BGH,
Beschl. v. 17.1.2008 - GSSt 1/07
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
GSSt 1/07
vom
17.1.2008
in der Strafsache
gegen
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
___________________________________
MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1
Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart
verzögert worden, dass dies bei der Durchsetzung des
staatlichen Strafanspruchs unter näherer Bestimmung des
Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist anstelle
der bisher gewährten Strafminderung in der Urteilsformel
auszusprechen, dass zur Entschädigung für die
überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil der
verhängten Strafe als vollstreckt gilt.
BGH, Beschluss vom 17.1.2008 - GSSt 1/07 - Landgericht Oldenburg
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wegen besonders schwerer Brandstiftung u. a.
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Der Große Senat für Strafsachen des
Bundesgerichtshofs hat durch den Präsidenten des
Bundesgerichtshofs Prof. Dr. Hirsch, die Vorsitzende Richterin am
Bundesgerichtshof Dr. Rissing-van Saan, den Vorsitzenden Richter am
Bundesgerichtshof Basdorf, die Richter am Bundesgerichtshof Maatz, Dr.
Miebach, Dr. Wahl, Dr. Bode, Prof. Dr. Kuckein, die Richterin am
Bundesgerichtshof Dr. Gerhardt sowie die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Kolz und Becker am 17.1.2008 beschlossen:
Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart
verzögert worden, dass dies bei der Durchsetzung des
staatlichen Strafanspruchs unter näherer Bestimmung des
Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist anstelle
der bisher gewährten Strafminderung in der Urteilsformel
auszusprechen, dass zur Entschädigung für die
überlange Verfahrensdauer ein bezifferter Teil der
verhängten Strafe als vollstreckt gilt.
Gründe:
I.
Die Vorlage des 3. Strafsenats betrifft die Frage, in welcher Weise es
im Rechtsfolgenausspruch zu berücksichtigen ist, wenn
Strafverfolgungsbehörden das Verfahren gegen den Angeklagten
in rechtsstaatswidriger Weise verzögert haben.
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1. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Strafsache gegen
F. (3 StR 50/07) über die auf den Rechtsfolgenausspruch
beschränkte Re-
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vision der Staatsanwaltschaft zu entscheiden. Mit ihrem Rechtsmittel
beanstandet es die Revisionsführerin als sachlich-rechtlichen
Mangel, dass das Landgericht zum Ausgleich für eine von ihm zu
verantwortende Verzögerung des Verfahrens gegen den
Angeklagten auf eine Strafe erkannt hat, die das gesetzliche
Mindestmaß unterschreitet.
Der Angeklagte hatte einen im Eigentum seiner Mutter stehenden, aber
maßgeblich von ihm geleiteten Landgasthof in Brand gesetzt,
um Leistungen aus der von seiner Mutter für den Betrieb
abgeschlossenen Gebäude-, Inventar- und
Ertragsausfallversicherung zu erlangen. Er hatte den Schadensfall der
Versicherung gemeldet, diese hatte jedoch keine Zahlungen geleistet.
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Wegen dieses Sachverhalts hat das Landgericht Oldenburg den Angeklagten
der besonders schweren Brandstiftung (§ 306 b Abs. 2 Nr. 2
StGB) und des versuchten Betruges (§ 263 Abs. 1 und 2,
§§ 22, 23 StGB) schuldig gesprochen und auf eine
Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren erkannt. Im Rahmen des
Rechtsfolgenausspruchs hat das Landgericht zunächst
festgestellt, dass das Verfahren in einer mit rechtsstaatlichen
Grundsätzen nicht zu vereinbarenden Weise verzögert
worden sei, weil zwischen dem Eingang der Anklageschrift am 5. Oktober
2004 und dem Erlass des Eröffnungsbeschlusses am 24. Mai 2006
ein unvertretbar langer Zeitraum gelegen habe. Es hat sodann dargelegt,
dass ohne Berücksichtigung dieser
Verfahrensverzögerung zur Ahndung der besonders schweren
Brandstiftung die in § 306 b Abs. 2 StGB vorgesehene
Mindeststrafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe angemessen sei.
Da § 306 b StGB keinen Sonderstrafrahmen für minder
schwere Fälle vorsehe, sei ein Ausgleich für die
Verfahrensverzögerung innerhalb des gesetzlich
eröffneten Strafrahmens nicht möglich. Daher sei, um
dem Angeklagten die verfassungsrechtlich gebotene Kompensation
für die Verletzung des Beschleunigungsgebots zu
gewähren, eine Strafrahmenverschiebung in entsprechender
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Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB vorzunehmen. Das Landgericht
hat demgemäß den Strafrahmen des § 306 b
Abs. 2 StGB nach den Maßstäben des § 49
Abs. 1 Nr. 2 Satz 1, Nr. 3 StGB gemildert und sodann zur Kompensation
der Verfahrensverzögerung statt der an sich verwirkten
Einzelfreiheitsstrafe von fünf Jahren eine solche von drei
Jahren und zehn Monaten festgesetzt.
Für den versuchten Betrug hat es an sich eine Freiheitsstrafe
von einem Jahr für angemessen erachtet, wegen der
überlangen Verfahrensdauer jedoch auf eine solche von sechs
Monaten erkannt. Unter Erhöhung der Einsatzstrafe von drei
Jahren und zehn Monaten hat es sodann eine Gesamtfreiheitsstrafe von
vier Jahren verhängt; ohne die jeweiligen
Strafabschläge hätte es eine solche von fünf
Jahren und sechs Monaten gebildet.
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2. Diese Strafzumessung hält der 3. Strafsenat für
rechtsfehlerhaft. Er beabsichtigt, auf die Revision der
Staatsanwaltschaft das angefochtene Urteil im gesamten Strafausspruch
aufzuheben.
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a) Hierbei will er es allerdings im Ausgangspunkt nicht beanstanden,
dass das Landgericht im Hinblick auf die zwischen der Anklageerhebung
und dem Eröffnungsbeschluss verstrichene Zeit einen von der
Justiz zu verantwortenden Verstoß gegen das Gebot der
Verfahrensbeschleunigung angenommen und die sich hieraus ergebende
Verzögerung des Verfahrens - wenn auch nicht
ausdrücklich ziffernmäßig, so doch nach dem
Gesamtzusammenhang seiner Ausführungen - auf etwa ein Jahr und
sechs Monate bemessen hat. Auch sieht er keinen Verstoß gegen
Grundsätze der bisherigen Rechtsprechung dadurch
begründet, dass das Landgericht als Ausgleich für
diese Verfahrensverzögerung die für den versuchten
Betrug eigentlich als angemessen erachtete Einzelfreiheitsstrafe von
einem Jahr um die Hälfte reduziert und auf sechs Monate
festgesetzt hat. Ebensowenig liege ein revisibler Bewertungsfehler des
Landge-
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richts darin, dass dieses für das Brandstiftungsdelikt ohne
Berücksichtigung der Verzögerung auf die
Mindeststrafe von fünf Jahren erkannt hätte.
Als berechtigt erachtet der 3. Strafsenat dagegen die Rüge der
Revision, das Landgericht habe zur Gewährleistung eines
Ausgleichs für die eingetretene Verfahrensverzögerung
nicht das gesetzliche Mindestmaß der für das
Brandstiftungsdelikt angedrohten Freiheitsstrafe unterschreiten
dürfen. Die vom Landgericht vorgenommene entsprechende
Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB hält er für
rechtlich nicht zulässig. Er vertritt die Auffassung, die
gebotene Kompensati-on für den Verstoß gegen das
Beschleunigungsgebot sei insoweit vielmehr in entsprechender Anwendung
des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB in der Weise vorzunehmen, dass auf
die Mindeststrafe als angemessene Strafe zu erkennen und in der
Urteilsformel gleichzeitig auszusprechen sei, dass ein bestimmter Teil
der Strafe, der dem gebotenen Ausmaß der Kompensation
entspricht, als vollstreckt gilt (Vollstreckungslösung).
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b) Hinsichtlich der Einzelstrafe für die besonders schwere
Brandstiftung in dieser Weise zu entscheiden, sieht sich der 3.
Strafsenat weder durch Rechtsprechung anderer Strafsenate des
Bundesgerichtshofs noch durch die Judikatur des
Bundesverfassungsgerichts gehindert. Ob es möglich
wäre, aus der reduzierten Einzelstrafe für den
versuchten Betrug und einer teilweise für vollstreckt
erklärten Einzelstrafe für das Brandstiftungsdelikt
in stimmiger Weise eine Gesamtfreiheitsstrafe zu bilden, hat der 3.
Strafsenat offen gelassen. Denn er ist der Auffassung, dass die durch
vorliegende Sonderkonstellation aufgeworfenen Rechtsfragen und das von
ihm zu deren Lösung befürwortete Modell Anlass zu
einer generellen Überprüfung der bisherigen
Rechtsprechung geben. Diese Prüfung ergebe, dass sich die
Vollstreckungslösung allgemein stimmiger in das
Rechtsfolgensystem des Strafgesetzbuchs einfüge und der an
sich angemessenen Strafe die Funktion belasse, die ihr in daran
anknüpfenden Folge-
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regelungen inner- und außerhalb des Strafrechts zukomme. Er
möchte daher dieses Modell generell anwenden und
demgemäß auch den Einzelstrafausspruch wegen des
versuchten Betruges aufheben. Daher beabsichtigt er zu entscheiden:
Ist der Abschluss eines Strafverfahrens rechtsstaatswidrig derart
verzögert worden, dass dies bei der Durchsetzung des
staatlichen Strafanspruchs unter näherer Bestimmung des
Ausmaßes berücksichtigt werden muss, so ist der
Angeklagte gleichwohl zu der nach § 46 StGB angemessenen
Strafe zu verurteilen; zugleich ist in der Urteilsformel auszusprechen,
dass zur Entschädigung für die überlange
Verfahrensdauer ein bezifferter Teil der verhängten Strafe als
vollstreckt gilt.
Da hiermit eine Abkehr von einer bisher einhelligen Rechtsprechung
verbunden wäre, hat er dem Großen Senat für
Strafsachen die Rechtsfrage wegen grundsätzlicher Bedeutung
zur Fortbildung des Rechts zur Entscheidung vorgelegt (BGH NJW 2007,
3294).
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3. Der Generalbundesanwalt hat sich der Rechtsauffassung des
vorlegenden Senats angeschlossen.
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II.
Die Vorlegungsvoraussetzungen gemäß § 132
Abs. 4 GVG sind gegeben.
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Die vorgelegte Rechtsfrage ist entscheidungserheblich. Die Ansicht des
3. Strafsenats, es sei rechtlich nicht zu beanstanden, dass das
Landgericht es für erforderlich erachtet habe, die
Verzögerung des Verfahrens zwischen Anklageerhebung und
Eröffnungsbeschluss auf der Rechtsfolgenseite zugunsten
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des Angeklagten auszugleichen, und hierfür hinsichtlich des
Brandstiftungsdelikts innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens keine
hinreichende Möglichkeit gesehen habe, ist vertretbar. Auf
dieser Grundlage hängt die Revisionsentscheidung davon ab, wie
die vorgelegte Rechtsfrage zu beantworten ist. Diese hat auch
grundsätzliche Bedeutung. Verstöße der
Strafverfolgungsorgane gegen das Gebot zügiger
Verfahrenserledigung sind in zunehmendem Maße festzustellen;
die Gründe hierfür hat der Große Senat an
dieser Stelle nicht zu erörtern. Die Frage, welche Folgen aus
derartigen Verstößen zu ziehen sind, ist
regelmäßig Gegenstand tatrichterlicher und
revisionsgerichtlicher Entscheidungen. Eine einheitliche Handhabung
durch entsprechende Vorgaben der höchstrichterlichen
Rechtsprechung ist daher geboten. Vor diesem Hintergrund erstrebt die
Vorlage eine Fortbildung des Rechts; denn sie zielt auf die Festlegung
neuer Auslegungsgrundsätze, als deren Folge sich ein von der
bisherigen Handhabung abweichendes rechtliches Modell für die
Kompensation von Verstößen gegen das
Beschleunigungsgebot im Rahmen des Rechtsfolgenausspruchs
ergäbe.
III.
Der Große Senat für Strafsachen beantwortet die ihm
unterbreitete Rechtsfrage im Ergebnis im Sinne des
Vorlegungsbeschlusses.
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Zwar führt das bisher in der Rechtsprechung praktizierte
Modell, dem Angeklagten als Ausgleich für einen
rechtsstaatswidrigen Verstoß gegen das Gebot zügiger
Verfahrenserledigung einen bezifferten Abschlag auf die an sich
verwirkte Strafe zu gewähren, im Regelfall zu einer
Kompensation dieses Verstoßes, die nicht nur mit den Vorgaben
des Grundgesetzes und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und
Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (MRK), sondern auch mit dem
nationalen deutschen Straf- und Strafprozess-
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recht in Einklang steht. Jedoch stößt dieses Modell
in besonders gelagerten Fällen an gesetzliche Grenzen. Wie der
vorliegende Fall zeigt, kann die Gewährung der verfassungs-
und konventionsrechtlich gebotenen Kompensation durch Strafabschlag zu
Ergebnissen führen, die den einfachgesetzlichen Rahmen des
Strafzumessungsrechts sprengen. Hierdurch wird jedoch die
Gesetzesbindung der Gerichte (Art. 20 Abs. 3 GG) berührt, die
durch das StGB vorgegebene Grenzen der Strafenfindung zu achten haben.
Deren Überschreitung könnte aus
übergeordneten rechtlichen Gesichtspunkten nur dann
gerechtfertigt werden, wenn keine andere Möglichkeit der
Kompensation zur Verfügung stünde, die die
Grundsätze des Strafzumessungsrechts des StGB
unberührt lässt. Eine solche liegt mit der
Vollstreckungslösung indes vor. Der Große Senat
hält daher einen Wechsel zu diesem Modell für
geboten. Dies gilt auch deshalb, weil diese Form der
Entschädigung gemäß den Vorgaben der MRK,
wie sie in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte (EGMR) präzisiert worden sind, im
Gegensatz zur bisherigen Verfahrensweise in allen Fällen
rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung eine Kompensation
ermöglicht. Die Vollstreckungslösung genügt
auch den verfassungsrechtlichen Vorgaben.
Unabhängig hiervon hat die Vollstreckungslösung
gegenüber dem Strafabschlagsmodell weitere Vorzüge,
die für die Kompensation rechtsstaatswidriger
Verfahrensverzögerungen einen Systemwechsel angezeigt
erscheinen lassen. Durch die Trennung von Strafzumessung und
Entschädigung belässt sie der unrechts- und
schuldangemessenen Strafe die ihr in strafrechtlichen und
außerstrafrechtlichen Folgebestimmungen beigelegte Funktion.
Darüber hinaus vereinfacht sie die Rechtsfolgenbestimmung.
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Im Einzelnen:
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1. Weder die Strafprozessordnung noch das Strafgesetzbuch enthalten
Regelungen dazu, welche Rechtsfolgen es nach sich zieht, wenn ein
Strafverfahren aus Gründen verzögert wird, die im
Verantwortungsbereich des Staates liegen. Dies beruht auf einer
bewussten Entscheidung des Gesetzgebers. Nach dessen Auffassung war
eine gesetzliche Verankerung des Beschleunigungsgebots in der
Strafprozessordnung entbehrlich, weil bereits Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK
die Strafverfolgungsorgane hinreichend zu einer zügigen
Durchführung von Ermittlungs- und Strafverfahren verpflichte.
Der Beschleunigungsgrundsatz sei daher dem deutschen
Strafverfahrensrecht auch ohne ausdrückliche Regelung
immanent. Das in Art. 20 GG verankerte Rechtsstaatsprinzip sowie die
Pflicht zur Achtung der Menschenwürde ließen es
ebenfalls nicht zu, den Beschuldigten länger als unvermeidbar
in der Drucksituation des Strafverfahrens zu belassen. Wie der
Grundsatz zügiger Verfahrenserledigung inhaltlich
näher zu präzisieren sei und welche Folgen an seine
Verletzung anzuknüpfen seien, müsse der
Klärung durch Wissenschaft und Rechtsprechung
überlassen werden (vgl. den Entwurf der Bundesregierung vom 2.
Mai 1973 für das 1. StVRG, BT-Drucks. 7/551 S. 36 f.).
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Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK hat jede Person ein
Recht darauf, dass über eine gegen sie erhobene
strafrechtliche Anklage innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.
Hinzu tritt Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Hs. 2 MRK, wonach jede Person, die aus
Anlass eines gegen sie geführten Strafverfahrens von Festnahme
oder Freiheitsentziehung betroffen ist, Anspruch auf ein Urteil
innerhalb angemessener Frist hat; wird dieser Anspruch verletzt, so
kann sie verlangen, während des Verfahrens (aus der Haft)
entlassen zu werden. Regelungen darüber, welche sonstigen
Konsequenzen aus einer Verletzung des Rechts auf Verhandlung und Urteil
innerhalb angemessener Frist zu ziehen sind, enthält die MRK
nicht. Jedoch bestimmt Art. 13 MRK, dass jede Person, die in ihren in
der Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist,
das
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Recht hat, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde
zu erheben, auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist,
die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.
2. Vor diesem Hintergrund hat der Bundesgerichtshof zunächst
die Auffassung vertreten, die Verletzung des Anspruchs des Angeklagten
aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK auf zügige Durchführung
des gegen ihn gerichteten Strafverfahrens begründe zwar kein
Verfahrenshindernis, sei jedoch bei der Strafzumessung zu
berücksichtigen. Der Spielraum, den das Gesetz insoweit
gewähre, reiche aus, um den Belastungen, denen der Angeklagte
durch das unangemessen zögerlich geführte Verfahren
ausgesetzt gewesen sei, in hinreichender Weise Rechnung zu tragen
(BGHSt 24, 239, 242; 27, 274, 275 f.; BGH NStZ 1982, 291, 292 m. w.
N.). Dies könne in den gesetzlich vorgesehenen Fällen
bis zum Absehen von Strafe, bei Verfahren wegen Vergehen aber auch zur
deren Einstellung gemäß § 153 StPO
führen; auch ein Gnadenerweis sei in Betracht zu ziehen (BGHSt
24, 239, 242 f.).
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Danach war es ausreichend, den Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1
Satz 1 MRK als bestimmenden Strafzumessungsgrund (§ 267 Abs. 3
Satz 1 StPO) bei der Abwägung der sonstigen strafmildernden
und -schärfenden Aspekte selbständig, auch neben dem
schon für sich mildernden Umstand eines langen Zeitraums
zwischen Tat und Urteil, zu berücksichtigen (vgl. BGH NStZ
1983, 167; 1986, 217, 218; 1987, 232 f.; 1988, 552; BGHR StGB
§ 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 2).
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Diese Grundsätze hat der Bundesgerichtshof später im
Hinblick auf die Rechtsprechung des EGMR und des
Bundesverfassungsgerichts modifiziert.
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a) Der EGMR hat in seinem Urteil vom 15. Juli 1982 (E. ./.
Bundesrepublik Deutschland - EuGRZ 1983, 371 ff. m. Anm.
Kühne) in zwei gegen die
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dortigen Beschwerdeführer durchgeführten
Strafverfahren eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK durch die
deutschen Strafverfolgungsbehörden festgestellt. Hieran
anknüpfend hat er es in dem einen der beanstandeten Verfahren
nicht als hinreichenden Ausgleich zugunsten der
Beschwerdeführer erachtet, dass diesen die
Verzögerungen bei der Strafzumessung des landgerichtlichen
Urteils ausdrücklich strafmildernd zugute gehalten worden
waren; dies sei nicht geeignet, den Beschwerdeführern ihre
Opfereigenschaft im Sinne des Art. 25 MRK aF (= Art. 34 MRK nF) zu
nehmen, da das Urteil keine hinreichenden Hinweise enthalte, die eine
Überprüfung der Berücksichtigung der
Verfahrensdauer unter dem Gesichtspunkt der Konvention erlaubten (EGMR
EuGRZ 1983, 371, 381). In dem anderen Verfahren gelte das Gleiche,
soweit dieses schließ-lich gemäß
§ 154 Abs. 2 StPO eingestellt worden sei; denn der
Einstellungsbeschluss enthalte keinen Hinweis auf eine
Berücksichtigung der Verfahrensverzögerungen (aaO S.
382). Zu der Frage, wie die vermissten "Hinweise" hätten
ausgestaltet sein müssen und welche inhaltlichen Anforderungen
an die den Beschwerdeführern zu gewährende
Kompensation zu stellen gewesen wären, um den
Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK noch im Rahmen des
nationalen Rechts auszugleichen, äußert sich die
Entscheidung nicht.
b) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verletzt eine
von den Justizbehörden zu verantwortende erhebliche
Verzögerung des Strafverfahrens den Beschuldigten auch in
seinem verfassungsmäßigen Recht aus Art. 2 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie - wenn sich der Beschuldigte in
Untersuchungshaft befindet - in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2
Satz 2 GG. Ein Strafverfahren von überlanger Dauer
könne den Beschuldigten - insbesondere dann, wenn die Dauer
durch vermeidbare Verzögerungen seitens der Justizorgane
bedingt sei - zusätzlichen fühlbaren Belastungen
aussetzen, die in ihren Auswirkungen der Sanktion selbst gleich
kämen. Mit zunehmender Verzögerung des Verfahrens
gerieten sie in Widerstreit zu dem
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aus dem Rechtsstaatsgebot abgeleiteten Grundsatz, dass die Strafe
verhältnismäßig sein und in einem gerechten
Verhältnis zum Verschulden des Täters stehen
müsse (BVerfG - Kammer - NJW 1993, 3254, 3255; 1995, 1277 f.;
NStZ 2006, 680, 681 = JR 2007, 251 m. Anm. Gaede; vgl. auch BVerfG -
Kammer - NJW 1992, 2472, 2473 für das
Ordnungswidrigkeitenverfahren). So, wie der
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz allgemein
dazu anhalte, in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen, ob die
eingesetzten Mittel der Strafverfolgung und der Bestrafung unter
Berücksichtigung der davon ausgehenden
Grundrechtsbeschränkungen für den Betroffenen noch in
einem angemessenen Verhältnis zu dem dadurch erreichbaren
Rechtsgüterschutz stehen, verpflichte er im Falle eines mit
dem Rechtsstaatsprinzip nicht in Einklang stehenden überlangen
Verfahrens zur Prüfung, ob und mit welchen Mitteln der Staat
gegen den Betroffenen (noch) strafrechtlich vorgehen kann (BVerfG -
Kammer - NJW 2003, 2225; 2003, 2897; BVerfGK 2, 239, 247; vgl. BVerfG -
Kammer - NJW 2005, 3485 zum weiteren Vollzug der Untersuchungshaft).
Solange es an einer gesetzlichen Regelung fehle, seien die
verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen zunächst in
Anwendung des Straf- und Strafverfahrensrechts zu ziehen. Komme eine
angemessene Reaktion auf solche Verfahrensverzögerungen mit
vorhandenen prozessualen Mitteln (§§ 153, 153 a, 154,
154 a StPO) nicht in Frage, so sei eine sachgerechte, angemessene
Berücksichtigung im Rechtsfolgenausspruch, in den gesetzlich
vorgesehenen Fällen möglicherweise durch Absehen von
Strafe oder Verwarnung mit Strafvorbehalt, jenseits davon bei der
Strafzumessung wie auch gegebenenfalls bei der Strafaussetzung zur
Bewährung und bei der Frage der Anordnung von
Maßregeln der Besserung und Sicherung
regelmäßig verfassungsrechtlich gefordert, aber auch
ausreichend (BVerfG - Vorprüfungsausschuss - NJW 1984, 967).
Die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung müsse
sich bei der Strafzumessung auswirken, wenn sie nicht im Extrembereich
zum Vorliegen eines
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unmittelbar aus dem Rechtsstaatsgebot herzuleitenden
Verfahrenshindernisses führe. Dabei liege es schon im Hinblick
auf Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK und dessen Auslegung durch den EGMR nahe,
erscheine aber auch mit Blick auf die Bedeutung der vom
Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes geforderten
Verfahrensbeschleunigung angezeigt, dass die Fachgerichte der
Strafgerichtsbarkeit, wenn sie die gebotenen Folgen aus einer
Verfahrensverzögerung ziehen, dabei die Verletzung des
Beschleunigungsgebots ausdrücklich feststellen und das
Ausmaß der Berücksichtigung dieses Umstands
näher bestimmen (BVerfG - Vorprüfungsausschuss - NJW
1984, 967; BVerfG - Kammer - 1993, 3254, 3255; 1995, 1277 f.; 2003,
2225 f.; 2003, 2897; BVerfGK 2, 239, 247 f.).
Diese Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht dahin
präzisiert, dass es nicht genüge, die Verletzung des
Beschleunigungsgebots als eigenständigen Strafmilderungsgrund
festzustellen und zu berücksichtigen. Vielmehr sei das
Ausmaß der vorgenommenen Herabsetzung der Strafe durch
Vergleich mit der ohne Berücksichtigung der
Verzögerung angemessenen Strafe exakt zu bestimmen (BVerfG -
Kammer - NStZ 1997, 591).
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c) An diese Rechtsprechung des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts
anknüpfend haben die Strafsenate des Bundesgerichtshofs ihre
ursprüngliche Spruchpraxis geändert: Ist ein
Strafverfahren unter Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK
und rechtsstaatliche Grundsätze durch die
Strafverfolgungsorgane verzögert worden, so hat der Tatrichter
nach der neueren Rechtsprechung zunächst stets Art und
Ausmaß der Verzögerung sowie ihre Ursache konkret
festzustellen und - falls dies zum Ausgleich der vom Beschuldigten
erlittenen Belastungen nicht ausreichend ist und andere rechtliche
Folgen (Verfahrenseinstellung aus
Opportunitätsgründen oder wegen eines
Verfahrenshindernisses) nicht in Betracht kommen - in einem zweiten
Schritt das Maß der Kompensation durch Vergleich der an sich
verwirkten mit der tatsächlich verhängten
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Strafe ausdrücklich und konkret zu bestimmen (s. etwa BGHR
StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 7, 12; BGH NJW
1999, 1198, 1199; NStZ-RR 2000, 343; StV 1998, 377; 2002, 598; wistra
1997, 347; 2001, 177; 2002, 420; StraFo 2003, 247). Dies gilt bei der
Bildung einer Gesamtstrafe (§ 54 Abs. 1 StGB) nicht nur
für diese, sondern auch für alle zugrunde liegenden
Einzelstrafen, soweit das Verfahren hinsichtlich der entsprechenden
Taten verzögert worden ist (vgl. BGH NStZ 2002, 589). Der
Tatrichter hat somit in den Urteilsgründen für jede
Einzeltat zwei Strafen auszuweisen, was sich aus Gründen der
Klarheit auch für die Gesamtstrafe empfiehlt (vgl. BGH NStZ
2003, 601). In die Urteilsformel ist allein die reduzierte Strafe
aufzunehmen. In welchem Umfang sich dabei der
Konventionsverstoß auf das Verfahrensergebnis auswirken muss,
richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, namentlich
auch nach dem - durch die Belastungen des verzögerten
Verfahrens geminderten - Maß der Schuld des Angeklagten (vgl.
BGHSt 46, 159, 174; s. auch BGH NStZ 1996, 506; 1997, 543, 544; StV
2002, 598).
3. An dieser Rechtsprechung wird nicht festgehalten.
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a) Der Bundesgerichtshof hat im Hinblick auf die Gesetzesbindung der
Gerichte (Art. 20 Abs. 3 GG) stets - ausdrücklich oder
jedenfalls der Sache nach - daran festgehalten, dass die Kompensation
für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung
mit den Mitteln vorzunehmen ist, die das Straf- oder
Strafverfahrensrecht dem Rechtsanwender zur Verfügung stellen.
So kommt beispielsweise die Verfahrenseinstellung nach
§§ 153, 153 a StPO nur in Betracht, wenn sich der
Angeklagte keines Verbrechens schuldig gemacht hat (vgl. BGHSt 24, 239,
242). Ebenso ist ein Ausgleich für die
Verfahrensverzögerung durch Strafreduzierung, Verwarnung mit
Strafvorbehalt (§ 59 StGB) oder Absehen von Strafe (§
60 StGB) nur in den Grenzen zulässig, die das Strafgesetzbuch
insoweit jeweils setzt (s. BGHSt 27, 274 zu § 59 StGB). Von
der ge-
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setzlich vorgeschriebenen Verhängung der lebenslangen
Freiheitsstrafe kann aus Kompensationsgründen nicht abgesehen
werden (BGH NJW 2006, 1529, 1535; ob hiervon in extremen
Fällen Ausnahmen denkbar sind, ist dort offen gelassen
worden). All dies begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl.
BVerfG - Vorprüfungsausschuss - NJW 1984, 967; BVerfG - Kammer
- 1993, 3254, 3256; 2003, 2897, 2899; NStZ 2006, 680, 681).
In Fällen, in denen eine Kompensation nur durch eine
Unterschreitung der gesetzlichen Mindeststrafen möglich
wäre, gerät die bisher von der Rechtsprechung
angewandte Strafabschlagslösung jedoch an ihre Grenzen und
läuft Gefahr, das Rechtsfolgensystem des StGB in Frage zu
stellen. Dieser Konflikt zwischen Straf- und Strafprozessrecht auf der
einen und verfassungs- sowie konventionsrechtlichen Vorgaben auf der
anderen Seite muss in einer Weise aufgelöst werden, welche die
Bindung der Gerichte an die einfachgesetzlichen Bestimmungen des
Strafgesetzbuchs und der Strafprozessordnung so weit wie
möglich respektiert. Im Bereich der Strafzumessung bedeutet
dies, dass die gesetzliche Untergrenze der angedrohten Strafe nur dann
unterschritten werden darf, wenn keine andere Möglichkeit zur
Verfügung steht, das vom Angeklagten erlittene
Verfahrensunrecht in einer nach den Maßstäben des
Grundgesetzes und der MRK hinreichenden Weise auszugleichen.
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Diese Möglichkeit ist mit dem Vollstreckungsmodell jedoch
vorhanden, das seine rechtlichen Grundlagen in den Bestimmungen der MRK
und deren Entschädigungsprinzip findet sowie den
Rechtsgedanken des § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 2 StGB
fruchtbar macht (s. unten). Indem es die Kompensation für die
von staatlichen Stellen verursachten Verfahrensverzögerungen
in einem gesonderten Schritt nach der eigentlichen Strafzumessung
vornimmt, respektiert es im Ausgangspunkt die im Gesetz vorgegebenen
Mindeststrafen, die nach der Bewertung des Gesetzgebers auch im denkbar
mildesten Fall
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noch einen angemessenen Schuldausgleich gewährleisten (vgl.
Kutzner StV 2002, 277, 278). Gleichzeitig eröffnet es die
Möglichkeit, die gebotene Entschädigung des
Angeklagten für das von ihm erlittene Verfahrensunrecht
dennoch zu leisten. Dies gilt selbst im Falle einer lebenslangen
Freiheitsstrafe. Sollte hier ausnahmsweise eine Kompensation einmal
geboten sein (vgl. BGH NJW 2006, 1529, 1535), so könnte sie
durch Anrechnung auf die Mindestverbüßungsdauer im
Sinne des § 57a Abs. 1 Nr. 1 StGB vorgenommen werden. Die
Vollstreckungslösung erübrigt damit von vornherein
Überlegungen, ob für besondere Ausnahmefälle
ein Unterschreiten der gesetzlichen Mindeststrafe oder gar ein Absehen
von der gesetzlich vorgeschriebenen lebenslangen Freiheitsstrafe (vgl.
BGH StV 2002, 598; NJW 2006, 1529, 1535) in Betracht gezogen werden
muss, sei es in der Form eines
„Härteausgleichs“ (s. für den
Fall der nicht - mehr - möglichen Gesamtstrafenbildung BGHSt
31, 102, 104 m. Anm. Loos NStZ 1983, 260; vgl. auch BGHSt 36, 270, 275
f.), sei es durch eine Strafrahmenverschiebung in analoger Anwendung
des § 49 Abs. 1 oder 2 StGB (s. Krehl ZIS 2006, 168, 178 f.;
StV 2006, 408, 412; Hoffmann-Holland ZIS 2006, 539 f.), wie dies der
Bundesgerichtshof in Ausnahmefällen für
zulässig erachtet hat, wenn die Verhängung der von
§ 211 StGB vorgeschriebenen lebenslangen Freiheitsstrafe aus
anderen Gründen mit dem Übermaßverbot in
Widerstreit gerät (vgl. BGHSt 30, 105).
b) Die bisher praktizierte Strafabschlagslösung ist aber auch
deshalb durch das Vollstreckungsmodell zu ersetzen, weil dieses sich
inhaltlich in vollem Umfang an den Kriterien ausrichtet, die nach der
Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Art. 13, 34 MRK
für den Ausgleich rechtsstaatswidriger
Verfahrensverzögerungen maßgeblich sind.
32
aa) Die MRK ist durch das Zustimmungsgesetz (Art. 59 Abs. 2 GG) vom 7.
August 1952 (BGBl II 685; ber. 953) unmittelbar geltendes nationales
Recht
33
- 18 -
im Range eines einfachen Bundesgesetzes geworden (vgl. etwa BVerfGE 74,
358, 370; 111, 307, 323 f.; BGHSt 45, 321, 329; 46, 178, 186). Ihre
Gewährleistungen sind daher durch die deutschen Gerichte wie
anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer
Auslegung zu beachten und anzuwenden (BVerfGE 111, 307, 323). Hierbei
ist auch das Verständnis zu berücksichtigen, das sie
in der Rechtsprechung des EGMR gefunden haben. Auf dieser Grundlage ist
das nationale Recht unabhängig von dem Zeitpunkt seines
Inkrafttretens nach Möglichkeit im Einklang mit der MRK zu
interpretieren (vgl. BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 324).
Nach welchen Kriterien, in welcher Weise und in welchem Umfang eine
Verletzung des Anspruchs auf zügige Verfahrenserledigung aus
Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK zu kompensieren ist, um dem Betroffenen seine
Opferstellung im Sinne des Art. 34 MRK zu nehmen und damit den
jeweiligen Vertragsstaat vor einer Verurteilung zu bewahren, ist in der
MRK nicht geregelt und daher vom EGMR den nationalen Fachgerichten nach
Maßgabe der jeweiligen Rechtsordnung zur Entscheidung
überlassen worden (vgl. EGMR EuGRZ 1983, 371, 382 m. Anm.
Kühne; NJW 2001, 2694, 2700, Zf. 159; Pfeiffer in Festschrift
Baumann S. 329, 338; Trurnit/Schroth StraFo 2005, 358, 361). Jedoch hat
die Rechtsprechung des EGMR hierzu konkretisierende
Maßstäbe entwickelt; ihr lassen sich auch deutliche
Hinweise dazu entnehmen, welche Formen der Kompensation im Einzelfall
eine hinreichende Wiedergutmachung des Konventionsverstoßes
bewirken können.
34
Nach dem Konzept der MRK - in der Auslegung des EGMR - dient die
Kompensation für eine konventionswidrige
Verfahrensverzögerung allein dem Ausgleich eines durch die
Verletzung eines Menschenrechts entstandenen objektiven
Verfahrensunrechts (Demko HRRS 2005, 283, 295; Krehl ZIS 2006, 168,
178; StV 2006, 408, 412; vgl. Gaede wistra 2004, 166, 168; JR 2007,
35
- 19 -
254 f.). Sie ist Wiedergutmachung und soll eine Verurteilung des
jeweiligen Vertragsstaates wegen der Verletzung des Rechts aus Art. 6
Abs. 1 Satz 1 MRK verhindern (Krehl ZIS 2006, 168, 178; s. auch BGH
NStZ 1988, 552). Auf diese Wiedergutmachung hat der Betroffene
gemäß Art. 13 MRK Anspruch, wenn die
Konventionsverletzung nicht präventiv hat verhindert werden
können (vgl. EGMR NJW 2001, 2694, 2698 ff., insbes. Zf. 159;
Demko HRRS 2005, 403 ff.; Gaede wistra 2004, 166, 171; JR 2007, 254;
Meyer-Ladewig MRK 2. Aufl. Art. 13 Rdn. 10, 22). Ist sie geleistet, so
entfällt die Opfereigenschaft des Betroffenen im Sinne des
Art. 34 MRK (vgl. EGMR StV 2006, 474, 477 f., Zf. 83). Das Gewicht der
Tat und das Maß der Schuld sind dabei als solche weder
für die Frage relevant, ob das Verfahren rechtsstaatswidrig
verzögert worden ist (zu den maßgeblichen Kriterien
in der Rechtsprechung des EGMR s. Kühne StV 2001, 529, 530 f.
m. Nachw.; Demko HRRS 2005, 283, 289 ff.), noch spielen diese
Umstände für Art und Umfang der zu
gewährenden Kompensation eine Rolle (Demko HRRS 2005, 283, 294
f.; Krehl ZIS 2006, 168, 178; StV 2006, 408, 412; vgl. auch Kutzner StV
2002, 277, 283). Diese ist vielmehr allein an der Intensität
der Beeinträchtigung des subjektiven Rechts des Betroffenen
aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK auszurichten. Durch die Kompensation wird
danach eine Art Staatshaftungsanspruch erfüllt, der dem von
einem überlangen Strafverfahren betroffenen Angeklagten in
gleicher Weise erwachsen kann wie der Partei eines vom Gericht
schleppend geführten Zivilprozesses oder einem
Bürger, der an einem verzögerten
Verwaltungsrechtsstreit beteiligt ist. Dieser Anspruch entsteht auch
dann, wenn der Angeklagte freigesprochen wird. Ein unmittelbarer Bezug
zu dem vom Angeklagten schuldhaft verwirklichten Unrecht oder sonstigen
Strafzumessungskriterien besteht daher nicht.
Die Kompensation durch Gewährung eines bezifferten Abschlags
auf die an sich verwirkte Strafe knüpft somit nach den
Maßstäben der MRK im Ausgangspunkt an ein eher
sachfernes Bewertungskriterium an, mag sie auch im
36
- 20 -
Großteil der Fälle dazu führen, dass der
gebotene Ausgleich geschaffen wird und damit die Opferstellung des
Angeklagten entfällt. Demgegenüber koppelt das
Vollstreckungsmodell den Ausgleich für das erlittene
Verfahrensunrecht von vornherein von Fragen des Unrechts, der Schuld
und der Strafhöhe ab. Damit entspricht es nicht nur den
Vorgaben der MRK, sondern es vermeidet gleichzeitig die Komplikationen,
die sich für die Strafabschlagslösung aus der Bindung
des Gerichts an die gesetzlich vorgegebenen Strafuntergrenzen ergeben
(s. oben a).
bb) Die Vollstreckungslösung genügt auch den
inhaltlichen und formellen Anforderungen, die die Art. 13, 34 MRK an
eine hinreichende Kompensation stellen.
37
Nach der Rechtsprechung des EGMR verlangt ein angemessener Ausgleich
zumindest die ausdrückliche oder jedenfalls
sinngemäße Anerkennung des
Konventionsverstoßes. Diese kann je nach den
Umständen als Kompensation hinreichen; denn der EGMR hat in
etlichen Fällen, in denen erst er selbst den Verstoß
eines Mitgliedstaats gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK
ausdrücklich festgestellt hat, diese Feststellung als
Ausgleich genügen lassen und dem Betroffenen keine
Geldentschädigung nach Art. 41 MRK für immaterielle
Einbußen zugesprochen (vgl. EGMR NJW 1984, 2749, 2751 -
Verwaltungsrechtsstreit; 2001, 213, 214 - Zivilrechtsstreit; StV 2005,
475, 477 m. Anm. Pauly - Strafverfahren). Dies legt es nahe, dass aus
der Sicht des EGMR insoweit - das heißt ohne
Berücksichtigung etwaiger materieller Schäden - die
Opferstellung des Betroffenen bereits durch die nationalen Gerichte
aufgehoben worden wäre, wenn sie die entsprechende
Feststellung selbst getroffen hätten.
38
- 21 -
Der EGMR hat weiterhin deutlich gemacht, dass die "innerstaatlichen
Behörden" durch eine eindeutige und messbare Minderung der
Strafe angemessene Wiedergutmachung leisten können (s. - je m.
w. Nachw. - EGMR StV 2006, 474, 479 m. Anm. Pauly; Urteil vom 26.
Oktober 2006 - Nr. 65655/01, Zf. 24, juris). Dies gelte auch, soweit
eine Verletzung des Art. 5 Abs. 3 MRK auszugleichen sei; jedoch
müsse dieser Verstoß gesondert anerkannt werden und
zu einer selbständigen messbaren Strafmilderung
führen (vgl. EGMR StV 2006, 474, 478 m. Anm. Pauly).
39
Zu Weiterem verhält sich der EGMR nicht näher. Nach
den in seinen Entscheidungen entwickelten Maßstäben
sind aber auch die in der deutschen Rechtsprechung neben der
Strafreduktion in Betracht gezogenen Konsequenzen (Annahme eines
Verfahrenshindernisses, Strafaussetzung zur Bewährung, Absehen
von Maßregeln der Besserung und Sicherung, völlige
oder teilweise Verfahrenseinstellung nach strafprozessualen
Opportunitätsgrundsätzen) je nach den
Umständen erkennbar als hinreichende Wiedergutmachung
tauglich. Notwendig ist lediglich der ausdrückliche Hinweis,
dass die jeweilige Maßnahme des materiellen oder prozessualen
Rechts gerade zur Kompensation des Verstoßes gegen das
Beschleunigungsgebot getroffen worden ist (vgl. zu § 154 StPO:
EGMR EuGRZ 1983, 371, 382).
40
Nicht ausgeschlossen ist nach den Vorgaben des EGMR auch eine
Wiedergutmachung durch Zahlung einer Geldentschädigung (s.
dazu etwa Kühne EuGRZ 1983, 392, 383; Scheffler, Die
überlange Dauer von Strafverfahren S. 267 ff.; Wohlers JR
1994, 138, 142 f.; Kraatz JR 2006, 403, 407 ff.). Die Rechtsordnungen
anderer Vertragsstaaten der MRK enthalten hierzu ausdrückliche
Regelungen (etwa Spanien: s. näher Paeffgen StV 2007, 487,
494; Italien: s. näher Ress in Festschrift
Müller-Dietz S. 627, 628; Frankreich: s. Kraatz JR 2006, 2003,
2006). Mit den einschlägigen Vorschriften des
französischen
41
- 22 -
Rechts hat der EGMR sich bereits mit Blick auf Art. 13 MRK befasst. Er
hat dabei eine derartige Form der Wiedergutmachung nicht generell
für unzureichend erachtet. Er hat es vielmehr nur nicht
für hinreichend belegt angesehen, dass die Bestimmungen nach
ihrer inhaltlichen Ausgestaltung und ihrer konkreten Handhabung in dem
zu beurteilenden Fall ein wirksames innerstaatliches Rechtsmittel im
Sinne des Art. 13 MRK zur Erlangung einer angemessenen
Entschädigung darstellen (Entscheidung vom 26. März
2002, Nr. 48215/99, Zf. 20; s. Kraatz aaO). Das deutsche Recht
enthält demgegenüber keine Regelungen, die es den
Strafgerichten ermöglichten, eine Geldentschädigung
zuzuerkennen. Die Bestimmungen des StrEG können nicht
entsprechend herangezogen werden; sie haben abschließenden
Charakter. Eine entsprechende Anwendung des § 465 Abs. 2 StPO
gäbe keinen ausreichenden Entscheidungsspielraum. Es
wäre Sache des Gesetzgebers, eine eindeutige rechtliche
Grundlage zu schaffen.
Es kann nicht zweifelhaft sein, dass nach den genannten Kriterien auch
das Modell, einen angemessenen Teil der Strafe als vollstreckt
anzurechnen, den Anforderungen an eine ausreichende
Entschädigung gerecht wird. Es zieht neben dem
Entschädigungsprinzip der MRK auch den Rechtsgedanken des
§ 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 2 StGB heran; denn
ähnlich wie bei der Untersuchungshaft handelt es sich bei den
Belastungen, denen der Angeklagte durch die rechtsstaatswidrige
Verzögerung des Verfahrens ausgesetzt ist, in erster Linie um
immaterielle Nachteile, die allein in der Durchführung des
Verfahrens wurzeln. Dies rechtfertigt es, diese Nachteile
ähnlich wie die Auswirkungen der Untersuchungshaft durch
Anrechnung auf die Strafe auszugleichen (vgl. Kraatz JR 2006, 204, 206;
s. auch Theune in LK 12. Aufl. § 46 Rdn. 244; zu § 60
StGB: Jeschek/Weigend, StGB AT 5. Aufl. S. 863; dazu auch Scheffler,
Die überlange Dauer von Strafverfahren, S. 224 ff.). Die
Kompensation ist jedoch auch nach dem Vollstreckungsmodell bereits im
Erkenntnisverfahren vorzu-
42
- 23 -
nehmen. Sie kann nicht den Strafvollstreckungsbehörden
überlassen werden; denn da die Entschädigung nicht
durch schematische Anrechnung der jeweiligen Verzögerungsdauer
auf die Strafe vorzunehmen, sondern aufgrund einer wertenden
Betrachtung der maßgeblichen Umstände des
Einzelfalls zu bemessen ist (s. unten IV. 1.), muss sie dem Tatrichter
vorbehalten bleiben, dem schon die Feststellung dieser
Umstände obliegt (vgl. § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB).
4. Neben all dem sprechen weitere gewichtige Gründe
für einen Übergang vom Strafabschlags- auf das
Vollstreckungsmodell.
43
a) Da die im Wege der Anrechnung vorgenommene Kompensation einen an dem
Entschädigungsgedanken orientierten eigenen rechtlichen Weg
neben der Strafzumessung im engeren Sinn darstellt, behält die
nach den Maßstäben des § 46 StGB
zugemessene und im Urteilstenor auszusprechende Strafe die Funktion,
die ihr in anderen strafrechtlichen Bestimmungen, aber auch in
außerstrafrechtlichen Regelungen zugewiesen ist. So bleibt -
wie nach der gesetzlichen Konzeption des StGB vorgesehen - die dem
Unrecht und der Schuld angemessene und nicht eine aus
Entschädigungsgründen reduzierte Strafe
maßgeblich etwa für die Fragen, ob und
gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Strafe zur
Bewährung ausgesetzt werden kann (§ 56 Abs. 1 bis 3
StGB), ob die formellen Voraussetzungen für die
Verhängung der Sicherungsverwahrung (§ 66 Abs. 1 bis
3 StGB), deren Vorbehalt (§ 66 a Abs. 1 StGB) oder deren
nachträgliche Anordnung (§ 66 b StGB)
erfüllt sind, ob der Verlust der Amtsfähigkeit, der
Wählbarkeit und des Stimmrechts eintritt (§ 45 StGB),
ob Führungsaufsicht angeordnet werden kann (§ 68 Abs.
1 StGB), ob Verwarnung mit Strafvorbehalt in Betracht kommt (§
59 Abs. 1 StGB) oder ob von Strafe abgesehen werden kann (§ 60
StGB) und wann Vollstreckungsverjährung eintritt (§
79 StGB). Darüber hinaus behält sie die Bedeutung,
die ihr in beamtenrechtlichen (§ 24 BRRG; für Richter
s. § 24 DRiG) und ausländerrechtlichen
(§§ 53,
44
- 24 -
54 AufenthG) Folgeregelungen beigelegt wird, sowie auch für
die Tilgungsfristen nach dem BZRG (s. etwa § 46 BZRG) oder die
Eintragungsvoraussetzungen in das Gewerbezentralregister (§
149 Abs. 2 Nr. 4 GewO).
Hierdurch wird der überlangen Verfahrensdauer andererseits
jedoch nicht ihre Bedeutung als Strafzumessungsgrund genommen. Sie
bleibt als solcher zunächst bedeutsam deswegen, weil allein
schon durch einen besonders langen Zeitraum, der zwischen der Tat und
dem Urteil liegt, das Strafbedürfnis allgemein abnimmt. Sie
behält - unbeschadet der insoweit zutreffenden dogmatischen
Einordnung (zum Meinungsstreit s. Paeffgen StV 2007, 487, 490 Fn. 27) -
ihre Relevanz aber gerade auch wegen der konkreten Belastungen, die
für den Angeklagten mit dem gegen ihn geführten
Verfahren verbunden sind und die sich generell um so stärker
mildernd auswirken, je mehr Zeit zwischen dem Zeitpunkt, in dem er von
den gegen ihn laufenden Ermittlungen erfährt, und dem
Verfahrensabschluss verstreicht; diese sind bei der Straffindung
unabhängig davon zu berücksichtigen, ob die
Verfahrensdauer durch eine rechtsstaatswidrige Verzögerung
mitbedingt ist (vgl. BGH NJW 1999, 1198; NStZ 1988, 552; 1992, 229,
230; NStZ-RR 1998, 108). Lediglich der hiermit zwar faktisch eng
verschränkte, rechtlich jedoch gesondert zu bewertende und zu
entschädigende Gesichtspunkt, dass eine überlange
Verfahrensdauer (teilweise) auf einem konventions- und
rechtsstaatswidrigen Verhalten der Strafverfolgungsbehörden
beruht, wird aus dem Vorgang der Strafzumessung, dem er wesensfremd
ist, herausgelöst und durch die bezifferte Anrechnung auf die
im Sinne des § 46 StGB angemessene Strafe gesondert
ausgeglichen.
45
b) Durch den Übergang zur Vollstreckungslösung wird
die Strafenbildung von der Notwendigkeit befreit, einen einzelnen
Zumessungsaspekt in mathematisierender Weise durch bezifferten
Strafabschlag - gegebenenfalls gesondert für Einzelstrafen und
Gesamtstrafe - auszuweisen. Gerade diese rechnerische
46
- 25 -
Vorgehensweise ist zu Recht kritisiert worden (Schäfer, Praxis
der Strafzumessung 3. Aufl. Rdn. 443; ders. in Festschrift Tondorf S.
351, 357 f.; s. auch Gaede JR 2007, 254, 256). Selbst in Entscheidungen
des Bundesgerichtshofs ist sie als Fremdkörper in der
Strafzumessung (BGH NStZ-RR 2006, 201, 202) sowie systemwidrig (BGH
NStZ 2005, 465, 466) bezeichnet und es ist für
wünschenswert erachtet worden, diese - ansonsten als rechtlich
verfehlt erachtete (BGH NStZ-RR 1999, 101, 102; 2000, 43; 2006, 270,
271; NStZ 2007, 28) - Mathematisierung der Strafenfindung zu
überdenken (BGH, Beschl. v. 23. Juni 2006 - 1 ARs 5/04; BGH
wistra 2004, 470).
Zwar kann die durch Anrechung vorgenommene Kompensation den
Rechtsfolgenausspruch - schon wegen der entsprechenden Vorgaben des
EGMR und des Bundesverfassungsgerichts - nicht von jeder
Mathematisierung freihalten. Jedoch verlagert sie durch ihre Anlehnung
an § 51 StGB die Bezifferung der Entschädigung
zumindest in einen Bereich, der schon nach der gesetzlichen Konzeption
derartigen Berechnungen offen steht und in diesem Rahmen auch eine
zahlenmäßige Bewertung verfahrensbedingt erlittener
Nachteile kennt (vgl. § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB). Die
eigentliche Strafzumessung wird demgegenüber nicht mehr mit
ihr wesensfremden Anforderungen belastet. Dies ist insbesondere auch
deswegen bedeutsam, weil es nach der neueren Rechtsprechung des EGMR
(StV 2006, 474, 478 m. Anm. Pauly) notwendig werden kann,
künftig den durch eine rechtsstaatswidrige
Verfahrensverzögerung bewirkten Verstoß gegen Art. 5
Abs. 3 MRK neben demjenigen gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK gesondert zu
kompensieren; dies würde nach dem Strafabschlagsmodell in
letzter Konsequenz dazu führen, dass die Strafzumessung mit
zwei Rechenwerken befrachtet werden müßte, im Falle
einer Gesamtstrafenbildung auch noch gesondert für jede
Einzelstrafe und - unter Vermeidung einer Doppelkompensation -
für die Gesamtstrafe.
47
- 26 -
Demgegenüber knüpft das Vollstreckungsmodell die
Kompensation ausschließlich an die - für die
Vollstreckung allein relevante - Gesamtstrafe an und vereinfacht
hierdurch die Rechtsfolgenentscheidung erheblich.
48
5. Die Kompensation durch Anrechnung steht nicht in Widerspruch zu
verfassungsrechtlichen Vorgaben. Allerdings findet sich auch in
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Aussage, dass die
Belastungen, denen der Angeklagte durch eine rechtsstaatswidrige
Verfahrensverzögerung ausgesetzt ist, den aus der
Verwirklichung des Straftatbestandes abzuleitenden Unrechtsgehalt
abmilderten, der dem Angeklagten als Tatschuld angelastet werde, und
daher „grundsätzlich“ als
Strafmilderungsgrund bei der Strafzumessung zu berücksichtigen
seien (s. insb. BVerfG - Kammer - NStZ 2006, 680, 681; vgl. auch
BVerfGK 2, 239, 247). Dem kann jedoch nicht entnommen werden, dass die
nach der Rechtsprechung des EGMR gebotene Entschädigung des
Angeklagten nach den Vorgaben des Grundgesetzes
ausschließlich in der Form einer - zusätzlichen -
bezifferten Strafmilderung zulässig wäre (vgl.
dagegen I. Roxin StV 2008, 14, 16). Anliegen des
Bundesverfassungsgerichts ist es nicht, eine bestimmte dogmatische
Sichtweise des einfachgesetzlichen Rechts über die unrechts-
und schuldmildernde Wirkung rechtsstaatswidrig verursachter
Verfahrenshärten als verfassungsrechtlich allein
zulässige festzuschreiben. Ebensowenig will es ersichtlich ein
bestimmtes Modell der konventionsrechtlich geforderten Kompensation zum
verfassungsrechtlich allein statthaften erklären. Vielmehr
geht es dem Bundesverfassungsgericht, wie sich seinen
einschlägigen Entscheidungen deutlich entnehmen
lässt, allein um die Beachtung des in der Verfassung
verankerten Übermaßverbots. In welcher Form die
Einhaltung des Grundsatzes der
Verhältnismäßigkeit bei der Durchsetzung
des staatlichen Strafanspruchs durch die Fachgerichte in Anwendung des
Straf- oder Strafprozessrechts gewährleistet wird, ist
demgegenüber in der Verfassung nicht vorgegeben. Anders
wäre es auch kaum erklärbar, dass das
Bundesverfassungs-
49
- 27 -
gericht eine kompensierende Berücksichtigung einer
rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung auch bei der
Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung
oder die Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung
für möglich erachtet. Wird dem Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit bei Durchsetzung des
staatlichen Strafanspruchs in der Weise Rechnung getragen, dass die
Belastungen, denen der Angeklagte durch das überlange
Verfahren ausgesetzt war, zunächst allgemein mildernd in die
Strafzumessung einfließen und sodann der besondere Aspekt,
dass sie (teilweise) auf rechtsstaatswidrige Verzögerungen
seitens der Strafverfolgungsbehörden
zurückzuführen sind, im Urteil dadurch
Berücksichtigung findet, dass als Entschädigung
hierfür ein Teil der Strafe als bereits vollstreckt gilt, so
ist damit in gleicher Weise dem verfassungsrechtlichen
Übermaßverbot Genüge getan wie durch die
bezifferte Reduzierung der Strafe.
6. Die Vollstreckungslösung kann nicht nur - sachgerechte -
gesetzliche Folgen haben, die sich im Vergleich zur
Strafabschlagslösung zum Nachteil des Angeklagten auswirken
(s. 4. a), sondern auch solche, die ihm zum Vorteil gereichen; denn
durch die Anrechnung werden bei der Strafzeitberechnung die Halbstrafe
und der Zwei-Drittel-Zeitpunkt regelmäßig schneller
erreicht, so dass es früher als bisher möglich ist,
einen Strafrest zur Bewährung auszusetzen (§ 57 Abs.
1, 2 und 4 StGB). Auch dies ist eine systemgerechte Konsequenz des
neuen Modells.
50
Wird die Freiheitsstrafe, die zur Wiedergutmachung teilweise als
vollstreckt erklärt wird, von vornherein zur
Bewährung ausgesetzt, so ergeben sich keine
grundsätzlichen Unterschiede zur bisherigen Rechtslage. Nach
beiden Kompensationsmodellen wird die Entschädigung faktisch
erst dann wirksam, wenn die Strafe nach einem
Bewährungswiderruf vollstreckt werden muss. Allerdings ist es
nicht ausgeschlossen, die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzö-
51
- 28 -
gerung neben der Anrechnung auf die Strafe aktuell wirksam auch dadurch
auszugleichen, dass im Bewährungsbeschluss
ausdrücklich auf Auflagen im Sinne des § 56b Abs. 2
Nr. 2 bis 4 StGB verzichtet wird.
Auch sonst ergeben sich durch die Vollstreckungslösung keine
bedeutsamen Unterschiede: Kommt nur die Verhängung einer
Geldstrafe in Betracht, so ist diese wegen der rechtsstaatswidrigen
Verfahrensverzögerung nicht mehr um einen bezifferten Abschlag
zu ermäßigen, sondern die schuldangemessene
Geldstrafe in der Urteilsformel auszusprechen und zugleich
festzusetzen, dass ein bezifferter Teil der zugemessenen
Tagessätze als bereits vollstreckt gilt. In Fällen,
in denen das gebotene Maß der Kompensation die
schuldangemessene (Einzel-)Strafe erreicht oder übersteigt,
ist - wie bisher - die Anwendung der §§ 59, 60 StGB
oder die (teilweise) Einstellung des Verfahrens nach
Opportunitätsgrundsätzen zu erwägen
(§§ 153, 153a, 154, 154a StPO); gegebenenfalls ist zu
prüfen, ob ein aus der Verfassung abzuleitendes
Verfahrenshindernis der Fortsetzung des Verfahrens entgegensteht.
52
Die im Bereich des Jugendstrafrechts bestehenden besonderen Probleme
werden durch das Vollstreckungsmodell weder beseitigt noch
verstärkt. Während sich bisher die Frage stellte, ob
von der aus Erziehungsgründen erforderlichen Strafe zur
Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung
ein bezifferter Abschlag vorgenommen werden darf (vgl. BGHR MRK Art. 6
Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 15), ist nunmehr danach zu
fragen, ob es dem Erziehungsgedanken widerstreitet, einen Teil der
Strafe als Entschädigung für vollstreckt zu
erklären (s. § 52a JGG, ferner § 88 JGG mit
größerer Flexibilität für die
Reststrafenaussetzung).
53
- 29 -
IV.
Die Strafgerichte haben die erforderliche Kompensation einer
rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nach dem
Vollstreckungsmodell somit an folgenden Grundsätzen
auszurichten:
54
1. Wie bisher sind zunächst Art und Ausmaß der
Verzögerung sowie ihre Ursachen zu ermitteln und im Urteil
konkret festzustellen. Diese Feststellung dient zunächst als
Grundlage für die Strafzumessung. Der Tatrichter hat insofern
in wertender Betrachtung zu entscheiden, ob und in welchem Umfang der
zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil sowie die besonderen
Belastungen, denen der Angeklagte wegen der überlangen
Verfahrensdauer ausgesetzt war, bei der Straffestsetzung in den Grenzen
des gesetzlich eröffneten Strafrahmens mildernd zu
berücksichtigen sind. Die entsprechenden Erörterungen
sind als bestimmende Zumessungsfaktoren in den Urteilsgründen
kenntlich zu machen (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO); einer
Bezifferung des Maßes der Strafmilderung bedarf es nicht.
55
Hieran anschließend ist zu prüfen, ob vor diesem
Hintergrund zur Kompensation die ausdrückliche Feststellung
der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung
genügt; ist dies der Fall, so muss diese Feststellung in den
Urteilsgründen klar hervortreten. Reicht sie dagegen als
Entschädigung nicht aus, so hat das Gericht festzulegen,
welcher bezifferte Teil der Strafe zur Kompensation der
Verzögerung als vollstreckt gilt. Allgemeine Kriterien
für diese Festlegung lassen sich nicht aufstellen;
entscheidend sind stets die Umstände des Einzelfalls, wie der
Umfang der staatlich zu verantwortenden Verzögerung, das
Maß des Fehlverhaltens der Strafverfolgungsorgane sowie die
Auswirkungen all dessen auf den Angeklagten. Jedoch muss es stets im
Auge behalten werden, wenn die Verfahrensdauer als solche sowie die
hiermit verbundenen Belastun-
56
- 30 -
gen des Angeklagten bereits mildernd in die Strafbemessung eingeflossen
sind und es daher in diesem Punkt der Rechtsfolgenbestimmung nur noch
um einen Ausgleich für die rechtsstaatswidrige Verursachung
dieser Umstände geht. Dies schließt es aus, etwa den
Anrechnungsmaßstab des § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB
heranzuziehen und das Maß der Anrechnung mit dem Umfang der
Verzögerung gleichzusetzen; vielmehr wird sich die Anrechnung
häufig auf einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu
beschränken haben.
In die Urteilsformel ist die nach den Kriterien des § 46 StGB
zugemessene Strafe aufzunehmen; gleichzeitig ist dort auszusprechen,
welcher bezifferte Teil dieser Strafe als Entschädigung
für die überlange Verfahrensdauer als vollstreckt
gilt.
57
2. Stehen mehrere Straftaten des Angeklagten zur Aburteilung an, so ist
- wie bisher - zunächst zu prüfen, ob und in welchem
Umfang das Verfahren bei der Verfolgung aller dieser Delikte
rechtsstaatswidrig verzögert worden ist; gegebenenfalls sind
insoweit differenzierte Feststellungen zu treffen und der Abstand
zwischen Tatzeitpunkt und Urteil sowie die Belastungen des Angeklagten
durch die Verfahrensdauer nur bei einigen der festzusetzenden
Einzelstrafen mildernd zu berücksichtigen. Allein auf die
durch Zusammenfassung der Einzelstrafen gebildete und in der
Urteilsformel ausgesprochene Gesamtstrafe ist die Anrechnung
vorzunehmen, indem ein bezifferter Teil hiervon im Wege der
Kompensation für vollstreckt erklärt wird; denn
allein die Gesamtstrafe ist Grundlage der Vollstreckung.
58
Wird die Gesamtstrafe nachträglich aufgelöst, so hat
das Gericht, das unter Einbeziehung der dieser zugrunde liegenden
Einzelstrafen eine neue Gesamtstrafe zu bilden hat, auch festzusetzen,
welcher bezifferte Teil dieser neuen Gesamtstrafe aus
Kompensationsgründen als vollstreckt anzurechnen ist.
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Hierdurch darf der, wie rechtskräftig festgestellt, von einer
rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung betroffene
Verurteilte nicht nachträglich schlechter gestellt werden
(vgl. § 51 Abs. 2 StGB). Dies gilt entsprechend, wenn die
Einzelstrafen des ursprünglichen Urteils in mehrere neu zu
bildende Gesamtstrafen einzubeziehen sind. Das zur Entscheidung
berufene Gericht hat dann festzulegen, in welchem Umfang die neu
auszusprechenden Gesamtstrafen anteilig als vollstreckt gelten. Dabei
hat es sich daran zu orientieren, in welchem Umfang in die jeweilige
neue Gesamtstrafe Einzelstrafen einfließen, die
ursprünglich nach einem rechtsstaatswidrig
verzögerten Verfahren festgesetzt worden waren. In der Summe
dürfen die für vollstreckt erklärten Teile
der neuen Gesamtstrafen nicht hinter der ursprünglich
ausgesprochenen Anrechnung zurückbleiben.
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