BGH,
Beschl. v. 21.4.2009 - 1 StR 105/09
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
1 StR 105/09
vom
21. April 2009
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
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StGB § 176 Abs. 4 Nr. 1
Der Tatbestand des § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB ist auch dann
erfüllt, wenn das Opfer die über das Internet
übermittelten sexuellen Handlungen des Täters
zeitgleich am Bildschirm mitverfolgt.
BGH, Beschl. vom 21. April 2009 - 1 StR 105/09 - LG München I
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
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Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 21. April 2009
beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
München I vom 15. Dezember 2008 wird als unbegründet
verworfen, da die Nachprüfung des Urteils aufgrund der
Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des
Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu
tragen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen fünf tateinheitlich
begangener Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern in
weiterer Tateinheit mit der Verbreitung pornographischer Darbietungen
durch Teledienste zu einer Freiheitsstrafe in Höhe von einem
Jahr und sechs Monaten verurteilt. Außerdem hat es die
Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus
angeordnet. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des
Angeklagten, mit der er eine Verletzung materiellen Rechts
rügt. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
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1. Nach den Urteilsfeststellungen trat der mehrfach wegen
Sexualdelikten vorbestrafte Angeklagte am Mittag des 18. Mai 2007
über das Internet in Kontakt mit den Kindern R. , M. und S. D.
sowie C.
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Ma. und X. P. , die zur Tatzeit zwischen fünf und 13 Jahre alt
waren und an einem Computer im Wohnhaus der Familie D. /Co. in E.
(Belgien) im Internet surften. Während dieser Verbindung
wurden Live-Bilder des Angeklagten und der Kinder mittels Webcam
übertragen. Der Angeklagte, dessen
Steuerungsfähigkeit wegen einer bei ihm diagnostizierten
schweren Persönlichkeitsstörung und seiner
exhibitionistischen Neigungen, die schon zu früheren
Verurteilungen führten, erheblich im Sinne des § 21
StGB beeinträchtigt war, äußerte
zunächst gegenüber S. D. , dass er sie
„ficken“ wolle; außerdem fragte er sie,
ob sie sich nicht ausziehen wolle. S. D. drehte daraufhin die Webcam
weg und teilte dem Angeklagten mit, dass sie erst zwölf Jahre
alt sei. Daraufhin schrieb der Angeklagte den Kindern zurück:
„Ist egal wie alt ihr seid, willst du dich ausziehen? Ich
will dich ficken“. Anschließend richtete der
Angeklagte seine Webcam auf sein entblößtes Glied
und führte Onanierbewegungen durch, um sich sexuell zu
erregen, wobei es ihm darauf ankam, dass die Kinder seine Handlungen am
Bildschirm wahrnahmen.
2. Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der
Revisionsrechtfertigung hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des
Angeklagten ergeben.
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a) Insbesondere hat das Landgericht die Tat zu Recht als sexuellen
Missbrauch von Kindern gemäß § 176 Abs. 4
Nr. 1 StGB („sexuelle Handlungen vor einem Kind
vornimmt“) gewürdigt. Nach den rechtsfehlerfrei
getroffenen Feststellungen des Landgerichts waren die sexuellen
Handlungen des Angeklagten von einiger Erheblichkeit im Sinne des
§ 184f Nr. 1 StGB aF (jetzt § 184g Nr. 1 StGB), indem
er mit entblößtem Glied vor den Augen der Kinder
onanierte. Außerdem kam es ihm bei seinen Handlungen gerade
darauf an, die Kinder in das sexuelle Geschehen mit einzubeziehen. Sie
sollten seine sexuel-
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len Handlungen wahrnehmen (vgl. BGH NJW 2005, 1133, 1135). Dies wird
zum einen dadurch deutlich, dass der Angeklagte mit den Kindern
über das Internet - sexualbezogen - kommunizierte. So fragte
er S. D. zweimal, ob sie sich ausziehen wolle, und er
äußerte ihr gegenüber wiederholt, dass er
sie „ficken“ wolle. Zum anderen veränderte
er die Position der Webcam vor Beginn seiner Onanierbewegungen, so dass
diese direkt auf sein entblößtes Glied gerichtet war.
b) Dass sich der Angeklagte und die fünf Kinder bei der
Tatbegehung nicht in unmittelbarer räumlicher Nähe
zueinander befunden haben, sondern durch eine Live-Übertragung
miteinander über das Internet verbunden waren, steht der
Verwirklichung des Tatbestandes des § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB im
vorliegenden Fall nicht entgegen. Der Tatbestand ist nämlich
auch dann erfüllt, wenn eine räumliche Distanz
zwischen dem Täter und seinem konkreten Opfer im Wege einer
simultanen Bildübertragung überwunden wird, so dass
das Opfer die übermittelten sexuellen Handlungen des
Täters zeitgleich am Bildschirm mitverfolgen kann (vgl.
Hörnle in MK-StGB § 184f Rdn. 16).
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aa) Nach § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB sollen Kinder unter 14 Jahren
vor einer Beeinträchtigung ihrer Gesamtentwicklung durch das
Erleben von exhibitionistischen Handlungen geschützt werden,
die vor ihnen vorgenommen werden (BTDrucks. VI/1552 S. 17). Um dem
erheblichen Schuld- und Unrechtsgehalt eines sexuellen Missbrauchs von
Kindern gerecht zu werden, hat der Gesetzgeber die Strafandrohung im
Laufe der Jahre kontinuierlich heraufgesetzt. Waren exhibitionistische
Handlungen vor Kindern in der bis 31. März 1998 geltenden
Fassung noch mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe
bedroht, wurde diese Strafobergrenze durch das 6. StrRG vom 26. Januar
1998 (BGBl I S. 164) auf Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren
oder Geldstrafe erhöht. In
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der heute geltenden Fassung wurde, zurückgehend auf das
SexualdelÄndG vom 27. Dezember 2003 (BGBl I S. 1607), die
Mindeststrafandrohung auf drei Monate Freiheitsstrafe heraufgesetzt.
Die vom Gesetzgeber vorgenommenen Veränderungen, die zu einer
deutlichen Erhöhung des Strafniveaus geführt haben,
belegen somit, dass eine effektive und umfassende Regelung zum Schutz
der ungestörten Entwicklung von Kindern getroffen werden
sollte.
bb) Der darin zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Wille macht
deutlich, dass es nach dem Schutzzweck des § 176 Abs. 4 Nr. 1
StGB nicht auf eine unmittelbare Nähe zwischen Täter
und Opfer ankommen kann. Zwar ist die Strafbarkeit von sexuellen
Handlungen „vor“ einem anderen
gemäß § 184f Nr. 2 StGB aF (jetzt
§ 184g Nr. 2 StGB) auf solche Handlungen beschränkt,
die vor einem anderen vorgenommen werden, der den Vorgang wahrnimmt.
Dies bedeutet aber nicht, dass sich Täter und Opfer bei der
Tatbegehung zwangsläufig in unmittelbarer räumlicher
Nähe zueinander befinden müssen, was bei typischen
exhibitionistischen Handlungen, die in der Regel durch eine gewisse
Distanz zwischen Täter und Betrachter gekennzeichnet sind,
ohnehin selten vorkommen dürfte. Durch die in § 184f
Nr. 2 StGB aF verwendete Formulierung soll vielmehr klargestellt
werden, dass für die Verwirklichung des Straftatbestandes
nicht die räumliche Gegenwart des Opfers bei Vornahme der
sexuellen Handlungen ausschlaggebend ist, sondern die unmittelbare
Wahrnehmung des Opfers von dem äußeren Vorgang der
sexuellen Handlung (BTDrucks. VI/3521 S. 37). Ohne diese Wahrnehmung,
die nicht notwendig auf das Visuelle beschränkt sein muss,
fehlt es an einer intellektuellen Einbeziehung des Kindes in die
sexuelle Handlung und damit an einer vom Strafzweck erfassten
Einwirkung auf das Kind (vgl. BTDrucks. VI/3521 S. 25 zu § 174
Abs. 2 StGB).
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Dass es bei der Verwirklichung des Tatbestandes des § 176 Abs.
4 Nr. 1 StGB maßgeblich auf die Wahrnehmung des Kindes
ankommt und nicht auf eine unmittelbare räumliche
Nähe zwischen Täter und Opfer, wird auch bei einem
Vergleich mit den übrigen in § 176 Abs. 4 StGB
enthaltenen Tatbestandsvarianten deutlich. Keine der in § 176
Abs. 4 Nr. 2 bis 4 StGB genannten sexualbezogenen Einwirkungen auf ein
Kind erfordert eine unmittelbare räumliche Nähe
zwischen Täter und Opfer. Selbst Tathandlungen, die wie in
§ 176 Abs. 4 Nr. 3 und 4 StGB von wesentlich geringerer
Intensität sind, als die von § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB
erfassten, und dennoch die selbe Strafandrohung aufweisen, setzen eine
unmittelbare räumliche Beziehung nicht voraus. Vielmehr
stellen auch diese Varianten, die für die
Tatbestandsverwirklichung ein Einwirken auf ein Kind mittels
bloßer Gedankenäußerung, etwa durch
Schriften im Sinne des § 11 Abs. 3 StGB (§ 176 Abs. 4
Nr. 3 StGB) oder durch Vorzeigen pornographischer Abbildungen, durch
Abspielen von Tonträgern pornographischen Inhalts oder durch
Reden mit entsprechendem Inhalt (§ 176 Abs. 4 Nr. 4 StGB),
ausreichen lassen, wesentlich auf die Wahrnehmung solcher
Gedankenäußerungen durch das Kind ab. Nichts anderes
kann deshalb für die von § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB
erfassten sexuellen Handlungen gelten, zumal der Gesetzgeber bei der
Schaffung des Tatbestands durch das 4. StrRG vom 23. November 1973
(BGBl I 1725) noch nicht mit der Möglichkeit der
LiveÜbertragung sexueller Handlungen mittels Webcam und
Internet rechnen konnte (vgl. Hörnle in MK-StGB §
184f Rdn. 15).
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Dem steht auch nicht die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 31.
Oktober 1995 (BGHSt 41, 285) entgegen. In dieser verneinte der
Bundesgerichtshof eine Strafbarkeit nach § 176 Abs. 5 Nr. 2
StGB („ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen
vor ihm oder einem Dritten vornimmt“) in der bis zum 31.
März 1998 geltenden Fassung in einem Fall, in dem der
Täter
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nur über eine Telefonverbindung ein Kind zu sexuellen
Handlungen „vor ihm“ bestimmen wollte, weil es an
einer räumlichen Nähe zwischen Täter und
Opfer fehlte. Danach - ersichtlich auch mit Blick auf diese
Entscheidung - änderte der Gesetzgeber die Fassung der
Vorschrift dahin, dass das Kind sexuelle Handlungen „an
sich“ vornimmt (§ 176 Abs. 3 Nr. 2 StGB in Kraft
seit dem 1. April 1998). Mit dieser erweiterten Fassung wollte der
Gesetzgeber gerade auch den Fall erfassen, „dass sog.
Verbalerotiker Kinder durch Telefonanrufe“ zu sexuellen
Manipulationen veranlassen (BTDrucks. 13/9064 S. 11). Erfasst werden
damit auch durch den Täter veranlasste akustische oder
optische Aufzeichnungen der sexuellen Handlungen des Opfers, bei denen
der Täter sich nicht in räumlicher Nähe zu
dem Kind befindet (Lenckner in Schönke/Schröder, StGB
27. Aufl. § 176 Rdn. 13).
cc) Für das vorliegende Verfahren bedeutet dies, dass das
Landgericht zu Recht von einer Strafbarkeit des Angeklagten nach
§ 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB ausgegangen ist. Auch wenn sich der
Angeklagte und die fünf Kinder nicht in unmittelbarer
räumlicher Nähe zueinander befunden haben, so konnten
die Opfer das entblößte Glied und die
Onanierbewegungen des Angeklagten aufgrund der simultanen
Bildübertragung mittels Webcam und Internet am Bildschirm
ihres Computers unmittelbar wahrnehmen und verfolgen. Bei dieser
Fallgestaltung kann es keinen Unterschied machen, ob sich der
Täter mit seinen Opfern im selben Raum befindet und sich
entblößt oder ob er die mittlerweile bestehenden
technischen Möglichkeiten zur Überwindung der
räumlichen Distanz nutzt, um seine sexuellen Triebe auf diese
Weise auszuleben. Gerade die Möglichkeiten, die das Internet
und der Einsatz einer Webcam für einen Täter bieten,
nämlich dass er, wie im vorliegenden Fall, in eine Interaktion
mit seinen Opfern tritt bzw. die Webcam zu Nahaufnahmen seines Gliedes
einsetzt, führen zu einem intensiveren Erleben des
Tatgeschehens durch das Opfer als dies bei
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einem Exhibitionisten in der Regel der Fall ist, der sich von seinen
Opfern entfernt entblößt (vgl. Sander, Zur
Beurteilung exhibitionistischer Handlungen S. 51). Im Hinblick auf den
Willen des Gesetzgebers besteht kein Zweifel daran, dass Kinder zum
Schutz ihrer ungestörten Gesamtentwicklung vor solchen
Wahrnehmungen umfassend bewahrt werden sollen.
c) Der Rechtsfolgenausspruch ist - wie der Generalbundesanwalt in
seiner Stellungnahme vom 2. März 2009 dargelegt hat -
ebenfalls nicht zu beanstanden. Insbesondere bestehen gegen die
Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus nach
§ 63 StGB im Hinblick auf seine zahlreichen und erheblichen
einschlägigen Vorstrafen keinerlei Bedenken (vgl. zu den
Anordnungsvoraussetzungen bei exhibitionistischen Handlungen BGH
NStZ-RR 1999, 298).
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Nack Elf Graf
Jäger Sander |