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BGH, Beschluss vom 16. Januar 2003 - 1 StR 512/02


Entscheidungstext  
 
BGH, Beschl. v. 16.1.2003 - 1 StR 512/02
1 StR 512/02
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom
16. Januar 2003
in der Strafsache gegen
wegen gefährlicher Körperverletzung u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat am 16. Januar 2003 beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
Regensburg vom 30. Juli 2002 wird als unbegründet verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe:
I.
1. Der Angeklagte hat B. im März 2000 über Stunden und den Nebenkläger R. im April 2000 über Tage in seiner Gewalt gehalten und vielfältig gedemütigt und verletzt. R. schoß er etwa aus der Nähe in einen Zeh, eine Hand und die Genitalien. Deshalb ist er jeweils wegen Freiheitsberaubung in Tateinheit mit mehreren Nötigungen und mehreren - bezüglich R.: gefährlichen - Körperverletzungen rechtskräftig schuldig gesprochen (Senatsurteil vom 4. September 2001 - 1 StR 232/01, teilweise abgedruckt in NStZ 2002, 30 f.).
2. Er wurde jetzt zu sechs Jahren und sechs Monaten Gesamtfreiheitsstrafe (im Fall B. ein Jahr und sechs Monate, im Fall R. sechs Jahre) verurteilt; seine Sicherungsverwahrung wurde angeordnet. Er war bereits 1990 vom Landgericht München I unter anderem wegen versuchten Mordes (Strafe zwölf Jahre), schweren Raubes (Strafe vier Jahre und sechs Monate) und gefährlicher Körperverletzung (Strafe zwei Jahre und sechs Monate) zu 14 Jahren Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt worden, die er bis 1998 überwiegend verbüßt hat. Die Taten waren ähnlich grausam gewesen wie die jetzt abgeurteilten.
3. Seine auf Verfahrensrügen und die Sachrüge gestützte Revision bleibt erfolglos (§ 349 Abs. 2 StPO).
II.
1. Die Mitwirkung der Vertreterin des Nebenklägers an der neuen Hauptverhandlung ist nicht zu beanstanden. Der Senat teilt nicht die Auffassung der Revision, nach Rechtskraft des Schuldspruchs sei im Hinblick auf § 400 StPO ein Anschluß der Nebenklage ebensowenig zulässig (vgl. Meyer-Goßner, StPO 46. Aufl. § 395 Rdn. 12; Stöckel in KMR § 395 Rdn. 22) wie eine weitere Beteiligung der bereits zugelassenen Nebenklage.
Der Nebenklageberechtigte kann sich dem Verfahren bis zu dessen rechtskräftigem Abschluß (BGH NStZ-RR 1997, 136) in jeder Lage anschließen, § 395 Abs. 4 Satz 1 StPO; ob er zur Zeit des Anschlusses noch Rechtsmittel einlegen könnte, ist unerheblich (BGH, Beschluß vom 15. Mai 1998 - 2 StR 76/98; Senge in KK 4. Aufl. § 395 Rdn. 15). Um so weniger führt die Rechtskraft des Schuldspruchs zu einem Entzug der Befugnisse der Nebenklage aus einem früheren Anschluß.
2. Die Sicherungsverwahrung ist auf § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB gestützt, obwohl im gesamten Verfahren nur von § 66 Abs. 2 StGB die Rede war. Die hierauf gestützte Rüge der Verletzung von § 265 StPO ( vgl. BGHR StPO § 265 Abs. 2 Hinweispflicht 6; BGH NStZ 2001, 162) greift jedenfalls deshalb nicht durch, weil sich der Angeklagte auch bei einem solchen Hinweis nicht erfolgversprechender als geschehen hätte verteidigen können. Die formalen Voraussetzungen von § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB sind hier ebenso erfüllt, wie die des § 66 Abs. 2 StGB. Für das bei der Anwendung beider Bestimmungen auszuübende Ermessen gelten die gleichen Grundsätze (Stree in Schönke/ Schröder, StGB 26. Aufl. § 66 Rdn. 65). Entgegen der Auffassung der Revision spricht es schon ausweislich der dort genannten Anlaßtaten nicht gegen die Anwendbarkeit von § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB, daß der Angeklagte kein pädophiler Sexualstraftäter ist, so daß ihre hieran anknüpfenden Erwägungen zu besseren Verteidigungsmöglichkeiten auf sich beruhen können.
3. Nach der Erstattung eines Gutachtens zur Gefährlichkeit des Angeklagten (§ 246a StPO) beantragte die Verteidigung, die Gutachterin gemäß § 76 Abs. 1 Satz 2 StPO wegen mangelnder Sachkunde von ihren Aufgaben zu entbinden und verlangte eine ergänzende Begutachtung gemäß § 83 Abs. 1 StPO sowie die Anhörung eines weiteren Sachverständigen. Die Strafkammer wies sämtliche Anträge zurück. Einer Entscheidung gemäß § 76 Abs. 1 Satz 2 StPO stehe schon § 245 StPO entgegen, im übrigen sei die Gutachterin qualifiziert sowie erfahren und von zutreffenden Ansatzpunkten ausgegangen.
Die Revision hält jeden dieser Beschlüsse für fehlerhaft und sieht zugleich die Aufklärungspflicht als verletzt an.
a) Die Rüge eines Verstoßes gegen § 76 Abs. 1 Satz 2 StPO greift nicht durch. Hat der Sachverständige - wie hier - sein Gutachten in der Hauptverhandlung erstattet, kommt eine Entpflichtung nach § 76 Abs. 1 Satz 2 StPO nicht mehr in Betracht. Das ergibt sich aus dem systematischen Zusammenhang mit dem in § 76 Abs. 1 Satz 1 StPO geregelten Gutachtenverweigerungsrecht. Die Vorschrift dient dem Zweck, die für den Zeugen geltenden Verweigerungsgründe wegen der Fungibilität des Sachverständigen generalklauselartig zu erweitern (vgl. Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO Teil II § 76 Rdn. 3) und ist daher auf eine Entpflichtung des Sachverständigen vor Erstattung des Gutachtens zugeschnitten. Nach § 76 Abs. 1 Satz 2 StPO kann ein Sachverständiger zwar auch wegen mangelnder Sachkunde entbunden werden (vgl. Dahs in Löwe-Rosenberg, StPO 24. Aufl. § 76 Rdn. 4). Für eine Anwendung dieser Vorschrift auf Fallgestaltungen, bei denen sich die mangelnde Sachkunde erst nach Erstattung des Gutachtens herausstellt, besteht jedoch kein Raum, weil hierfür § 83 Abs. 1 StPO gilt.
Auf die streitige Frage, ob § 245 StPO in seinem Anwendungsbereich § 76 Abs. 1 Satz 2 StPO vorgeht (vgl. Senge in KK 4. Aufl. § 76 Rdn. 4), kommt es nach Erstattung des Gutachtens nicht mehr an, da auch hier § 83 Abs. 1 StPO gilt. Hierbei geht es vielmehr um Fallgestaltungen der Entbindung des anwesenden Sachverständigen nach § 76 Abs. 1 Satz 2 StPO vor Erstattung des Gutachtens. In dieser prozessualen Situation stellt sich die Frage, ob das Gericht den Sachverständigen nach seinem Ermessen entpflichten darf, obwohl sich die Prozeßbeteiligten aufgrund der Ladung durch das Gericht auf die Erstattung des Gutachtens in der Hauptverhandlung eingestellt und deshalb möglicherweise Beweisanträge oder eine Ladung nach § 220 StPO unterlassen haben. Daher soll das Gericht im Hinblick auf § 245 StPO den erschienenen und zur Gutachtenerstattung bereiten Sachverständigen nur im Einvernehmen mit den übrigen Prozeßbeteiligten nach § 76 Abs. 1 Satz 2 StPO entbinden können (vgl. Dahs aaO Rdn. 6; Meyer-Goßner, StPO 46. Aufl. § 245 Rdn. 3; Müller: Der Sachverständige im gerichtlichen Verfahren, 3. Aufl. Rdn. 466).
b) Ohne Erfolg macht der Beschwerdeführer eine Verletzung des § 83 Abs. 1 StPO geltend. Der Antrag der Verteidigung, gemäß § 83 Abs. 1 StPO einen neuen Sachverständigen zu bestellen, war zwar kein Beweisantrag, aber ein Antrag zur Beweisaufnahme. Hierauf finden die Grundsätze des Beweisrechts Anwendung (vgl. BGHR StPO § 74 Ablehnung 1 m.Nachw.). Ob das Gericht verpflichtet ist, ein neues Gutachten einzuholen, kann revisionsrechtlich nur mit der Aufklärungsrüge (§ 244 Abs. 2 StPO) oder der Verfahrensrüge wegen fehlerhafter Ablehnung eines entsprechenden Beweisantrages (§ 244 Abs. 4 Satz 2 2. Halbsatz StPO) beanstandet werden. Im Fall eines als ungenügend erachteten Gutachtens kann der Richter zwar aufgrund des ihm in § 83 Abs. 1 StPO eingeräumten Ermessens eine neue Begutachtung anordnen (vgl. BayObLGSt 1955, 262). Eine Pflicht hierzu besteht hingegen nur, wenn dies die Aufklärungspflicht gebietet (§ 244 Abs. 2 StPO) oder die Voraussetzungen des § 244 Abs. 4 Satz 2 2. Halbsatz StPO vorliegen (Lemke in HK-StPO 3. Aufl. § 83 Rdn. 3; Meyer-Goßner, StPO 46. Aufl. § 83 Rdn. 1). Wird - wie hier - die fehlende Sachkunde des Sachverständigen geltend gemacht, kann ein revisibler Verfahrensfehler nur in einer Verletzung von § 244 Abs. 2 oder Abs. 4 StPO liegen.
c) Soweit in diesem Zusammenhang auch eine Verletzung der Aufklärungspflicht geltend gemacht wird, bemerkt der Senat ergänzend zu den Ausführungen des Generalbundesanwalts:
(1) Angesichts der zahlreichen grausamen Taten des Angeklagten und seiner Rückfallgeschwindigkeit nach langer Strafverbüßung hätte es auch konkreter Darlegung durch die Revision bedurft, wieso das der Sachverständigen angeblich unbekannte "syllogistische Denkmodell", die ihr angeblich unbekannte "Deklaration von Madrid" und die übrigen in diesem Zusammenhang genannten Gesichtspunkte die Beurteilung der Gefährlichkeit des Angeklagten hätten beeinflussen können.
(2) Der Angeklagte hat in der Hauptverhandlung zu den Taten zum Nachteil R. geschwiegen. Ausweislich der in den Urteilsgründen wiedergegebenen Ausführungen der Sachverständigen hat er ihr gegenüber diese Taten bestritten und die Vorwürfe R. s als Teil eines Komplotts bezeichnet. Die Sachverständige hat ihre Prognose allerdings auch darauf gestützt, daß er sich insgesamt mit seinen Taten
- auch seinen früheren (vgl. oben I 2) - nicht auseinandersetze und hat dabei auf den Fall R. hingewiesen. Die Revision ist der Meinung, die Sachverständige habe aus zulässigem Verteidigungsverhalten Schlüsse zum Nachteil des Angeklagten gezogen, was gegen ihre Sachkunde spräche.
Dies trifft schon im Ansatz nicht zu.
Wie bei der Strafzumessung darf allerdings zulässiges Verteidigungsverhalten auch im Zusammenhang mit Sicherungsverwahrung nicht zum Nachteil des Angeklagten berücksichtigt werden (vgl. nur BGH StV 1993, 469; BGH b. Pfister NStZ-RR 2000, 365 m.w.N.), selbst wenn der Schuldspruch schon rechtskräftig ist (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2 Nachtatverhalten 4, 19 m. w.N.; zum Vollstreckungsverfahren vgl. demgegenüber OLG Frankfurt NStZ-RR 1999, 346 f. m.w.N.). Dies beruht jedoch nicht darauf, daß Verteidigungsverhalten an sich schon im Ansatz als Grundlage zur Beurteilung der Persönlichkeit ungeeignet wäre, sondern darauf, daß niemand gehalten ist, sich selbst zu belasten ("nemo tenetur ...."-Grundsatz), also auf rechtlichen (normativen) Erwägungen. Wenn der Sachverständige diesen Rechtsgrundsatz nicht kennt, spricht dies nicht gegen seine Sachkunde auf seinem Fachgebiet.
4. Beruht ein Gutachten eines Sachverständigen - den das Gericht gemäß § 78 StPO erforderlichenfalls (auch) in rechtlicher Hinsicht anzuleiten hat (vgl. nur Meyer-Goßner, StPO 46. Aufl. § 78 Rdn. 5) - allerdings auf rechtlich fehlerhaften Erwägungen und wirken diese im Urteil weiter, können sie dessen Bestand gefährden (vgl. aaO Rdn. 7 m.w.N.).
So verhält es sich hier jedoch nicht. Nach der Mitteilung, nach Auffassung der Sachverständigen spreche (auch) die fehlende Reue des Angeklagten über sein Verhalten gegenüber R. gegen ihn, führt die Strafkammer ohne speziellen Bezug gerade zu diesem Gesichtspunkt allgemein aus, die Einschätzung der Sachverständigen sei insgesamt "ohne weiteres nachvollziehbar" und zwar "auf Grund der im Urteil des Landgerichts München geschilderten Vorgeschichte" (vgl. oben I 2); Verteidigungsverhalten des Angeklagten ist im Rahmen der zahlreichen von der Strafkammer zur Sicherungsverwahrung angestellten Erwägungen hingegen nicht erwähnt. Der Senat kann daher ausschließen, daß die Anordnung der Sicherungsverwahrung (auch) auf Erwägungen zum Verteidigungsverhalten des Angeklagten beruht. Darauf, ob die Sachverständige nicht lediglich - rechtlich unbedenklich - zum Ausdruck bringen wollte, auch die Einstellung des Angeklagten zu seinem Verhalten biete keinen Anlaß, die Einschätzung seiner Gefährlichkeit in Zweifel zu ziehen (vgl. BGH Beschluß vom 12. März 2002 - 1 StR 557/01 m.w.N. -), kommt es daher nicht mehr an.
5. Wie der Generalbundesanwalt im einzelnen zutreffend ausgeführt hat, hat auch im übrigen die auf die Sachrüge gebotene Überprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
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