BGH,
Beschl. v. 20.12.2002 - StB 15/02 - 2 StE 8/96
StPO § 363 Abs. 1
§ 363 Abs. 1 StPO findet auf einen Wiederaufnahmeantrag, der
eine Änderung des Schuldspruchs zum Ziel hat, keine Anwendung.
BGH, Beschl. vom 20. Dezember 2002 - StB 15/02 - OLG Düsseldorf
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
2 StE 8/96
vom
20. Dezember 2002
in der Strafsache gegen
wegen Völkermordes u. a.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat nach Anhörung
des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 20.
Dezember 2002 beschlossen:
1. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten wird der
Beschluß des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 3.
Juli 2002 aufgehoben, soweit der Antrag auf Wiederaufnahme des
Verfahrens hinsichtlich der Ermordung von 22 Einwohnern des Dorfes
Grabska (Fall A II 8 h der Gründe des Urteils vom 26.
September 1997) als unzulässig verworfen worden ist.
In diesem Umfang ist die Wiederaufnahme des Verfahrens
zulässig.
2. Die weitergehende Beschwerde wird verworfen.
Gründe:
Der Beschwerdeführer begehrt die Wiederaufnahme des gegen ihn
geführten Strafverfahrens wegen Völkermordes, das
durch Urteil des Senats vom 30. April 1999 (BGHSt 45, 65)
rechtskräftig abgeschlossen worden ist. Das Oberlandesgericht
hat den Antrag als unzulässig verworfen. Die hiergegen
gerichtete sofortige Beschwerde hat teilweise Erfolg.
I.
Mit Urteil vom 26. September 1997 hat das Oberlandesgericht den
Beschwerdeführer wegen Völkermordes (§ 220 a
StGB aF) in elf Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit
"Mord an 22 Menschen" (Fall A II 8 h der Urteilsgründe), in
einem Fall in Tateinheit mit "Mord an sieben Menschen" (Fall A II 8 j),
in einem weiteren Fall in Tateinheit mit Mord (Fall A II 8 k) sowie in
mehreren Fällen in Tateinheit mit Körperverletzung
bzw. Freiheitsberaubung, zu lebenslanger Freiheitsstrafe als
Gesamtstrafe verurteilt, wobei es hinsichtlich jeder einzelnen Tat die
besondere Schwere der Schuld festgestellt hat. Auf die Revision des
Beschwerdeführers hat der Senat nach Beschränkung der
Verfolgung gemäß § 154 a Abs. 2 StPO das
Urteil dahin abgeändert, daß der
Beschwerdeführer wegen Völkermordes in Tateinheit mit
Mord in 30 Fällen zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt
ist.
Der Beschwerdeführer hat die Wiederaufnahme des Verfahrens
beantragt und den Antrag hilfsweise auf den Vorwurf des
Völkermordes in Tateinheit mit Mord in 22 Fällen
(Fall A II 8 h) beschränkt. Nach den hierzu getroffenen
Feststellungen erschoß der Beschwerdeführer an einem
Tag zwischen dem 12. und dem 16. Juni 1992 in dem Dorf Grabska 22
Angehörige der muslimischen Bevölkerungsgruppe. Diese
Feststellungen beruhen allein auf der Aussage des in der
Hauptverhandlung vernommenen Zeugen "Mirsad H. ", der seinen Angaben
zufolge das Geschehen vom Fenster eines Nachbarhauses aus
beobachtet hatte (UA S. 141 ff.).
Zur Begründung seines Wiederaufnahmeantrags hat der
Beschwerdeführer vorgetragen, bei dem Belastungszeugen "Mirsad
H. " habe es sich in Wahrheit um dessen Bruder Enes H. gehandelt.
Dieser habe nicht nur unter Eid falsche Personalien angegeben, vielmehr
hätten sich weder Mirsad noch Enes H. zum angeblichen
Tatzeitpunkt in Grabska aufgehalten. Keiner der beiden Brüder
habe somit die Vorgänge beobachten können, die der
Zeuge "Mirsad H. " in der Hauptverhandlung geschildert habe. Der
Beschwerdeführer verweist darauf, daß die
Staatsanwaltschaft Düsseldorf deshalb gegen Enes H. ein
Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Meineids eingeleitet hat
(810 Js 32/01), welches mit Verfügung vom 4. Februar 2002
wegen unbekannten Aufenthalts des Beschuldigten vorläufig
eingestellt worden ist. Zum Beweis seiner Behauptungen hat er mehrere
Zeugen benannt.
Das Oberlandesgericht hat mit dem angefochtenen Beschluß vom
3. Juli 2002 den auf § 359 Nr. 2 und Nr. 5 StPO
gestützten Wiederaufnahmeantrag als unzulässig
verworfen (§ 368 Abs. 1 StPO). Der Wiederaufnahme des
Verfahrens stehe § 363 Abs. 1 StPO entgegen. Denn auch beim
Wegfall des dem Fall A II 8 h zugrundeliegenden Tatgeschehens (der
Ermordung von 22 Menschen in Grabska) verbliebe es bei der Verurteilung
des Beschwerdeführers wegen Völkermordes in
Tateinheit mit Mord in acht Fällen, so daß es nicht
zu einer Strafbemessung aufgrund eines anderen Strafgesetzes
käme.
II.
Das gemäß §§ 372, 304 ff. StPO
zulässige Rechtsmittel hat Erfolg, soweit der
Beschwerdeführer die Wiederaufnahme des Verfahrens
hinsichtlich seiner Verurteilung wegen der Ermordung von 22
Angehörigen der muslimischen Bevölkerungsgruppe in
dem Dorf Grabska Mitte Juni 1992 (Fall A II 8 h der
Urteilsgründe) beantragt. Der weitergehende
Wiederaufnahmeantrag ist dagegen unzulässig, weil die
Urteilsfeststellungen zu den übrigen Tatkomplexen von dem
geltend gemachten Wiederaufnahmegrund nicht berührt werden.
1. Nach dem unter Zeugenbeweis gestellten Vorbringen des
Beschwerdeführers ist der Wiederaufnahmegrund des §
359 Nr. 2 StPO gegeben. Danach besteht der konkrete Verdacht,
daß der einzige Belastungszeuge "Mirsad H. " einen Meineid
geleistet hat. Da die Durchführung eines Strafverfahrens gegen
den angeblichen Tatzeugen wegen dessen unbekannten Aufenthalts derzeit
nicht möglich ist, steht das Fehlen der nach § 364
Satz 1 1. Halbs. StPO grundsätzlich erforderlichen
rechtskräftigen Verurteilung des Zeugen der
Zulässigkeit der Wiederaufnahme nicht entgegen (§ 364
Satz 1 2. Halbs.; vgl. BGHSt 39, 75, 86; OLG Düsseldorf GA
1980, 393, 396).
2. Der Wiederaufnahmeantrag scheitert auch nicht an § 363 Abs.
1 StPO. Der Beschwerdeführer strebt nicht lediglich eine
mildere Bestrafung an, sondern wendet sich gegen seine Verurteilung
wegen Mordes in 22 Fällen.
a) Inwieweit § 363 Abs. 1 StPO einem Wiederaufnahmeantrag
entgegensteht, der bei einer Verurteilung wegen mehrerer tateinheitlich
begangener Straftaten nur einen Teil des Schuldspruchs angreift, ist in
der Literatur umstritten.
Überwiegend wird die Wiederaufnahme nur für
zulässig erachtet, wenn sich der Antrag gegen die Anwendung
derjenigen Strafnorm richtet, der nach § 52 Abs. 2 Satz 1 StGB
die Strafe entnommen worden ist, oder wenn - wie im vorliegenden Fall -
alle angewandten Vorschriften die gleiche Strafdrohung enthalten
(Gössel in Löwe-Rosenberg, StPO 25. Aufl. §
363 Rdn. 7; Schmidt in KK 4. Aufl. § 363 Rdn. 10;
Meyer-Goßner, StPO 46. Aufl. § 363 Rdn. 3; Paulus in
KMR 8. Aufl. § 363 Rdn. 1). Diese Auffassung begegnet schon
deshalb Bedenken, weil sie in sich nicht stimmig ist: Daß bei
einer Verurteilung wegen mehrerer in Tateinheit stehender Delikte die
Wiederaufnahme des Verfahrens unzulässig sein soll, wenn sich
der Antrag nicht (auch) gegen die Anwendung des den Strafrahmen
bestimmenden Strafgesetzes richtet, beruht offensichtlich auf der
Erwägung, daß anderenfalls lediglich eine "andere
Strafbemessung auf Grund desselben Strafgesetzes" in Betracht
käme. Hängt aber nach § 363 Abs. 1 StPO die
Zulässigkeit der Wiederaufnahme davon ab, daß die
Strafe einem anderen Strafrahmen zu entnehmen wäre, wenn sich
das Vorbringen des Antragstellers in der erneuten Hauptverhandlung
bestätigen sollte, dann steht diese Vorschrift einem auf
einzelne Gesetzesverletzungen beschränkten
Wiederaufnahmeantrag auch dann entgegen, wenn alle angewandten
Strafvorschriften dieselbe Strafdrohung aufweisen (aA ohne Angabe von
Gründen Gössel, Schmidt, Meyer-Goßner und
Paulus, jeweils aaO). Denn gerade dann kann sich der Wegfall eines der
tateinheitlich verwirklichten Straftatbestände nicht auf die
Bestimmung des maßgeblichen Strafrahmens auswirken.
Zum Teil wird die Wiederaufnahme nur dann für
zulässig gehalten, wenn bei Fortfall der Verurteilung nach dem
minderschweren Delikt mit einer wesentlich milderen Bestrafung des
Verurteilten zu rechnen ist (Marxen/Tiemann StV 1992, 534, 536; Loos in
AK-StPO § 363 Rdn. 7). Von der Möglichkeit einer
milderen Bestrafung kann die Zulässigkeit der Wiederaufnahme
aber nicht abhängen. Wäre der
Beschwerdeführer nämlich wegen Mordes in 30
(tatmehrheitlichen) Fällen verurteilt worden, dann
könnte er unstreitig hinsichtlich einzelner Taten die
Wiederaufnahme des Verfahrens mit dem Ziel eines Teilfreispruchs
betreiben, obwohl auch in diesem Fall wegen der absoluten Strafe
für Mord eine mildere Strafe von vornherein ausgeschlossen
wäre.
b) Von den dargestellten Bedenken abgesehen, kann beiden Auffassungen
auch mit Blick auf den Gesetzeswortlaut und die Entstehungsgeschichte
sowie aus systematischen Erwägungen nicht gefolgt werden.
Vielmehr findet § 363 Abs. 1 StPO auf einen
Wiederaufnahmeantrag, der eine Änderung des Schuldspruchs zum
Ziel hat, keine Anwendung.
aa) § 363 Abs. 1 StPO stellt ausdrücklich auf den mit
der Wiederaufnahme verfolgten Zweck ab: Unzulässig ist danach
ein Wiederaufnahmeantrag, mit dem lediglich eine "andere Strafbemessung
auf Grund desselben Strafgesetzes" herbeigeführt werden soll.
Besteht dagegen - wie hier - das Wiederaufnahmeziel darin, einen
unrichtigen Schuldspruch zu beseitigen, in dem für den
Verurteilten eine eigenständige Beschwer liegt, greift die
Vorschrift ihrem Wortlaut nach nicht ein. Dies gilt auch dann, wenn ein
wegen mehrfacher tateinheitlicher Verletzung desselben Strafgesetzes
Verurteilter sich nur gegen die Anzahl der ihm zur Last gelegten
Gesetzesverletzungen wendet. Im Verhältnis zur Verurteilung
wegen Völkermordes in Tateinheit mit Mord in 30
Fällen ist die Verurteilung wegen Völkermordes in
Tateinheit mit Mord in acht Fällen keine Verurteilung auf
Grund desselben Strafgesetzes i. S. v. § 363 Abs. 1 StPO.
In diesem Sinne hat bereits der Staatsgerichtshof zum Schutze der
Republik entschieden. Unter Berufung auf den Wortlaut des damaligen
§ 403 StPO (der dem heutigen § 363 StPO entspricht)
erklärte er einen Wiederaufnahmeantrag für
zulässig, mit dem der Verurteilte die Aufhebung des
Schuldspruchs wegen Totschlags bezweckt, dabei aber die den Strafrahmen
bestimmende Verurteilung wegen des mit dem Totschlag in Tateinheit
stehenden Hochverrats nicht angegriffen hatte (Beschluß vom
26. Februar 1923, teilweise wiedergegeben in RG JW 1930, 3422).
Daß nach dem Wortlaut und dem Sinn des Gesetzes bei den
besonderen Wiederaufnahmegründen des § 359 Nr. 1 bis
4 StPO aF bereits die Möglichkeit einer günstigeren
Entscheidung im Schuldspruch die Wiederaufnahme rechtfertigen
könne, fand auch im zeitgenössischen Schrifttum
Zustimmung (Arndt GA 73 (1925), 166; aA Alsberg, Justizirrtum und
Wiederaufnahme (1913), S. 60).
bb) Eine eng am Wortlaut der Vorschrift orientierte Auslegung hat auch
die Gesetzgebungsgeschichte für sich. § 403 StPO in
der Fassung vom 1. Februar 1877 (RGBl 1877, 253, 325) geht auf den von
der Justizkommission des Reichstages während der Ersten Lesung
in den Entwurf eingefügten "§ 323 a" zurück.
Dem unzulässigen Wiederaufnahmeziel einer Änderung
allein in der Strafzumessung stellten die Befürworter der
Vorschrift den eine Wiederaufnahme rechtfertigenden Fall
gegenüber, daß sich nach Rechtskraft des Urteils
herausstelle, daß jemand eine schwerere oder geringere Tat
begangen habe als die Tat, deretwegen er verurteilt worden war (vgl.
Hahn, Materialien Bd. 3 Abt. 2, 2. Aufl. S. 1055). Der Wiederaufnahme
des Verfahrens mit dem Ziel einer Schuldspruchänderung sollte
die Vorschrift demnach gerade nicht entgegenstehen.
cc) Aus der eingeschränkten Zulässigkeit einer
Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 359 Nr. 5 StPO
läßt sich kein systematisches Argument für
ein anderes Verständnis des § 363 StPO ableiten.
Der (allgemeine) Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO
setzt voraus, daß die beigebrachten neuen Tatsachen oder
Beweismittel geeignet sind, "die Freisprechung des Angeklagten oder in
Anwendung eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung" zu
begründen. Gerade diese Einschränkung fehlt jedoch
bei den (speziellen) Wiederaufnahmegründen des § 359
Nr. 1 bis 4 und 6 StPO. Sie wäre im Rahmen des § 359
Nr. 5 StPO auch überflüssig, wenn die gleiche
Rechtsfolge bereits dem für alle Wiederaufnahmegründe
geltenden § 363 Abs. 1 StPO zu entnehmen wäre. Dem
kann nicht überzeugend entgegengehalten werden, daß
§ 363 StPO neben § 359 Nr. 5 StPO keine
eigenständige Bedeutung zukomme (so Gössel in
Löwe-Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 363 Rdn. 2;
Meyer-Goßner, StPO 46. Aufl. § 363 Rdn. 1). Dieser
Versuch, die beiden Vorschriften sachlich in Einklang zu bringen,
läßt die durch die Gesetzessystematik belegte
Entscheidung des Gesetzgebers außer acht, die verschiedenen
Wiederaufnahmegründe an unterschiedliche
Zulässigkeitsvoraussetzungen zu binden.
Die Ungleichbehandlung der verschiedenen Wiederaufnahmegründe
erscheint auch sachgerecht. § 359 Nr. 2 und Nr. 3 StPO haben
zwingend, § 359 Nr. 1 StPO hat regelmäßig
eine Straftat zum Nachteil des Verurteilten zur Voraussetzung.
§ 359 Nr. 6 StPO betrifft den vergleichbaren Fall,
daß das Urteil auf einer Verletzung der Europäischen
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten beruht.
Diese besonders schwerwiegenden und im allgemeinen offenkundigen (vgl.
§§ 359 Nr. 6, 364 StPO)
Rechtsverstöße zum Nachteil des Verurteilten
rechtfertigen die erleichterte Abänderbarkeit einer darauf
beruhenden Entscheidung, zumal der Gesetzgeber die
Wiederaufnahmegründe des § 359 Nr. 1 und Nr. 2 StPO
darüber hinaus auch in anderer Hinsicht privilegiert hat:
Gemäß § 370 Abs. 1 StPO wird der
ursächliche Zusammenhang zwischen den dort näher
bezeichneten Handlungen und dem Urteil widerlegbar vermutet (BGHSt 19,
365). Es wäre deshalb systemwidrig, durch eine weite Auslegung
des § 363 Abs. 1 StPO die speziellen
Wiederaufnahmegründe denselben Einschränkungen zu
unterwerfen, wie sie für § 359 Nr. 5 StPO gelten.
dd) Nicht zuletzt gebietet die Gerechtigkeit, daß in
Fällen wie dem vorliegenden die Beseitigung eines unrichtigen,
den Verurteilten schwer belastenden Schuldspruchs auch dann
möglich sein muß, wenn wegen der verbleibenden
Straftaten eine ihm günstigere Rechtsfolgenentscheidung
ausgeschlossen ist. Die §§ 359 ff. StPO dienen der
Lösung des Konflikts zwischen den Grundsätzen der
materiellen Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit, die sich beide aus
dem Rechtsstaatsprinzip ableiten (BVerfG MDR 1975, 468, 469). Innerhalb
der durch den Gesetzeswortlaut gezogenen Grenzen verdient deshalb
diejenige Auslegung des § 363 Abs. 1 StPO den Vorzug, welche
die Korrektur einer Fehlentscheidung ermöglicht, deren
Aufrechterhaltung derart dem Gebot der Gerechtigkeit
widerspräche, daß das allgemeine Interesse am
Fortbestand einer rechtskräftigen Entscheidung
zurücktreten muß. Angesichts des mit einer
Verurteilung wegen Mordes verbundenen gravierenden ethischen
Unwerturteils, darf der "zu Unrecht erhobene Vorwurf, 22 Menschenleben
kaltblütig ausgelöscht zu haben" (so der
Beschwerdeführer in seinem Wiederaufnahmeantrag), keinen
Bestand haben, wenn dieser Schuldspruch, wie vom
Beschwerdeführer vorgetragen, auf der vorsätzlichen
Falschaussage eines Zeugen beruht.
ee) Die hier vertretene Auslegung des § 363 Abs. 1 StPO
führt im Ergebnis nicht zu einer wesentlichen Erweiterung der
auf Ausnahmefälle zu beschränkenden
Möglichkeit, ein rechtskräftig abgeschlossenes
Verfahren wiederaufzunehmen.
Betroffen sind - entsprechend den Darlegungen unter cc) -
ausschließlich die speziellen Wiederaufnahmegründe
des § 359 Nr. 1 bis Nr. 4 und Nr. 6 StPO, deren
Voraussetzungen nur in seltenen Fällen vorliegen. Auf die
Behauptung einer Straftat (§ 359 Nr. 2 und Nr. 3 StPO) kann
ein Wiederaufnahmeverlangen in der Regel nur gegründet werden,
wenn diese durch eine rechtskräftige Verurteilung nachgewiesen
ist (§ 364 StPO). Die Aufhebung eines zivilgerichtlichen
Urteils (§ 359 Nr. 4 StPO) setzt die vorherige
Durchführung eines förmlichen Verfahrens voraus;
gleiches gilt gemäß § 359 Nr. 6 StPO
für die Feststellung einer Verletzung der
Europäischen Menschenrechtskonvention. Für die
große Masse der Wiederaufnahmeanträge, die auf den
weit gefaßten Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5
StPO gestützt werden, ordnet das Gesetz dagegen
ausdrücklich an, daß ihre Zulässigkeit an
die Möglichkeit einer günstigeren
Rechtsfolgenentscheidung geknüpft ist.
Im übrigen ist auch nicht in jedem Fall, in dem ein
Verurteilter zulässigerweise die Wiederaufnahme des Verfahrens
mit dem beschränkten Ziel betreibt, den Schuldspruch wegen
eines tateinheitlich verwirklichten, aber nicht den Strafrahmen
bestimmenden Delikts zu beseitigen, eine vollständige
Überprüfung dieses Schuldspruchs im Rahmen der
erneuten Hauptverhandlung geboten. Fällt der in Zweifel
gezogene weitere Tatvorwurf innerhalb der Tat nicht entscheidend ins
Gewicht, so kann - wenn das Vorbringen des Antragstellers im
Probationsverfahren genügende Bestätigung gefunden
hat und deshalb gemäß § 370 Abs. 2 StPO die
Wiederaufnahme des Verfahrens anzuordnen ist - einer
unökonomischen Durchführung einer aufwendigen
Hauptverhandlung dadurch begegnet werden, daß die
Strafverfolgung gemäß § 154 a Abs. 1 Nr. 1,
Abs. 2 StPO auf die vom Wiederaufnahmegrund nicht berührten
Teile der Tat beschränkt wird.
3. Die Wiederaufnahme des Verfahrens ist nur hinsichtlich des
Geschehens in Grabska (Fall A II 8 h der Urteilsgründe)
zulässig, weil sich eine Falschaussage des Zeugen "Mirsad H. "
nur auf diesen Teil der Tat ausgewirkt haben kann.
Rechtskräftige Urteile sind grundsätzlich
unabänderlich. Lediglich in eng umrissenen
Ausnahmefällen sieht das Gesetz die Wiederaufnahme des
Verfahrens vor. Daraus folgt, daß die Durchführung
der Wiederaufnahme auf den Teil des Schuldspruchs zu
beschränken ist, der durch den Wiederaufnahmegrund in Frage
gestellt wird (vgl. BGHSt 11, 361, 364).
Eine Wiederaufnahme des gesamten Verfahrens wird hier auch nicht
dadurch erzwungen, daß sämtliche vom
Beschwerdeführer begangenen Morde durch den tateinheitlich
verwirklichten Straftatbestand des Völkermordes (§
220 a StGB aF) sachlichrechtlich zu einer Tat verklammert werden (BGHSt
45, 65, 89 ff.). Zwar ist eine Wiederaufnahme des Verfahrens
grundsätzlich unzulässig, wenn sie nur einen Teil
einer einheitlichen Tat erfassen soll (BGHSt 14, 65, 88; BGHR OWiG
§ 85 Abs. 1 Zulässigkeit 1). Das gilt aber nicht,
wenn trotz sachlichrechtlicher Tateinheit ausnahmsweise mehrere
prozessuale Taten anzunehmen sind.
Regelmäßig bildet eine sachlichrechtlich
einheitliche Tat auch eine Tat im Sinne des § 264 StPO (BGHSt
13, 21, 23). Andererseits können aber sachlichrechtliche
Tateinheit und prozessuale Tatidentität nicht ohne weiteres
gleichgesetzt werden, weil sie verschiedene Funktionen
erfüllen (vgl. BVerfGE 56, 22 f.): Regelungsgegenstand des
§ 52 StGB ist die Bestimmung des maßgeblichen
Strafrahmens, während § 264 StPO den Gegenstand der
Urteilsfindung umreißt (vgl. BGHR VereinsG § 20 Abs.
1 Nr. 1 Organisationsdelikt 1). Im Einzelfall, insbesondere dann, wenn
untereinander an sich in Tatmehrheit stehende Straftaten durch ein
jeweils tateinheitlich verwirklichtes Delikt zur Tateinheit verklammert
werden, kann eine Tat im materiellrechtlichen Sinn prozessual in
mehrere Taten zerfallen (vgl. BGHSt 29, 288, 295 f.).
So verhält es sich hier: Die Ermordung von 22
Angehörigen der muslimischen Bevölkerungsgruppe in
Grabska Mitte Juni 1992 bildet einen in sich abgeschlossenen
Lebenssachverhalt und damit - bezogen auf den Tatbestand des §
211 StGB - eine selbständige Tat im Sinne von § 264
StPO. Der Wegfall dieser Tat ließe die Verurteilung des
Beschwerdeführers wegen Völkermordes in Tateinheit
mit Mord in acht Fällen wegen des in den Fällen A II
8 j und k der Urteilsgründe näher beschriebenen
Geschehens unberührt. Die Frage, ob der
Beschwerdeführer darüber hinaus zu recht wegen
weiterer 22 tateinheitlich begangener Fälle des Mordes
schuldig gesprochen worden ist, kann deshalb für sich genommen
Gegenstand des Wiederaufnahmeverfahrens sein.
III.
Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin,
daß der Rechtsfolgenausspruch von der Wiederaufnahme des
Verfahrens nicht berührt wird. Das gleiche gilt für
die Feststellung, daß die Schuld des
Beschwerdeführers besonders schwer wiegt. Das
Oberlandesgericht, das Tatmehrheit angenommen hatte, hat diese
Feststellung bereits für jeden Fall der Urteilsgründe
gesondert getroffen. Der neue Tatrichter hat Gelegenheit, die
Möglichkeit einer Beschränkung der Strafverfolgung
gemäß § 154 StPO auf die vom
Wiederaufnahmegrund nicht betroffenen Tatkomplexe zu prüfen,
wenn das Vorbringen des Beschwerdeführers in dem sich nun
anschließenden Probationsverfahren genügende
Bestätigung finden sollte.
Tolksdorf Pfister von Lienen |