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BGH, Beschluss vom 2. November 2005 - 4 StR 418/05


Entscheidungstext  
 
BGH, Beschl. v. 2.11.2005 - 4 StR 418/05
BGHSt: ja
BGHR: ja
Veröffentlichung: ja
StPO §§ 199 ff.
GVG § 76
JGG §§ 33 a, 33 b
Wird eine zunächst unterbliebene Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens
in der Hauptverhandlung nachgeholt, so entscheidet darüber beim
Landgericht auch dann die große Straf- bzw. Jugendkammer in ihrer Besetzung
außerhalb der Hauptverhandlung mit drei Berufsrichtern ohne Mitwirkung der
Schöffen, wenn die Kammer die Hauptverhandlung in reduzierter Besetzung
(§ 76 Abs. 2 Satz 1 GVG, § 33 b Abs. 2 Satz 1 JGG) durchführt.
BGH, Beschluss vom 2.11.2005 - 4 StR 418/05 - LG Dessau -
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
4 StR 418/05
vom
2.11.2005
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
- 2 -
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundesanwalts
und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 2.11.2005 in
entsprechender Anwendung von § 206 a StPO beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Dessau vom 24.05.2005 mit den Feststellungen aufgehoben.
Das Verfahren wird eingestellt.
Die Kosten des Verfahrens und die dem Angeklagten entstandenen
notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung und anderer
Sexualstraftaten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt.
Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er das Verfahren
beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Der Senat
braucht auf die Rügen des Beschwerdeführers nicht einzugehen, weil das Verfahren
einzustellen ist.
1. Der Verurteilung des Angeklagten steht ein Verfahrenshindernis entgegen,
da es an einem wirksamen Eröffnungsbeschluss fehlt.
Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
- 3 -
Die Staatsanwaltschaft erhob gegen den Angeklagten in dieser Sache
im Juni 2003 Anklage zum Jugendschöffengericht. Dieses sah seine Strafgewalt
als nicht ausreichend an und legte deshalb die Sache im Dezember 2003
über die Staatsanwaltschaft der Jugendschutzkammer bei dem Landgericht
Dessau zur Übernahme vor. Nachdem die Akten auf Verfügung des Vorsitzenden
der Jugendkammer wegen formeller Unzulänglichkeiten der Abgabe im
Verlauf des Jahres 2004 zweimal an das zuständige Amtsgericht zurückgeleitet
worden waren und mit einem wirksamen Abgabebeschluss nach § 209 Abs. 2
StPO erneut beim Landgericht vorlagen, übernahm die Jugendkammer des
Landgerichts die Sache durch Beschluss vom 4.02.2005. In diesem von
den drei Berufsrichtern unterschriebenen Beschluss wurde zugleich bestimmt,
dass die Jugendkammer in der Hauptverhandlung mit zwei Berufsrichtern und
zwei Jugendschöffen besetzt sei (§ 33 b Abs. 2 JGG). Der auf dem Beschlussformular
angebrachte Zusatz "Gründe: Die Kammer bejaht den hinreichenden
Tatverdacht wegen der ihre Zuständigkeit begründenden Gesetzesverletzungen."
wurde in dem Beschluss durchgestrichen.
Am ersten vom Vorsitzenden der Jugendkammer anberaumten Hauptverhandlungstermin
wurde im Rahmen der Hauptverhandlung festgestellt, dass
das Hauptverfahren bislang noch nicht eröffnet worden war. Daraufhin verkündete
die Vorsitzende nach Vernehmung des Angeklagten zu seinen persönlichen
Verhältnissen und der Verlesung des Anklagesatzes einen schriftlich abgefassten,
aber nicht unterschriebenen, sondern als Anlage zum Protokoll genommenen
Beschluss, durch den die Anklage mit Änderungen zur Hauptverhandlung
zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet wurde. Dieser Beschluss
war, wie die dienstlichen Äußerungen bestätigen, in der Kammerbesetzung
der Hauptverhandlung, d.h. unter Mitwirkung der beiden berufsrichterli-
4 -
chen Mitglieder der Jugendkammer und der beiden Jugendschöffen, beraten
und gefasst worden.
2. Der in der Hauptverhandlung verkündete Eröffnungsbeschluss ist
nicht wirksam zustande gekommen.
Allerdings konnte die Jugendkammer den bis dahin fehlenden Eröffnungsbeschluss
nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs noch
in der Hauptverhandlung nachholen (BGHSt 29, 224; BGH NStZ 1981, 448;
1985, 324; 1986, 276; 1987, 239). Doch hat die Jugendkammer über die Eröffnung
nicht in der dafür gesetzlich vorgesehenen Besetzung entschieden. Die
Entscheidung über die Eröffnung obliegt beim Landgericht der Strafkammer
bzw. der Jugendkammer in der Besetzung außerhalb der Hauptverhandlung
(KK-Tolksdorf § 199 Rdn. 9), mithin mit drei Berufsrichtern unter Ausschluss
der (Jugend-) Schöffen (§ 199 Abs. 1 StPO i.V.m. § 76 Abs. 1 GVG bzw. § 33 b
JGG). Für den Fall der - wie hier - notwendig werdenden Nachholung eines
fehlenden Eröffnungsbeschlusses gilt nichts anderes; in diesem Fall entscheidet
die Straf- bzw. Jugendkammer nach Unterbrechung der Verhandlung in der
für die Eröffnungsentscheidung vorgeschriebenen Besetzung (vgl. Tolksdorf
aaO § 207 Rdn. 23). Deshalb konnte die Jugendkammer in der mit dem Übernahmebeschluss
für die Hauptverhandlung bestimmten Besetzung mit lediglich
zwei berufsrichterlichen Mitgliedern und den beiden Jugendschöffen nicht wirksam
über die Eröffnung des Hauptverfahrens entscheiden.
Daran hat die durch das Rechtspflegeentlastungsgesetz vom 11. Januar
1993 (BGBl I 50) eingeführte reduzierte Besetzung der Großen Straf- und Jugendkammern
(§§ 76 Abs. 2 GVG, 33 b Abs. 2 JGG) nichts geändert. Dieses
Gesetz hat die Besetzung der großen Straf- bzw. Jugendkammern für die außerhalb
der Hauptverhandlung zu treffende Entscheidung über die Eröffnung
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des Hauptverfahrens mit jeweils drei Berufsrichtern unberührt gelassen (vgl.
BTDrucks 12/1217 S. 48, 50). Vielmehr hat der Gesetzgeber lediglich die Möglichkeit
eröffnet, die Besetzung der großen Straf- bzw. Jugendkammern für die
Hauptverhandlung von drei auf zwei Berufsrichter zu reduzieren, und die - regelmäßig
zusammen mit der Eröffnung des Hauptverfahrens zu treffende -
Entscheidung hierüber ebenfalls der Kammerbesetzung mit drei Berufsrichtern
zugewiesen (BTDrucks. aaO). Nach dem Zusammenhang der Vorschriften der
§§ 199 ff. StPO einerseits und der §§ 76 Abs. 2 GVG, 33 b Abs. 2 JGG andererseits
setzt die Bestimmung über die (reduzierte) Besetzung grundsätzlich
die Eröffnung des Hauptverfahrens durch die Straf- bzw. Jugendkammer in der
dafür vorgesehenen Besetzung voraus. Daraus folgt ohne weiteres, dass die
Eröffnungsentscheidung nicht ihrerseits einer Beschlussfassung durch die
Straf- bzw. Jugendkammer in der reduzierten Besetzung zugänglich ist. Das
gilt für das Verfahren insgesamt und läßt auch dann keine Ausnahme zu, wenn
eine zunächst unterbliebene Eröffnungsentscheidung nachgeholt werden soll.
Aus der Einfügung von § 76 Abs. 2 Satz 2 GVG und § 33 b Abs. 2 Satz 2 JGG
durch das Gesetz zur Verlängerung der Besetzungsreduktion bei Strafkammern
vom 19. Dezember 2000 (BGBl I 1756) ergibt sich nichts anderes. Der
Gesetzgeber hat damit die Möglichkeit geschaffen, nach Zurückverweisung
einer Sache durch das Revisionsgericht an das Landgericht erneut über die
(reduzierte) Besetzung zu entscheiden (vgl. BGH StraFo 2003, 134), und diese
Entscheidung der „nunmehr zuständigen“ Straf- bzw. Jugendkammer zugewiesen.
Weder dem Wortlaut der Vorschriften noch den Materialien (BTDrucks.
14/3370 S. 2 und 14/4542 S. 4) ist aber ein Hinweis zu entnehmen, der Gesetzgeber
habe damit etwa aus verfahrensökonomischen Gründen an der Besetzung
der für die Eröffnungsentscheidung zuständigen Kammer mit drei Berufsrichtern
etwas ändern wollen.
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Dass die (Jugend-) Schöffen an der Entscheidung über die Eröffnung
des Hauptverfahrens generell und auch dann nicht mitwirken dürfen, wenn diese
Entscheidung in der Hauptverhandlung nachgeholt wird, folgt zudem daraus,
dass den Schöffen die für die Prüfung des hinreichenden Tatverdachts
nach § 203 StPO notwendige Grundlage der umfassenden Kenntnis des gesamten
Akteninhalts (vgl. Meyer-Goßner StPO 48. Aufl. § 203 Rdn. 1) fehlt.
Dem steht § 30 Abs. 1 (i.V.m. § 77) GVG nicht entgegen. Zwar nehmen danach
die Schöffen "auch an den im Laufe der Hauptverhandlung zu erlassenden
Entscheidungen, die in keiner Beziehung zur Urteilsfällung stehen und die
auch ohne mündliche Verhandlung erlassen werden können", mit vollem
Stimmrecht teil, und zwar unabhängig davon, ob bei der Beschlussfassung auf
Akteneinsicht zurückgegriffen werden muss (vgl. Meyer-Goßner aaO GVG § 30
Rdn. 1). Doch ist diese Bestimmung auf die Eröffnung des Hauptverfahrens
nicht anwendbar. Denn die Eröffnungsentscheidung ist ihrem Wesen nach keine
"im Laufe der Hauptverhandlung" zu treffende, sondern eine Entscheidung,
die erst den Weg freimacht für die Durchführung der Hauptverhandlung, der sie
mithin zwingend vorgelagert ist. Ihre auch und gerade im Schutzinteresse des
Angeschuldigten liegende Funktion, die beim Landgericht von Gesetzes wegen
der besonderen Verantwortung der Straf- bzw. Jugendkammer in ihrer vollen
Besetzung mit drei Berufsrichtern übertragen ist, würde aber unterlaufen, wenn
für die - an sich vom Gesetz nicht vorgesehene, sondern nur richterrechtlich
zugelassene - Nachholung der Eröffnungsentscheidung nach Beginn der
Hauptverhandlung die Kammer in der gemäß § 76 Abs. 2 GVG, § 33 b Abs. 2
JGG reduzierten Besetzung zuständig wäre. Das bloße zeitliche Zusammentreffen
der die Eröffnung nachholenden Entscheidung mit der Hauptverhandlung
ändert deshalb nichts daran, dass sie nicht "während", sondern außerhalb
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der Hauptverhandlung zu treffen ist, was eine Beteiligung der Schöffen ausschließt.
3. Wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 10. Oktober
2005 zutreffend ausgeführt hat, hat auch der Übernahmebeschluss der Jugendkammer
vom 4.02.2005 nicht die Wirkung eines Beschlusses über
die Zulassung der in dem übernommenen Verfahren erhobenen Anklage und
über die Eröffnung des Hauptverfahrens (vgl. BGH NStZ 1987, 239). Zwar
könnte der Zusammenhang mit der Entscheidung über die reduzierte Besetzung
der Jugendkammer in der Hauptverhandlung, die das Gericht nach den
gesetzlichen Bestimmungen der §§ 76 Abs. 2 GVG, 33 b Abs. 2 JGG "bei der
Eröffnung des Hauptverfahrens" trifft, grundsätzlich den konkludenten Willen
zur Eröffnung des Hauptverfahrens belegen. Dem steht hier aber schon entgegen,
dass die oben beschriebene Streichung des formularmäßigen Zusatzes
verdeutlicht, dass die Jugendkammer bei der Beschlussfassung über die Übernahme
die in § 203 StPO vorgeschriebene Prüfung des hinreichenden Tatverdachts
gerade nicht vorgenommen hat.
4. Nach alledem besteht mangels wirksamer Eröffnung des Hauptverfahrens
ein von Amts wegen zu beachtendes Verfahrenshindernis, das zur Aufhebung
des angefochtenen Urteils und zur Einstellung des Verfahrens führt (vgl.
BGH NStZ 1981, 448, 1987, 239; BGHR StPO § 203 Unterschrift 1; Tolksdorf
aaO § 207 Rdn. 33, 35).
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