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BGH, Beschluss vom 15. Oktober 2003 - 1 StR 402/03


Entscheidungstext  
 
BGH, Beschl. v. 15.10.2003 - 1 StR 402/03
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
1 StR 402/03
vom
15.10.2003
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Totschlags
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Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 15.10.2003 gemäß
§ 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Ulm vom 18. Juni 2003 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht
zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe:
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen versuchten Totschlags in
Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zur Freiheitsstrafe von vier Jahren
verurteilt. Die Revision der Angeklagten hat mit der Sachbeschwerde Erfolg.
I.
1. Das Landgericht hat festgestellt: Die Angeklagte befand sich in der
Sylvesternacht 2002/2003 bei ihrem Freund O. , dem späteren
Tatopfer. Dieser richtete eine Sylvesterfeier aus. Zum Jahreswechsel gingen
die anderen Gäste vor das Haus, während die Angeklagte sich zurückziehen
und etwas hinlegen wollte. Hiermit war O. "überhaupt nicht einverstanden".
Er fing an zu schimpfen und es entspann sich ein mit Worten ausge-
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tragener Streit. Er schenkte sich schließlich - allein im Wohnzimmer - ein Glas
Sekt ein, um "nörgelnd alleine zu zechen".
Die Angeklagte wollte sich im Schlafzimmer auf die am Boden liegende
Matratze legen. Zuvor entnahm sie einer Küchenschublade ein scharfes Metzgermesser
mit einer Klingenlänge von ca. 20 cm, das sie neben sich auf die
Matratze legte. Aus ihren Erfahrungen der letzten zwölf Jahre, in denen sie
alkoholisiert immer wieder in Streitsituationen - "sogar mit Messern" - gegenüber
ihren jeweiligen Lebenspartnern gewalttätig geworden war, wußte die Angeklagte,
zu welchem Ergebnis diese Vorbereitung führen könnte. Damit, daß
O. sie in Ruhe lassen würde, rechnete sie zu diesem Zeitpunkt nicht
ernsthaft. Sie erwartete, daß er wieder zu ihr ins Schlafzimmer kommen würde,
um sie zu beschimpfen und um zu streiten. O. hatte sie allerdings nie
geschlagen; auch jetzt rechnete sie damit nicht. Sie sah allerdings billigend
voraus, daß sie bei einer Eskalation des Streits einen nicht mehr kontrollierbaren
Aggressionsausbruch haben könnte, in dessen Verlauf sie unter Benutzung
des eigens bereit gelegten Messers ihren Freund auch so erheblich verletzen
könnte, daß er stürbe.
Schließlich ging O. , der über das Verhalten der Angeklagten
weiter wütend war, tatsächlich zu ihr ins Schlafzimmer und trat gegen die Matratze.
Er belegte sie mit Schimpfworten und wollte sie jetzt aus der Wohnung
werfen. Durch diese Beschimpfung in Verbindung mit ihrer Alkoholisierung
(Blutalkoholkonzentration: 2,11 Promille) kam es bei der Angeklagten, wie von
ihr vorhergesehen, zu einem Impulskontrollverlust mit einem aggressiven
Durchbruch. Sie geriet in einen Zustand, "in dem sie nicht mehr wußte, was sie
tat" (UA S. 9). Sie nahm das Messer auf und stach wild und kraftvoll insgesamt
dreimal auf O. ein. Zwei Stiche trafen diesen am linken Oberarm. Der
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dritte Stich drang in die Brust O. s und durchtrennte zwei Rippen nahe
dem Brustbein; er traf den rechten Vorhof des Herzens und verletzte diesen.
Der Stich war lebensgefährlich. Aufgrund glücklicher Umstände bildete sich ein
Blutgerinnsel, das die Verletzung des rechten Vorhofs des Herzens verstopfte.
Deshalb verstarb O. nicht alsbald, sondern konnte im Verlauf des
Neujahrstages durch mehrere Operationen gerettet werden, nachdem die
Schwere der Verletzung schließlich erkannt worden war.
Unmittelbar nach der Tat realisierte die Angeklagte, "was sie Schlimmes
angerichtet" hatte (UA S. 9). Sie hockte sich zu ihrem Freund auf den Boden,
nahm dessen Kopf auf ihren Schoß und versuchte ihn mit den Worten: "Papi,
Papi, schrei nicht, es ist nichts passiert, ich liebe dich", zu trösten, bis sie von
einem herbeieilenden Gast ihres Freundes ins Wohnzimmer geschickt wurde.
2. Der von der Kammer hinzugezogene psychiatrische Sachverständige,
dem diese sich angeschlossen hat, hat ausgeführt, bei der Angeklagten sei seit
langem ein episodischer, exzessiver Alkoholmißbrauch festzustellen, der auch
in der Vergangenheit immer wieder zu schwersten aggressiven Durchbrüchen
geführt habe, die mit Kontrollverlust und partieller Amnesie einhergegangen
seien. Es liege eine neurotische Persönlichkeitsstörung vor. Im Laufe des
Streites, welcher der Tat voraufgegangenen sei, habe sich bei der Angeklagten
infolge affektiver Erregung ein aggressiver Impulskontrollverlust entwickelt, der
sich im Moment des Zustechens eingestellt habe. Die Fähigkeit zu einsichtsgemäßem
Handeln sei zu diesem Zeitpunkt erheblich beeinträchtigt, möglicherweise
("nicht ausschließbar") sogar aufgehoben gewesen (UA S. 16). Dies
gelte indessen nur für den Zeitpunkt des Zustechens, nicht für den davor liegenden
Zeitraum. Für diesen, also während der Impulskontrollverlust sich noch
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entwickelt habe, könne allerdings eine erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit
nicht ausgeschlossen werden.
Die Strafkammer hat dementsprechend zu Gunsten der Angeklagten angenommen,
daß ihre Steuerungsfähigkeit im Zeitpunkt des Zustechens "nicht
weiter vorhanden war". Die Angeklagte habe allerdings zuvor noch reflektiert
was sie tat, als sie das Messer eigens aus der Küche geholt und neben sich
auf der Matratze bereitgelegt habe.
Die Strafkammer hat die Angeklagte deshalb unter dem Gesichtspunkt
der vorverlegten Verantwortlichkeit des versuchten Totschlags in Tateinheit mit
gefährlicher Körperverletzung schuldig gesprochen, erheblich verminderte
Schuldfähigkeit zum Zeitpunkt des Bereitlegens des Messers angenommen
und der Strafbemessung unter Berücksichtigung dieses Umstandes den Strafrahmen
des minder schweren Falles des Totschlags nach § 213 StGB zugrundegelegt;
diesen hat sie nach Versuchsgrundsätzen nochmals gemildert.
II.
Die Revision ist begründet. Der Schuldspruch hält sachlich-rechtlicher
Nachprüfung nicht stand.
Das Landgericht hat die Möglichkeit eines strafbefreienden Rücktritts
der Angeklagten vom Versuch des Totschlags nicht erörtert (§ 24 Abs. 1 StGB).
Dessen hätte es aber bedurft; denn die Angeklagte war ersichtlich nach dem
dritten Messerstich durch äußere Umstände nicht gehindert, weiter auf ihr Opfer
einzustechen. Auch ein Täter, der nach Tatbeginn schuldunfähig wird und
zunächst mit natürlichem Vorsatz weiterhandelt, kann grundsätzlich mit strafbefreiender
Wirkung vom Versuch zurücktreten (BGHSt 23, 356, 359 zu § 46
Nr. 1 StGB aF; MünchKommStGB/Herzberg § 24 Rdn. 137 ff.). Der Senat ver-
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mag die Frage eines strafbefreienden Rücktritts vom Totschlagsversuch auch
nicht selbst zu beantworten, weil die Feststellungen und die Beweiswürdigung
hierzu sich als lückenhaft, unklar und deshalb insoweit nicht tragfähig erweisen.
1. Die Prüfung eines etwaigen strafbefreienden Rücktritts der Angeklagten
vom Totschlagsversuch hätte zunächst die Bewertung erfordert, ob der
Versuch beendet war; solchenfalls wäre hier mangels konkreter Rettungsbemühungen
der Angeklagten ein Rücktritt nicht mehr in Betracht gekommen
(§ 24 Abs. 1 Satz 2 StGB). Für die Abgrenzung zwischen beendetem und unbeendetem
Versuch ist die Vorstellung des Täters nach Abschluß der letzten
Ausführungshandlung maßgebend (sog. Rücktrittshorizont). Beendet ist ein
Versuch erst dann, wenn der Täter nach der letzten Ausführungshandlung die
tatsächlichen Umstände, die den Erfolgseintritt - hier also den tödlichen Ausgang
- nahelegen, erkennt oder den Erfolgseintritt in Verkennung der tatsächlichen
Ungeeignetheit der Handlung für möglich hält. Deshalb kommt es darauf
an, ob nach den drei Messerstichen für die Angeklagte erkennbar eine unmittelbare
Lebensgefahr für das Opfer eingetreten war und ob sie mit einem tödlichen
Ausgang rechnete oder nicht. Im ersten Falle hätte die Angeklagte Aktivitäten
zur Verhinderung des Erfolges entfalten müssen, um straffrei zu bleiben;
daran fehlte es hier. Im zweiten Falle reichte es, daß sie mit der Tathandlung
innehielt (vgl. nur BGHSt 35, 90, 93; BGHR StGB § 24 Abs. 1 Satz 1
Rücktritt 8; Tröndle/Fischer StGB 51. Aufl. § 24 Rdn. 15).
Bei dieser gebotenen Bewertung hätte der Tatrichter sich weiter die Frage
vorlegen müssen, ob während des Zustechens der Angeklagten deren Einsichtsfähigkeit
jedenfalls insoweit erhalten war, daß sie eine Vorstellung von
den Folgen ihrer Messerstiche entwickeln konnte. Der Nichteinsichtsfähige wird
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dazu in der Regel nicht in der Lage sein. Unterbricht er allerdings sein Handeln
bewußt, wird das für ein Wiedererlangen der Einsichtsfähigkeit sprechen (vgl.
dazu MünchKommStGB/Herzberg § 24 Rdn. 138). Die Urteilsgründe deuten
hierzu darauf hin, daß die Strafkammer von einer erhaltenen Einsichtsfähigkeit
der Angeklagten ausgegangen ist, aber ihre Steuerungsfähigkeit zur Tatzeit als
möglicherweise ausgeschlossen erachtet hat (UA S. 16). Allerdings erscheint
die Wortwahl der Strafkammer insoweit nicht eindeutig. So heißt es im Rahmen
der Feststellungen, die Angeklagte habe nicht mehr gewußt, was sie tat (UA
S. 9). Der psychiatrische Sachverständige hat auch von "partieller Amnesie"
gesprochen (UA S. 15). Zwischen dem Ausschluß oder der Einschränkung der
Unrechtseinsichtsfähigkeit und der Steuerungsfähigkeit ist indessen genau zu
unterscheiden (BGHSt 40, 341, 349; BGH bei Holtz MDR 1987, 93; Tröndle/
Fischer aaO § 20 Rdn. 3).
Hätte die Angeklagte unter Berücksichtigung ihres Impulskontrollverlustes
und des aggressiven Durchbruchs nach dem dritten Messerstich erfaßt,
daß sie ihren Freund lebensgefährlich getroffen hatte und mit dessen Tod gerechnet,
wäre der Versuch beendet gewesen. Da sie nach den bisherigen
Feststellungen keine Rettungsbemühungen entfaltet hat, wäre sie dann insoweit
nicht straffrei (hinsichtlich des versuchten Totschlags §§ 212, 22, 23
StGB).
Die bislang getroffenen Feststellungen zur Frage der Beendigung des
Totschlagsversuchs sind unklar; die Würdigung setzt sich damit nicht auseinander:
Einerseits erkannte die Angeklagte, was "sie Schlimmes angerichtet
hatte" (UA S. 9 unten); andererseits versuchte sie ihren Freund u.a. mit den
Worten zu trösten, es sei "nichts passiert" (UA S. 9, 12), und sogar im Krankenhaus
wurde der Ernst der Verletzung "zunächst nicht direkt" erkannt (UA
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S. 17). Allerdings war der dritte Stich mit solcher Wucht geführt, daß zwei Rippen
des Opfers durchtrennt wurden. All diese Umstände hätten der Bewertung
bedurft.
2. Sollte die Angeklagte die Lebensgefährlichkeit ihres Handelns nach
dem dritten Stich zunächst nicht erkannt haben, käme ein freiwilliger Rücktritt
vom unbeendeten Tötungsversuch in Betracht. Hier wäre zu prüfen gewesen,
aus welchem Grunde die Angeklagte nicht weiter zustach. Nachdem äußere
Umstände sie daran ersichtlich nicht hinderten, könnte es an der Freiwilligkeit
des Innehaltens gleichwohl fehlen, wenn willensunabhängige Umstände die
weitere Tatbegehung verhindert hätten. Solche sind bei unwiderstehlichen inneren
Hemmungen angenommen worden, etwa wenn der Täter infolge
Schocks oder seelischen Drucks unfähig zur weiteren Tatbegehung geworden
war (vgl. BGHSt 9, 48, 53). Allerdings kann freiwilliger Rücktritt dann vorliegen,
wenn Mitleid, seelische Erschütterung beim Anblick des bis dahin Angerichteten
oder die Wiederkehr hinreichender Steuerungsfähigkeit nach Affektentladung
ein willensgesteuertes Innehalten ermöglichen (vgl. zu alledem BGHSt 7,
296, 299; 9, 48, 53; 21, 216, 217; 35, 184, 186; BGHR StGB § 24 Abs. 1 Satz 1
Versuch, unbeendeter 18; Freiwilligkeit 21; BGH NStZ 1992, 536, 537; 1994,
428 f.; NJW 1993, 2125, 2126; bei Dallinger MDR 1975, 541; vgl. auch BGH
bei Dallinger MDR 1952, 531; Tröndle/Fischer aaO § 24 Rdn. 22 f.).
Für die Entscheidung ist die objektive Sachlage nur insoweit von Bedeutung,
wie sie Rückschlüsse auf die innere Einstellung des Täters gestattet
(BGH StV 1988, 527). Bleibt offen, ob der Täter von der weiteren Tatausführung
- hier des Totschlags - durch Umstände gehindert war, die von seinem
Willen unabhängig waren, so ist nach dem Zweifelssatz von der Freiwilligkeit
des Rücktritts auszugehen (BGH bei Holtz MDR 1982, 969; MDR 1986, 271;
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BGH StV 1992, 10, 11; BGH, Beschluß vom 20. Januar 1995 - 2 StR 715/94;
Tröndle/Fischer aaO § 24 Rdn. 28).
Unter Beachtung dieser Grundsätze hätte die Strafkammer es unternehmen
müssen, den Sachverhalt zu klären und dazu Feststellungen zu treffen.
Sodann wäre die erforderliche rechtliche Würdigung unter dem Gesichtspunkt
eines etwaigen freiwilligen strafbefreienden Rücktritts anzustellen gewesen.
Daran fehlt es.
3. Das angefochtene Urteil kann im Schuldspruch und auch im Strafausspruch
auf dem bezeichneten rechtlichen Mangel beruhen, wenngleich die verhängte
Strafe auch unter dem alleinigen Gesichtspunkt der gefährlichen Körperverletzung
als nicht zu hoch erscheinen mag. Der Grundsatz der Einheitlichkeit
der Tat steht einer Aufrechterhaltung des Schuldspruchs wegen gefährlicher
Körperverletzung entgegen (vgl. Meyer-Goßner StPO 46. Aufl. § 353
Rdn. 7).
4. Der neue Tatrichter wird zu bedenken haben, daß die Annahme vollständig
aufgehobener Steuerungsfähigkeit bei einem Affektdurchbruch nur in
Ausnahmefällen in Betracht kommt (vgl. BGH NStZ 1995, 175, 176 = BGHR
StGB § 20 Affekt 3; BGH NStZ 1997, 333 f.; siehe auch BGH StV 1997, 630,
631 a.E.; Jähnke in LK 11. Aufl. § 20 Rdn. 58). Er wird überdies zu prüfen haben,
ob die Angeklagte in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen
ist (§ 63 StGB; vgl. BGH StV 1999, 309 f.). Das Verschlechterungsverbot hindert
ihn daran nicht (§ 358 Abs. 2 Satz 2 StPO). Die bisherigen Feststellungen
können nahelegen, daß die Angeklagte für die Allgemeinheit gefährlich ist, weil
sie schon früher unter ähnlichen Bedingungen ihre Partner - auch mit dem
Messer - attackiert hat und ein Zeuge sie als "tickende Zeitbombe" charakterisiert
hat (UA S. 11).
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Nack Wahl Schluckebier
Kolz Elf


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