BGH,
Beschl. v. 20.12.2002 - 2 StR 251/02
2 StR 251/02
StGB § 24 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz
Ein gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz
StGB strafbefreiender Rücktritt vom Versuch eines unechten
Unterlassungsdelikts setzt nicht voraus, daß der
Täter, der die Vollendung der Tat erfolgreich verhindert und
dies auch anstrebt, unter mehreren Möglichkeiten der
Erfolgsverhinderung die sicherste oder "optimale" gewählt hat.
BGH, Beschl. vom 20. Dezember 2002 - 2 StR 251/02 - LG Aachen
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom
20. Dezember 2002
in der Strafsache gegen
wegen versuchten Mordes u.a.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat nach Anhörung
des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 20.
Dezember 2002 gemäß §§ 349 Abs. 4,
354 Abs. 1 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Aachen vom 15. März 2002 aufgehoben.
2. Der Angeklagte wird freigesprochen.
3. Die Kosten des Verfahrens sowie die dem Angeklagten entstandenen
notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in
Tateinheit mit versuchtem Herbeiführen einer
Sprengstoffexplosion zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren
verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt
angeordnet. Seine hiergegen eingelegte Revision führt zur
Aufhebung des Urteils und zur Freisprechung des Angeklagten.
1. Das Landgericht hat zum Sachverhalt folgende Feststellungen
getroffen:
Der Angeklagte öffnete in Selbsttötungsabsicht zwei
Gashähne in seiner im Erdgeschoß eines
12-Familien-Hauses gelegenen Wohnung. Hierbei dachte er nicht daran,
daß durch sein Handeln möglicherweise andere
Hausbewohner zu Schaden kommen könnten. Nach dem
Öffnen der Gashähne wurde dem Angeklagten
bewußt, daß es durch das ausströmende Gas
zu einer Explosion kommen könnte und daß hierdurch
andere Hausbewohner verletzt oder getötet werden
könnten. Dies nahm er zunächst billigend in Kauf.
Kurze Zeit später änderte er insoweit seine
Willensrichtung. Er rief über die Notrufnummer
zunächst die Feuerwehr und, als er sich dort nicht ernst
genommen fühlte, unmittelbar darauf die Polizei an, nannte
seinen Namen und seine Anschrift und forderte die genannten Stellen
auf, sogleich für eine Rettung der Hausbewohner zu sorgen, da
er nicht wollte, daß diese durch eine - vom Angeklagten als
möglich erkannte, aber nicht mehr gebilligte - Gasexplosion zu
Schaden kämen. Seinen Entschluß, sich selbst durch
Gasvergiftung zu töten, gab er nicht auf; der Aufforderung,
das Gas abzudrehen, kam er daher nicht nach. Nach Beendigung des
zweiten Telefongesprächs wurde der Angeklagte
bewußtlos; wenige Minuten später traf die Feuerwehr
ein, evakuierte etwa 50 Personen und drehte den Gashahn zu. Ob das
Gasgemisch in der Wohnung des Angeklagten schon
explosionsfähig war, konnte nicht festgestellt werden.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen - durch aktives Tun
begangenen - Versuchs des Mordes mit gemeingefährlichen
Mitteln in Tateinheit mit Versuch der Herbeiführung einer
Sprengstoffexplosion verurteilt; einen strafbefreienden
Rücktritt hat es mit der Begründung abgelehnt, die
Bemühungen des Angeklagten seien nicht ausreichend gewesen.
2. Die Feststellungen tragen den Schuldspruch nicht. Der Angeklagte ist
von den Versuchen des Mordes und der Herbeiführung einer
Sprengstoffexplosion vielmehr nach § 24 Abs. 1 Satz 1, 2.
Halbsatz StGB strafbefreiend zurückgetreten.
a) Entgegen der Ansicht des Landgerichts lagen nicht durch aktives Tun,
sondern durch Unterlassen begangene Versuche vor, denn der Angeklagte
handelte, als er die Gashähne öffnete, nicht in dem
Bewußtsein, daß dies zu einer Gasexplosion und
diese zum Tod anderer Hausbewohner führen könnte;
diese Möglichkeit wurde ihm nach den Feststellungen vielmehr
erst nachträglich bewußt. Das weitere
Ausströmen-Lassen des Gases konnte eine strafrechtliche
Verantwortlichkeit des Angeklagten daher nur aufgrund seiner aus dem
vorangegangenen Tun erwachsenen Garantenstellung
gemäß § 13 Abs. 1 StGB begründen.
Die Frage, ob ein Mord mit gemeingefährlichen Mitteln durch
Unterlassen nicht begangen werden kann (BGHSt 34, 13, 14; ebenso wohl
h.M. in der Literatur; vgl. Eser in Schönke/Schröder
26. Aufl. § 211 Rdn. 29; Lackner/Kühl 24. Aufl.
§ 211 Rdn. 11; Arzt in Festschrift für Roxin, 2001,
S. 855, 858; a.A. Jähnke in LK 11. Aufl. § 211 Rdn.
58; Tröndle/Fischer 51. Aufl. § 211 Rdn. 24), kann
hier offen bleiben, da der Angeklagte auch von dem dann vorliegenden
Versuch des Totschlags strafbefreiend zurückgetreten
wäre.
Gleichfalls dahinstehen kann hier die in der Literatur umstrittene
Frage, ob beim Rücktritt vom Versuch durch Unterlassen einer
Unterscheidung zwischen unbeendetem und beendetem Versuch Bedeutung
zukommt (vgl. dazu Eser aaO § 24 Rdn. 27 ff. m.w.N.). Nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes steht der Versuch des
Unterlassungsdelikts insoweit dem beendeten Versuch des
Begehungsdelikts gleich (BGH NStZ 1997, 485; NJW 2000, 1730); die
Anforderungen an die Rücktrittsleistung des
Alleintäters bestimmen sich daher nach § 24 Abs. 1
Satz 1, 2. Halbsatz oder nach § 24 Abs. 1 Satz 2 StGB
(Küper ZStW 112 [2000], 1, 42; Tröndle/Fischer aaO
§ 24 Rdn. 14 m.w.N.).
b) Da das auf Rettung der bedrohten Rechtsgüter abzielende
Handeln des Angeklagten, der die von ihm weiterhin als möglich
erkannte Vollendung der Tat zu diesem Zeitpunkt nicht mehr billigte,
für die Verhinderung der Tatvollendung ursächlich
war, lag hier ein Fall des § 24 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz
StGB vor. Daß der Täter sich zur Abwendung des
Erfolges der Hilfe Dritter - hier der Polizei und der Feuerwehr -
bedient, steht einem strafbefreienden Rücktritt nach
ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes jedenfalls
dann nicht entgegen, wenn die im Ergebnis erfolgreiche Einschaltung
Dritter nicht nur zum Schein erfolgt und von der Absicht getragen ist,
das bedrohte Rechtsgut zu retten. Erweist sich das auf Erfolgsabwendung
gerichtete Handeln des Versuchstäters als erfolgreich und
für die Verhinderung der Tatvollendung ursächlich, so
kommt es nicht darauf an, ob dem Täter schnellere oder sichere
Möglichkeiten der Erfolgsabwendung zur Verfügung
gestanden hätten; das Erfordernis eines "ernsthaften
Bemühens" gemäß § 24 Abs. 1 Satz 2
StGB gilt für diesen Fall nicht.
aa) Entsprechend hat der Senat in den Entscheidungen vom 3. Juli 1981 -
2 StR 357/81 (NStZ 1981, 388), 7. November 1985 - 2 StR 521/84 (NJW
1985, 813), 26. März 1997 - 2 StR 650/96 (NStZ-RR 1997, 233,
234) und 3. Februar 1999 - 2 StR 540/98 (NStZ 1999, 299) entschieden;
ebenso der 5. Strafsenat in den Beschlüssen vom 28. November
1998 - 5 StR 176/98 (BGHSt 44, 204, 207) und vom 9. Dezember 1998 - 5
StR 584/98 (NStZ 1999, 128).
Der 1. Strafsenat hat allerdings im Urteil vom 27. April 1982 - 1 StR
873/81 (BGHSt 31, 46, 49) entschieden, der Täter
dürfe sich nicht mit Maßnahmen begnügen,
die, wie er erkennt, (möglicherweise) unzureichend sind, wenn
ihm bessere Verhinderungsmöglichkeiten zur Verfügung
stehen. Er müsse solche Möglichkeiten
ausschöpfen und dürfe dem Zufall keinen Raum bieten;
wenn der Erfolg ohne Zutun des Täters abgewendet werde, also
ein Fall des § 24 Abs. 1 Satz 2 StGB gegeben sei,
"(ändere) sich dadurch nichts" (BGHSt 31, 46, 49).
Ähnlich haben der 3. Strafsenat (BGH bei Dallinger MDR 1972,
751) sowie der 4. Strafsenat entschieden (Beschl. vom 20. Februar 1997
- 4 StR 642/96; vom 25. Februar 1997 - 4 StR 49/97 [NStZ-RR 1997, 193,
194]), wobei aber jeweils offen blieb, ob die auf BGHSt 31, 46, 49
Bezug nehmenden Ausführungen einen Fall des § 24 Abs.
1 Satz 1, 2. Halbsatz StGB betrafen (vgl. auch Urteil vom 5. Dezember
1985 - 4 StR 593/85 [NJW 1986, 1001, 1002]). Der 1. Strafsenat hat im
Urteil vom 15. Mai 1990 - 1 StR 146/90 (NJW 1990, 3219) unter
Bezugnahme auf BGHSt 31, 46 ausgeführt, im Fall der
Ursächlichkeit der Verhinderungsbemühungen sei der
Rücktritt nicht dadurch ausgeschlossen, daß der
Täter zur Rettung mehr als geschehen hätte tun
können (so auch der 4. Strafsenat in der Entscheidung StV
1981, 396, 397).
Im Hinblick auf diese möglicherweise nicht ganz eindeutige
Entscheidungslage hat der Senat mit Beschluß vom 14. August
2002 bei den übrigen Strafsenaten angefragt, ob der
beabsichtigten Entscheidung dortige Rechtsprechung entgegenstehe.
Hierauf hat der 1. Strafsenat mit Beschluß vom 26. September
2002 - 1 ARs 36/02 - mitgeteilt, Rechtsprechung des 1. Strafsenats
stehe der beabsichtigten Entscheidung nicht entgegen; soweit das
Senatsurteil BGHSt 31, 46 im Blick auf bestimmte Formulierungen (ebenda
S. 49) in der Literatur anders verstanden werde, beruhe das auf einer
nicht zutreffenden Interpretation. Der 3. Strafsenat hat mit
Beschluß vom 12. November 2002 - 3 ARs 36/02 - mitgeteilt,
Rechtsprechung des Senats stehe der beabsichtigten Entscheidung nicht
entgegen. Der 4. Strafsenat hat mit Beschluß vom 21. Oktober
2002 - 4 ARs 38/02 - mitgeteilt, der beabsichtigten Entscheidung werde
nicht entgegengetreten und an etwa entgegenstehender Rechtsprechung
nicht festgehalten. Der 5. Strafsenat hat mit Beschluß vom
21. Oktober 2002 - 5 ARs 33/02 - dem im Leitsatz genannten Rechtssatz
zugestimmt.
bb) In der Literatur ist die Frage umstritten (vgl. die
Überblicke bei Eser aaO § 24 Rdn. 59;
Tröndle/Fischer aaO § 24 Rdn. 32 ff.; Roxin in
Festschrift für H.J. Hirsch, 1999, S. 327 ff.; Kolster, Die
Qualität der Rücktrittsbemühungen des
Täters beim beendeten Versuch, 1993, S. 74 ff.). Die
Entscheidung BGHSt 31, 46, 49 ist teilweise dahin verstanden worden,
daß auch bei kausaler Erfolgsverhinderung
"bestmögliche" Bemühungen des Täters
erforderlich seien (vgl. Puppe NStZ 1984, 488, 490; Rudolphi NStZ 1989,
508); die Autoren, die diese Absicht vertreten (vgl. insbesondere
Herzberg NJW 1989, 867; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl.,
26. Abschn. Rdn. 21; 29, Abschn. Rdn. 119; ders. ZStW 104 [1992], 89;
Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, 10. Aufl. §
27 Rdn. 28; Schmidhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2.
Aufl. § 15 Rdn. 89 ff.; alle m.w.N.), berufen sich in der
Regel auf die Entscheidungen BGH (bei Dallinger) MDR 1972, 751 f. und
BGHSt 31, 46, 49.
cc) Der Senat hält nach Durchführung des
Anfrageverfahrens in Übereinstimmung mit Teilen der Literatur
(vgl. etwa Eser aaO § 24 Rdn. 59; Tröndle/Fischer aaO
§ 24 Rdn. 35; Rudolphi in SK-StGB § 24 Rdn. 27b, 27c;
Vogler in LK 10. Aufl. § 24 Rdn. 112a; Jescheck/Weigend,
Strafrecht Allgemeiner Teil 5. Aufl. § 51 V 2; Wessels/Beulke,
Strafrecht Allgemeiner Teil, 31. Aufl. Rdn. 644; jeweils m.w.N.) an
seiner aus dem Leitsatz ersichtlichen Auffassung fest; er sieht
für die Fälle kausaler Erfolgsverhinderung auch keine
Notwendigkeit, im Grundsatz zwischen eigenhändiger
Verhinderung und Zuziehung Dritter zu differenzieren (vgl. dazu Roxin,
Festschrift für H.J. Hirsch, 1999, 327, 353 ff.). Für
den Fall des Versuchs eines unechten Unterlassungsdelikts ergibt sich
auch aus der Ingerenzhaftung des Garanten insoweit keine Besonderheit
(aA insbesondere Jakobs aaO, 29. Abschn. Rdn. 119). Die im Ergebnis
ungleiche Behandlung des Rücktritts vom beendeten untauglichen
Versuch, bei welchem mangels Kausalität der
Bemühungen stets der Maßstab des § 24 Abs.
1 Satz 2 StGB anzuwenden ist, sieht der Senat; dies rechtfertigt es
aber nicht, diesen Maßstab über den Wortlaut des
§ 24 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz StGB hinaus auf Fälle
kausaler Verhinderung anzuwenden. Erforderlich ist danach allein,
daß der Täter seinen Vollendungsvorsatz
vollständig aufgibt, im Fall bedingten Vorsatzes also den als
weiterhin möglich erkannten Taterfolg nicht mehr billigt; und
daß er - erfolgreich - eine solche
Rettungsmöglichkeit wählt, die er für
geeignet hält, die Vollendung zu verhindern.
c) Nach diesen Maßstäben ist der Angeklagte hier
strafbefreiend vom Versuch zurückgetreten. An der
Freiwilligkeit seines Handelns bestehen keine Zweifel. Daß er
die weiter bestehende und sich vergrößernde Gefahr
eines Erfolgseintritts auch nach seinem Entschluß zur
Verhinderung der Vollendung erkannte und unschwer durch
eigenhändiges Schließen der Gashähne
hätte abwenden können, steht der Strafbefreiung nach
§ 24 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz StGB, anders als das
Landgericht meint, nicht entgegen. Dafür, daß der
Angeklagte die von ihm ergriffenen Rettungsmaßnahmen nicht
für geeignet oder für gescheitert gehalten
hätte, fehlen Anhaltspunkte; alsbald nach seinem zweiten
Telefonanruf verlor er das Bewußtsein und damit die
Möglichkeit weiteren eigenen Handelns.
3. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben. Da weitere
Feststellungen, auf welche eine Verurteilung gestützt werden
könnte, nicht zu erwarten sind, war der Angeklagte
gemäß § 354 Abs. 1 StPO aus
Rechtsgründen freizusprechen. Die Anordnung der
Maßregel nach § 64 StGB durch das Landgericht und
die infolge seiner Alkoholabhängigkeit möglicherweise
fortbestehende Gefährlichkeit des Angeklagten stehen dem nicht
entgegen, weil die Freisprechung nicht im Hinblick auf eine jedenfalls
mögliche Schuldunfähigkeit des Angeklagten erfolgt
und daher auch eine isolierte Anordnung der Maßregel nicht in
Betracht kommt.
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