BGH,
Beschl. v. 19.6.2002 - 4 StR 206/02
4 StR 206/02
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom
19. Juni 2002
in der Strafsache gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat nach Anhörung
des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 19. Juni
2002 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO
beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Neubrandenburg vom 20. September 2001
a) in den Fällen B I 1 bis 10 der Urteilsgründe mit
den die Ursächlichkeit dieser Taten für die
depressive Erkrankung der Nebenklägerin Daniela J.
betreffenden Feststellungen,
b) in den Aussprüchen über die Gesamtfreiheitsstrafe
und den Adhäsionsanspruch mit den jeweils zugehörigen
Feststellungen
aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine
andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten "des sexuellen Mißbrauchs
von Kindern in elf Fällen, davon in zwei Fällen in
Tateinheit mit Nötigung zu sexuellen Handlungen im schweren
Fall, und in einem weiteren Fall in Tateinheit mit Vergewaltigung im
schweren Fall" schuldig gesprochen und ihn deswegen unter Freisprechung
im übrigen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und
zehn Monaten verurteilt. Ferner hat es ihn verurteilt, an die
Nebenklägerin Daniela J. ein Schmerzensgeld in Höhe
von 7.500 DM nebst 4% Zinsen seit dem 27. August 2001 zu zahlen. Gegen
dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der
er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts
rügt. Das Rechtsmittel hat in dem aus der
Beschlußformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im
übrigen ist es unbegründet im Sinne des §
349 Abs. 2 StPO.
1. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der
Revisionsrechtfertigung hat keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum
Nachteil des Angeklagten ergeben, soweit ihn das Landgericht in dem
Christin J. betreffenden Fall B I 11 der Urteilsgründe wegen
sexuellen Mißbrauchs eines Kindes nach § 176 Abs. 1
StGB zu der Einzelfreiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt hat.
Auch in den übrigen Fällen hält die
Beweiswürdigung, aufgrund derer sich das Landgericht von der
Tatbegehung durch den Angeklagten überzeugt hat, im Ergebnis
der rechtlichen Prüfung stand. Dabei läßt
der Senat dahingestellt, ob der methodische Ansatz des zur
Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin Daniela J.
gehörten Sachverständigen Dr. D., dem sich das
Landgericht angeschlossen hat, in jeder Hinsicht den Mindeststandards
bei aussagepsychologischen Gutachten (vgl. BGHSt 45, 164) entspricht.
Dem Senat erscheint zumindest eine "Mathematisierung" der
Glaubhaftigkeitsbeurteilung insoweit bedenklich, als sie wesentlich auf
das quantitative Verhältnis abstellt, in dem die von der
betreffenden Person bei verschiedenen Befragungen berichteten
Aussagedetails gemessen an deren Gesamtzahl "übereinstimmten"
oder aber "Differenzen" bzw. "echte Widersprüche" aufwiesen
(UA 15/16). Jedenfalls muß der Tatrichter, wenn er dem so
vorgehenden Sachverständigen folgen will, die Einzelheiten
dieses "Aussagevergleiches" (UA 15) hinterfragen und das Ergebnis in
den Urteilsgründen so wiedergeben, daß das
Revisionsgericht prüfen kann, ob er sich gegenüber
der Bewertung des Sachverständigen die gebotene
Selbständigkeit seines Urteils bewahrt und diesem Teil der
Aussageanalyse für das Gesamtergebnis der
Glaubhaftigkeitsbeurteilung das ihm zutreffende Gewicht beigemessen
hat. Mängel in dieser Hinsicht haben sich hier jedoch im
Ergebnis nicht zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt. Das Urteil
weist aus, daß dem "mathematisierenden" Ansatz auch nach den
Darlegungen des Sachverständigen hier neben der Vielzahl
weiterer Glaubwürdigkeitskriterien keine für die
Beurteilung ausschlaggebende Bedeutung zukommt. Angesichts dessen und
des Beweisergebnisses im übrigen schließt der Senat
aus, daß das Landgericht ohne den "mathematisierenden" Ansatz
des Sachverständigen bei der Aussageanalyse zu einem anderen
Beweisergebnis gelangt wäre.
2. Die Verurteilung in den die Nebenklägerin Daniela J.
betreffenden Fällen B I 1 bis 10 der Urteilsgründe
kann gleichwohl nicht bestehen bleiben, weil die Annahme des
Landgerichts, der Angeklagte habe in sämtlichen dieser
Fälle den qualifizierten Tatbestand des § 148 Abs. 2
StGB/DDR verwirklicht, nicht ausreichend durch Tatsachen belegt ist.
a) Nach dieser Vorschrift wurde mit Freiheitsstrafe von zwei bis zu
acht Jahren bestraft, wer durch den sexuellen Mißbrauch eines
Kindes fahrlässig dessen "erhebliche Schädigung"
verursacht hat oder bereits wegen einer derartigen Handlung bestraft
war. Das Landgericht hat die - allein in Betracht kommende - erste
Alternative dieses qualifizierten Tatbestandes in allen Fällen
bejaht. Die erhebliche Schädigung hat es in der "beschriebenen
psychischen und sozialen Störung" der Geschädigten
gesehen (UA 23). Hinsichtlich der "Ursächlichkeit aller Taten
des Angeklagten für die depressive Erkrankung der Zeugin
Daniela J. " (UA 18) hat es sich dem Zusatzgutachten des
gehörten Sachverständigen Dr. D. angeschlossen. Den -
für die Überprüfung durch das
Revisionsgericht allein maßgeblichen - Gründen des
angefochtenen Urteils kann jedoch die sichere Annahme eines
Ursachenzusammenhangs zwischen den im Zeitraum von 1982 bis 1988
begangenen sexuellen Handlungen des Angeklagten und der in den Jahren
1998 und 1999 bei der Geschädigten aufgetretenen
"multifaktoriellen Depression" (UA 19) nicht entnommen werden. Denn
danach hat der Sachverständige lediglich nicht
ausschließen können, daß "bereits das
Erleben der ersten Tat des Angeklagten im Sommer 1982 wie auch jede der
weiteren Taten ... die Ursache für die depressive Erkrankung"
der Geschädigten gesetzt haben "könne" (UA 19). Dies
genügt für die sichere Feststellung, daß
die psychischen Störungen der Geschädigten gerade auf
die Taten des Angeklagten zurückgehen, nicht, zumal
dafür eine "Vielzahl von Konfliktbereichen" in Betracht kommt,
in denen Daniela J. ihren Angaben gegenüber dem
Sachverständigen zufolge "gemischt Angst und Verstimmungen"
erlebt hat (UA 19).
b) Der Senat schließt nicht aus, daß sich noch
Feststellungen treffen lassen, die mit der für eine
Verurteilung genügenden Sicherheit den erforderlichen
Ursachenzusammenhang zwischen den Taten des Angeklagten und der
psychischen Erkrankung der Geschädigten belegen. Ist das nicht
der Fall und kommt eine Strafbarkeit des Angeklagten deshalb nur nach
§ 148 Abs. 1 StGB/DDR in Betracht, wäre hinsichtlich
des Falles B I 1 der Urteilsgründe
Verfolgungsverjährung eingetreten. Denn die dann geltende
achtjährige Verjährungsfrist nach § 82 Abs.
1 Nr. 3 StGB/DDR wäre im Sommer 1990, und damit vor
Inkrafttreten des Einigungsvertrages, abgelaufen. Dabei bliebe es.
c) Der aufgezeigte Rechtsfehler läßt die zu den
einzelnen Taten getroffenen Feststellungen unberührt. Diese
können deshalb mit Ausnahme derjenigen, die die
Ursächlichkeit der Taten des Angeklagten für die
psychischen Störungen bei der Geschädigten betreffen,
bestehen bleiben.
d) Die Aufhebung der Verurteilung in den Fällen B I 1 bis 10
hat die Aufhebung der insoweit gemäß § 64
StGB/DDR gebildeten Hauptstrafe zur Folge. Unabhängig davon
könnte diese nicht bestehen bleiben. Denn das Landgericht hat
"in erheblichem Maße" zu Lasten des Angeklagten "die durch
die Tat bei Daniela J. ausgelösten Folgen" gewertet (UA 26),
obwohl ein solcher Ursachenzusammenhang nicht rechtsfehlerfrei
festgestellt ist (vgl. BGH, Beschluß vom 16. April 2002 - 3
StR 59/02). Im übrigen begegnen die Erwägungen zur
Bemessung der Hauptstrafe unter dem Gesichtspunkt des auch nach dem
Recht der DDR geltenden Doppelverwertungsverbots (§ 61 Abs. 3
StGB/DDR) durchgreifenden Bedenken, soweit das Landgericht dem
Angeklagten angelastet hat, er habe sich "bei Tatbegehung der
Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse wegen über
das Interesse seiner Enkelin an einer ungestörten Entwicklung
ihrer Persönlichkeit hinweggesetzt" (UA 26). Hiermit hat das
Landgericht in unzulässiger Weise den Strafzweck der
angewandten Vorschriften strafschärfend gewertet (vgl. BGHR
StGB § 46 Abs. 3 Sexualdelikte 2, 4).
3. Die Aufhebung der Hauptstrafe zieht die Aufhebung der Gesamtstrafe
nach sich.
Der Ausspruch über die vermögensrechtlichen
Ansprüche der Nebenklägerin Daniela J. kann ebenfalls
nicht bestehen bleiben. Der aufgezeigte Rechtsfehler berührt
auch diesen Ausspruch, denn die Feststellungen belegen bislang nicht,
daß der Angeklagte die festgestellten psychischen
Schäden bei der Nebenklägerin verursacht hat (vgl.
BGH, Beschluß vom 3. April 2002 - 3 StR 50/02). Zudem bildet
§ 847 BGB keine Anspruchsgrundlage für den geltend
gemachten Schmerzensgeldanspruch für die vor der
Wiedervereinigung auf dem Gebiet der ehemaligen DDR begangenen
Handlungen (vgl. BGH, Beschluß vom 7. Februar 2001 - 3 StR
3/01).
Tepperwien Maatz Solin-Stojanovic Ernemann Sost-Scheible
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