnis [einer] Einzelfallabwägung. Er ist zwar allgemein
formuliert, wird in dem ihm vom Oberlandesgericht Naumburg zugemessenen
Bedeutungsgehalt vom Oberlandesgericht Stuttgart jedoch nicht
begründet. Da er zudem in auf den Einzelfall bezogene
Erwägungen eingebettet ist, ist davon auszugehen, dass das
Oberlandesge-
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richt Stuttgart die Verhängung von zweimonatiger
Freiheitsstrafe für Leistungserschleichungen mit einem Schaden
von 1,65 Euro nicht allgemein, sondern nur in dem ihm vorliegenden
Verfahren als nicht mehr schuldangemessen erachtete.“
Dem stimmt der Senat zu. Es entscheidet sich nach den
Verhältnissen des Einzelfalls, ob bei Bagatelldelikten bis zu
einer bestimmten Schadensgrenze die gesetzliche Mindeststrafe
übersteigende Freiheitsstrafen nicht mehr schuldangemessen
sind. Diese Frage ist deshalb einer Vorlegung nach § 121 Abs.
2 GVG nicht zugänglich.
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Tepperwien Maatz Athing
Solin-Stojanović Sost-Scheible |