BGH,
Beschl. v. 19.12.2006 - 4 StR 530/06
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
4 StR 530/06
vom
19.12.2006
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Totschlags u.a.
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Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des
Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 19.12.2006
gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Rostock vom 28. Juni 2006 im Maßregelausspruch mit den
Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine
andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des
Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in
Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und
wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Daneben hat es die
Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung
gemäß § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB angeordnet.
Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit
der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts
rügt. Das Rechtsmittel hat zum Maßregelausspruch
Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des
§ 349 Abs. 2 StPO.
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1. Die Überprüfung des Urteils auf Grund der
Revisionsrechtfertigung hat zum Schuld- und zum Strafausspruch keinen
Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
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2. Dagegen kann die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der
Sicherungsverwahrung nicht bestehen bleiben. Zwar hat das Landgericht
sowohl die formellen als auch die materiellen Voraussetzungen der
Unterbringung nach § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB rechtsfehlerfrei
bejaht. Ebenso hat es - sachverständig beraten - eine
hinreichend konkrete Aussicht auf einen Behandlungserfolg in einer
Entziehungsanstalt verneint und deshalb von einer Unterbringung nach
§ 64 StGB abgesehen. Jedoch hat die Schwurgerichtskammer
versäumt zu prüfen, ob auch eine Unterbringung des
Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB)
in Betracht kommt, die nach den Grundsätzen des § 72
StGB die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
entbehrlich machen kann (vgl. BGHSt 42, 306, 308). Der darin liegende
Rechtsfehler ist bereits auf die Sachrüge hin zu beachten, so
dass es auf die den Maßregelausspruch betreffende
Aufklärungsrüge nicht ankommt.
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a) Das Landgericht hat sich ersichtlich deshalb nicht mit der Anordnung
einer Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen
Krankenhaus (§ 63 StGB) befasst, weil die für beide
Gewaltdelikte angenommene erheblich verminderte
Steuerungsfähigkeit (§ 21 StGB) jeweils durch die
hochgradige Tatzeit-Alkoholisierung des Angeklagten von 2,7 bzw. 3,0
‰ bewirkt wurde. Das schloss eine Unterbringung des
Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63
StGB indes noch nicht von vornherein aus. Zwar kommt die Anwendung des
§ 63 StGB nur bei Personen in Betracht, deren
Schuldunfähigkeit oder erheblich verminderte
Schuldfähigkeit durch einen länger andauernden und
nicht nur vorübergehenden Zustand im Sinne der
§§ 20, 21 StGB hervorgerufen ist (st. Rspr.; BGHSt
34, 22, 27). In Fällen, in denen die Verminderung der
Schuldfähigkeit letztlich auf Alkoholgenuss
zurückzuführen ist, kann § 63 StGB aber
ausnahmsweise angewendet werden, wenn der Täter an einer
krankhaften Alkoholsucht leidet oder in krankhafter Weise
alkoholüber-
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empfindlich ist (st. Rspr.; BGHSt 34, 313, 314; BGHR StGB § 63
Zustand 9). Das Landgericht musste sich deshalb mit der Frage
auseinandersetzen, ob der Angeklagte nicht nur - was der
Sachverständige sicher diagnostiziert hat -
alkoholabhängig ist, sondern ob bei ihm bereits eine
krankhafte Alkoholsucht vorliegt.
Anhaltspunkte dafür ergeben sich schon aus dem Verlauf des
Alkoholmissbrauchs, der bereits im Jahr 1980 zu einer
Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den
Arbeitgeber des Angeklagten führte. Der Angeklagte setzte
seinen exzessiven Alkoholkonsum seither durchgehend - unterbrochen nur
durch "Abstinenzzeiten" auf Grund seiner Inhaftierung - fort. Mehrfach
musste er sich - im Ergebnis erfolglosen - stationären
Entgiftungen unterziehen. 1998 erlitt er einen Herzinfarkt. Der
jahrelange Alkoholismus führte bei ihm zur
Schwerhörigkeit. Hinzu kamen als Folge des jahrzehntelang
eingeschliffenen Alkoholmissbrauchs auch hirnorganisch bedingte
kognitive Leistungsminderungen (UA 3, 23). Diese mithin auch physischen
Veränderungen beim Angeklagten haben bewirkt, dass er nicht
mehr in der Lage ist, abstinent zu leben (UA 23). Damit liegen
Umstände vor, die üblicherweise mit dem Begriff der
Alkoholsucht verbunden werden (vgl. Peters, Wörterbuch
Psychiatrie, 5. Aufl., Stichwort: Alkoholsucht). Dies hätte
deshalb näherer Prüfung durch das Landgericht bedurft.
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b) Die Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen einer die
Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus
rechtfertigenden krankhaften Alkoholsucht war nicht etwa deshalb
entbehrlich, weil das Schwurgericht - auch darin dem gehörten
Sachverständigen folgend - keine Anhaltspunkte für
"weiter gehende Beeinträchtigungen" zu den jeweiligen
Tatzeiten zu erkennen vermochte. Zudem ist die Einschätzung im
angefochtenen Urteil, der
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Angeklagte weise keine die Schuldfähigkeit
beeinträchtigende psychische Störung oder
Persönlichkeitsstörung auf (UA 17), auch nicht ohne
Weiteres vereinbar mit der Erwägung im Rahmen der
Strafzumessung zu Gunsten des Angeklagten, "seine Alkoholkrankheit
(habe) zu einer möglicherweise
kriminalitätsbegünstigenden Beeinträchtigung
seiner Persönlichkeit" geführt (UA 19). Für
das Vorliegen einer auch unter dem Gesichtspunkt einer anderen schweren
seelischen Abartigkeit im Sinne des § 20 StGB relevanten
Persönlichkeitsveränderung könnte der von
dem gehörten Sachverständigen dargelegte
psychologische Befund sprechen, wonach die
Persönlichkeitsstruktur des Angeklagten durch erhebliche
Sozialisationsdefizite, Dissozialität, Haltschwäche
und hochgradige Impulsivität und Überspanntheit
gekennzeichnet sei (UA 23). Auch wenn diese
Persönlichkeitsstruktur des Angeklagten in ihrer
Ausprägung noch nicht den Grad erreicht hat, der bereits
für sich genommen zu einer erheblichen
Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit
geführt hat, die vom Landgericht sicher angenommene
Verminderung der Schuldfähigkeit des Angeklagten letztlich
vielmehr erst durch seine jeweils aktuelle Alkoholintoxikation
herbeigeführt worden ist, kann darin nach der neueren
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein Zustand gesehen werden, der
die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach §
63 StGB zu rechtfertigen vermag (vgl. BGHSt 44, 338; 44, 369;
Senatsbeschluss vom 18. Januar 2000 - 4 StR 583/99 - NZV 2000, 213).
3. Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht -
wäre es davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen
für eine Unterbringung des Angeklagten nach § 63 StGB
vorliegen - von einer Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in
der Sicherungsverwahrung abgesehen hätte. Zwar ist die
Unterbringung nach § 63 StGB nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs kein „geringeres“, sondern ein
„anderes“ Übel als die Sicherungsver-
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wahrung, zumal beide Maßregeln zeitlich unbegrenzt sind.
Jedoch erweist sich die Unterbringung nach § 63 StGB schon
deshalb regelmäßig als die weniger beschwerende
Maßregel, weil ihr Vollzug grundsätzlich vor dem
Vollzug der Strafe stattfindet und auf die Strafe angerechnet wird
(§ 67 Abs. 1 und 4 StGB). Auch aus diesem Grund ist - und zwar
unabhängig von der Frage der Therapierbarkeit - der
Maßregelanordnung nach § 63 StGB in der Regel
gegenüber der Anordnung der Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung der Vorrang einzuräumen (BGHSt 42, 306,
308).
Der Maßregelausspruch bedarf mithin insgesamt neuer
Prüfung und Entscheidung.
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Tepperwien Maatz Athing
Ernemann Sost-Scheible |