BGH,
Beschl. v. 18.12.2001 - 1 StR 268/01
StPO §§ 395 ff, 414 ff
Nebenklage ist auch im Sicherungsverfahren zulässig (Aufgabe
der bisherigen Rechtsprechung).
BGH, Beschluß vom 18. Dezember 2001 - 1 StR 268/01 - LG -
SchwG Rottweil
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
1 StR 268/01
vom
18. Dezember 2001
in dem Sicherungsverfahren gegen
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat am 18. Dezember 2001
beschlossen:
1. Der Antrag des Beschuldigten, ihm zur weiteren Begründung
der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Rottweil vom 2. Oktober
2000 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wird
zurückgewiesen.
2. Die Revision des Beschuldigten gegen das vorbezeichnete Urteil wird
verworfen. Der Beschuldigte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die
dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen
Auslagen zu tragen.
Gründe:
I.
1. Der Beschuldigte hat in wahnbedingt schuldunfähigem Zustand
versucht, den Geschädigten mit einem Messer zu töten.
Das Landgericht hat deshalb im Sicherungsverfahren
(§§ 413 ff. StPO) seine Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus angeordnet (§ 63 StGB).
2. Die Revision des Beschuldigten ist mit Schriftsatz des Verteidigers
Rechtsanwalt K. vom 4. Dezember 2000 form- und fristgerecht auf die
allgemeine Sachrüge gestützt. Mit Schriftsatz vom 21.
Februar 2001 hat sich Rechtsanwalt S. als weiterer Verteidiger gemeldet
und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Nachholung einer von
Rechtsanwalt K. nicht angebrachten Verfahrensrüge beantragt.
Diese ist darauf gestützt, daß der
Geschädigte als Nebenkläger und als dessen Vertreter
ein Rechtsanwalt an der Hauptverhandlung teilgenommen haben.
Während das Landgericht durch Beschluß vom 12.
September 2000 einen entsprechenden Antrag zurückgewiesen
hatte, hatte das Oberlandesgericht Stuttgart auf die Beschwerde des
Geschädigten diesen Beschluß aufgehoben und den
Geschädigten als Nebenkläger zugelassen
(Beschluß vom 29. September 2000 = Justiz 2001, 33).
3. Die Revision ist mit der Sachrüge rechtzeitig und
ordnungsgemäß begründet worden. Der
Beschuldigte hat daher keine Frist versäumt. Für eine
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Nachholung einer zuvor nicht
angebrachten Verfahrensrüge ist regelmäßig
kein Raum (st. Rspr., vgl. zusammenfassend
Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 45. Aufl. § 44 Rdn. 7
m.w.N.); eine Fallgestaltung, bei der ausnahmsweise etwas anderes
gelten könnte (vgl. hierzu aaO Rdn. 7a m.w.N.), liegt nicht
vor.
4. Die auf Grund der Sachrüge gebotene
Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum
Nachteil des Beschuldigten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).
II.
Vor der Kostenentscheidung hatte der Senat von Amts wegen die
Berechtigung zum Anschluß der Nebenklage zu
überprüfen (BGH b. Kusch NStZ 1997, 74; Franke in KK
4. Aufl. § 473 Rdn. 9); an den Beschluß, durch den
der Geschädigte als Nebenkläger zugelassen wurde
(vgl. oben I 2.), ist der Senat dabei nicht gebunden (BGH,
Beschluß vom 31. Juli 1985 - 2 StR 352/85; BayObLGSt 71, 56,
58). Wäre der Geschädigte zu Unrecht als
Nebenkläger zugelassen worden, könnten dem
Beschuldigten die notwendigen Auslagen des Nebenklägers nicht
auferlegt werden (BayObLGSt aaO).
Der Senat hat dem Beschuldigten die durch sein erfolgloses Rechtsmittel
dem Nebenkläger entstandenen notwendigen Auslagen auferlegt
(§ 473 Abs. 1 Satz 2 StPO), da Nebenklage auch im
Sicherungsverfahren zulässig ist (§ 414 Abs. 1 StPO,
hier i.V.m. § 395 Abs. 1 Nr. 2 StPO).
1. a) Der Bundesgerichtshof geht bisher von der Unzulässigkeit
der Nebenklage im Sicherungsverfahren aus, da die Nebenklage "ihrem
Wesen nach" auf die Bestrafung des Täters abziele (NJW 1974,
2244 m. N. älterer Rechtsprechung). An dieser Rechtsprechung
hat sich auch durch das Opferschutzgesetz vom 18. Dezember 1986 (BGBl I
2496) im Ergebnis nichts geändert (vgl. nur NStZ 1999, 312).
Begründet ist dies damit, daß der Gesetzgeber in
Kenntnis der langjährigen Rechtsprechung die
Zulässigkeit der Nebenklage im Sicherungsverfahren weder im
Opferschutzgesetz noch bei einer nachfolgenden Änderung von
§§ 395 ff. StPO festgeschrieben habe.
b) Allerdings hat der Bundesgerichtshof bereits in NJW 1974, 2244 schon
"einige Bedenken" gegen das gefundene Ergebnis
geäußert. Auch in der Folgezeit ist in einigen - vor
und nach dem Inkrafttreten des Opferschutzgesetzes ergangenen
Entscheidungen - die Frage nach der Zulässigkeit der
Nebenklage im Sicherungsverfahren ausdrücklich offen gelassen
worden, wobei "beachtliche Gründe" für eine
Änderung der bisherigen Rechtsprechung anerkannt wurden (NStZ
1996, 244; vgl. auch Beschlüsse vom 3. Mai 1983 - 4 StR 107/83
und 24. September 1997 - 2 StR 452/97). Darüber hinaus war in
einem Strafverfahren, in dem der Angeklagte wegen
Schuldunfähigkeit freigesprochen worden war, die Revision des
Nebenklägers für zulässig erklärt
worden, die sich ausdrücklich nicht gegen den Freispruch
wendete und allein die Unterbringung des Angeklagten
gemäß § 63 StGB erstrebte (NStZ 1995, 609).
2. Der Senat hat gemäß § 132 Abs. 3 GVG
einen Anfragebeschluß an die anderen Strafsenate des
Bundesgerichtshofes gerichtet, in dem er die bisherige Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofes ebenso im einzelnen dargelegt hat, wie die
Rechtsprechung der Oberlandesgerichte und Landgerichte und den
gegenwärtigen Meinungsstand in der Literatur, wo jeweils
überwiegend die Zulässigkeit der Nebenklage im
Sicherungsverfahren bejaht wird (NJW 2001, 3489 ff.). Hierauf nimmt der
Senat Bezug.
Das Anfrageverfahren hat ergeben, daß kein Strafsenat des
Bundesgerichtshofes an der bisherigen Rechtsprechung festhält.
Der Senat kann daher wie beabsichtigt entscheiden, ohne daß
die Sache dem Großen Senat für Strafsachen vorgelegt
werden müßte (BGHSt 43, 66, 76 m.w.N.).
3. Die Bejahung der Zulässigkeit der Nebenklage auch im
Sicherungsverfahren folgt aus den Grundgedanken des Opferschutzgesetzes
vom 18. Dezember 1986 (BGBl I 2496).
a) Generelles Ziel dieses Gesetzes ist es, den Opfern bestimmter
schwerer Straftaten eine "gesicherte Beteiligungsbefugnis" und eine
"Verbesserung des Schutzes vor Beeinträchtigungen durch das
Verfahren selbst" zu verschaffen (BTDrucks. 10/5305 S. I).
Dementsprechend werde auch das Recht der Nebenklage weitgehend
umgestaltet, wobei "Maßstab" hierfür war, die
"spezifischen, vorrangig auf Schutz vor Verantwortungszuweisungen durch
den Beschuldigten gerichteten Bedürfnissen des Verletzten" zu
berücksichtigen (aaO S. 9, 11).
Gemäß § 414 Abs. 1 StPO gelten für
das Sicherungsverfahren die Vorschriften für das
Strafverfahren sinngemäß, soweit nichts anderes
bestimmt ist. In diesem Zusammenhang ist die mit dem Opferschutzgesetz
verbundene strukturelle Änderung des Nebenklageverfahrens zu
berücksichtigen. War gemäß § 395
StPO aF für die Zulassung der Nebenklage erforderlich,
daß die Verurteilung wegen eines Privatklagedelikts zu
erwarten war, so reicht nunmehr für die Zulassung der
Nebenklage eine Anklage wegen einer der in § 395 StPO nF
aufgezählten rechtswidrigen Taten aus; darauf, ob diese Tat
auch schuldhaft begangen wurde, kommt es dabei nicht an (vgl.
§ 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB). Zugleich stellt § 414 Abs. 2
Satz 1 StPO die Erhebung einer Anklage dem Antrag im
Sicherungsverfahren ausdrücklich gleich. Mit diesen
Änderungen hat das Gesetz die frühere Vorstellung von
der im Nebenklageverfahren "doppelt besetzten Anklagerolle" aufgegeben
(vgl. Rieß, Jura 1987, 286). Der Gesichtspunkt, daß
die Nebenklage ihrem Wesen nach auf die Bestrafung des Täters
abziele (NJW 1974, 2244) kann daher nicht mehr maßgeblich
sein.
b) Der Zulassung der Nebenklage im Sicherungsverfahren steht auch nicht
der Gesichtspunkt entgegen, daß das Interesse des Verletzten
bei Schuldzuweisungen durch einen Schuldunfähigen relativiert
sei und im übrigen in diesem Verfahren der künftige
Schutz der Allgemeinheit und weniger die Belange des Verletzten im
Vordergrund stünden (so OLG München, MDR 1994, 402).
Dies wird am vorliegenden Fall exemplarisch verdeutlicht:
Der Beschuldigte hat sich dahin eingelassen, daß ihm von
"Teufeln, denen er zu gehorchen habe", befohlen worden sei, zum Tatort
zu gehen, wo er dann "überfallen" worden sei. Die Angabe
über den Befehl der Teufel belegt offensichtlich die Krankheit
des Beschuldigten. Wenn dies die Strafkammer auch bei der
Würdigung der übrigen Beweisergebnisse
mitberücksichtigen konnte, hatte sie dennoch darüber
Beweis zu erheben und sodann festzustellen, ob der Beschuldigte
tatsächlich in Notwehr gehandelt hat.
Rechtfertigungsgründe (oder auch
Entschuldigungsgründe) hinsichtlich der Anlaßtaten
sind im Sicherungsverfahren nicht weniger sorgfältig oder
genau zu prüfen als im Strafverfahren. Hätte hier der
Beschuldigte in Notwehr gehandelt, wäre für eine
Maßregel gemäß § 63 StGB trotz
seiner offensichtlichen Erkrankung kein Raum gewesen (vgl. im einzelnen
Hanack in LK 11. Aufl. § 63 Rdn. 31 f. m.w.N.). Es ist unter
diesen Umständen kein Grund erkennbar, warum dem
Geschädigten die Mitwirkung am Verfahren und die Abwehr von
Schuldzuweisungen durch den Beschuldigten versagt sein soll. Wie auch
der Generalbundesanwalt unter Hinweis auf die Rechtsprechung mehrerer
Oberlandesgerichte (zuletzt HansOLG JR 2001, 213, 214 mit zustimmender
Anm. Gössel aaO 215) zutreffend ausgeführt hat, hat
der Verletzte vielmehr an der Überführung des
Täters und am Ausgang des Sicherungsverfahrens ein
berechtigtes Interesse, weil ihm nur die Anordnung einer
Maßregel wirksamen Schutz vor erneuten gleichartigen
Angriffen durch den Täter bietet. In dieser Hinsicht
konkretisiert sich der Zweck des Sicherungsverfahrens (Sicherung der
Allgemeinheit) in der Sicherung der konkret beteiligten Person (in
diesem Sinne auch die Entscheidung BGH NStZ 1995, 609, vgl. oben II 1
b). Unter diesen Umständen ist jedenfalls nicht erkennbar,
warum dem Geschädigten die Mitwirkung am Verfahren allein
deshalb verwehrt sein soll, weil die Schuldunfähigkeit
frühzeitig und nicht erst im Laufe des Hauptverfahrens erkannt
wurde.
c) Die Auffassung, daß eine Zulassung der Nebenklage im
Sicherungsverfahren gleichwohl nicht in Betracht komme, weil der
Gesetzgeber in Kenntnis der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes
diese Möglichkeit nicht ausdrücklich in das Gesetz
aufgenommen habe (BGH NStZ 1999, 312, vgl. oben II 1 a), hält
der Senat nicht aufrecht. Allerdings ist die Kenntnis des Gesetzgebers
von der bisherigen Rechtsprechung ein gewichtiger Gesichtspunkt bei der
Auslegung neuer Gesetze, den der Senat auch schon in anderem
Zusammenhang zur Auslegung des Opferschutzgesetzes herangezogen hat
(BGHSt 38, 93, 95). Hinsichtlich der Unzulässigkeit der
Nebenklage im Sicherungsverfahren liegt die Besonderheit jedoch darin,
daß der Bundesgerichtshof hiergegen selbst "einige Bedenken"
geäußert, "beachtliche Gründe" für
eine Änderung der Rechtsprechung anerkannt und die genannte
Frage auch sonst wiederholt offen gelassen hat (vgl. oben II 1 b).
Schließlich kann in diesem Zusammenhang auch nicht
außer Betracht bleiben, daß in Artikel 1 Nr. 9
eines Gesetzentwurfs des Bundesrats vom 29. September 2000 - Entwurf
eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung
(Gesetz zur Stärkung der Verletztenrechte), BR-Drucks. 552/00
-, der auf eine Gesetzesinitiative der Freien und Hansestadt Hamburg
vom 3. September 1999 zurückgeht (BR-Drucks. 507/99) die
Zulassung der Nebenklage im Sicherungsverfahren ausdrücklich
vorgesehen ist (zum Gesetzgebungsverfahren vgl. auch Hinz, DRiZ 2001,
321 ff. m.w.N.). In der Begründung dieses Entwurfs
heißt es, diese Regelung diene der "Klarstellung" und solle
getroffen werden, um "der Intension des Opferschutzgesetzes
vollständig gerecht zu werden" (BR-Drucks. 552/00 S. 12, 13).
d) Nach alledem war unter Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung,
entsprechend auch dem Antrag des Generalbundesanwalts, auf
Zulässigkeit der Nebenklage im Sicherungsverfahren zu erkennen.
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