BGH,
Beschl. v. 21.10.2008 - 4 StR 364/08
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
4 StR 364/08
vom
21. Oktober 2008
in der Strafsache
gegen
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: nein
Veröffentlichung: ja
StPO § 357
§ 357 StPO findet im Zusammenhang mit der Kompensation
rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen nach dem sog.
Vollstreckungsmodell keine Anwendung.
BGH, Beschluss vom 21. Oktober 2008 - 4 StR 364/08 - Landgericht
Saarbrücken
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1.
2.
zu 1.: wegen besonders schwerer sexueller Nötigung u.a. zu 2.:
wegen Freiheitsberaubung
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Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des
Generalbundesanwalts und der Beschwerdeführer am 21. Oktober
2008 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO
beschlossen:
I. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Saarbrücken vom 14. März 2008
1. im Schuldspruch zur Klarstellung dahin geändert, dass der
Angeklagte Y. der besonders schweren sexuellen Nötigung und
der Freiheitsberaubung schuldig ist;
2. aufgehoben,
a) soweit bezüglich der Angeklagten Y. und E. eine
Kompensation des Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK
nicht vorgenommen worden ist und
b) soweit bezüglich des Angeklagten Y. eine Entscheidung
gemäß § 67 Abs. 2 StGB über die
Vollstreckungsreihenfolge unterblieben ist.
II. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine
andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
III. Die weiter gehenden Revisionen werden verworfen.
Gründe:
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Das Landgericht hat den Angeklagten Y. wegen "sexueller
Nötigung, tatmehrheitlich begangen mit Freiheitsberaubung",
unter Einbeziehung der Strafen aus zwei Vorverurteilungen zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt und seine
Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Den Angeklagten
E. hat es wegen Freiheitsberaubung unter Einbeziehung der Strafen aus
drei Vorverurteilungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr
verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt.
Im Übrigen hat es den Angeklagten E. freigesprochen.
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Mit ihren Revisionen rügen die Angeklagten die Verletzung
sachlichen Rechts. Die Rechtsmittel haben in dem aus der
Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen sind
sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
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1. Das Landgericht hat bezüglich der vom Angeklagten Y.
begangenen sexuellen Nötigung zu Recht die Qualifikation des
§ 177 Abs. 4 Nr. 1 StGB als verwirklicht angesehen. Dies ist
in der Urteilsformel durch Verurteilung wegen besonders schwerer
sexueller Nötigung kenntlich zu machen (vgl. BGH StraFo 2005,
516 m.N.). Der Senat hat den Schuldspruch entsprechend
geändert.
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2. Die Revisionen der Angeklagten Y. und E. führen zur
Aufhebung des Urteils, soweit das Landgericht hinsichtlich der
Beschwerdeführer davon abgesehen hat, die nach den bisherigen
Feststellungen vorliegenden Verfahrensverzögerungen im Sinne
des Art. 6 Abs. 1 MRK nach den Grundsätzen des Beschlusses des
Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs
vom
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17. Januar 2008 - GSSt 1/07 (BGHSt 52, 124 = NStZ 2008, 234) zu
kompensieren.
a) Der zeitliche Abstand zwischen den Taten und dem Urteil des
Landgerichts beträgt mehr als vier Jahre und sechs Monate. Der
Angeklagte E. ist am 20. Juli 2005 verantwortlich vernommen worden, der
Angeklagte Y. am 30. August 2005. Das Landgericht hat die Anklage vom
23. November 2005 mit Beschluss vom 6. April 2006 zugelassen und
Termine für die Hauptverhandlung für die Zeit vom 8.
November bis zum 12. November 2006 bestimmt. Am 10. November 2006 hat
das Landgericht die Hauptverhandlung ausgesetzt und die psychiatrische
Begutachtung des Angeklagten Y. , des früheren Mitangeklagten
W. sowie des Geschädigten Q. angeordnet. Die am 12. Dezember
2007 auf den 13. Februar 2008 anberaumte Hauptverhandlung dauerte bis
zum 14. März 2008. Das Landgericht hat hierzu unter anderem
ausgeführt, die Anhängigkeit des Verfahrens bis zum
Beginn der ersten Hauptverhandlung am 8. November 2006 sei auch unter
Berücksichtigung der Überlastung der Kammer
unangemessen lang gewesen. Die Dauer der Unterbrechung der
Hauptverhandlung sei auch unter Berücksichtigung der Einholung
der psychiatrischen Sachverständigengutachten ebenfalls zu
lang gewesen, zumal jedenfalls die Begutachtung der Angeklagten auch in
der Zeit zwischen dem Eingang der Anklageschrift und dem ersten
Hauptverhandlungstermin hätte durchgeführt werden
können und Gerichte zudem gehalten seien, auf eine
zügige Mitwirkung von Sachverständigen hinzuwirken.
Das Landgericht hat zwar bei der Bemessung sowohl der Einzel als auch
der Gesamtstrafen die "lange Dauer des Verfahrens" strafmildernd
berücksichtigt. Es hat aber eine über die "im Rahmen
der Strafzumessung vorgenommene mildernde Anrechnung" hinausgehende
Kompensation der "bisherigen Verfahrensdauer" nach den
Grundsätzen des Be-
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schlusses des Großen Senats für Strafsachen des
Bundesgerichtshofs (BGHSt aaO) für nicht geboten erachtet.
Dies ist hier rechtsfehlerhaft.
Nach der Aufgabe der bisher praktizierten Strafabschlagslösung
zur Kompensation einer Verletzung des Beschleunigungsgebotes ist nach
dem nunmehr anzuwendenden Vollstreckungsmodell die Bemessung der
unrechts- und schuldangemessenen Strafe von der als
Entschädigung für die Verletzung des
Beschleunigungsgebotes des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK vorzunehmenden
Kompensation zu trennen (vgl. BGHSt aaO S. 146 f.). Danach dienen die
Feststellungen zu Art und Ausmaß der Verzögerung
sowie zu ihren Ursachen zwar wie bisher (vgl. dazu BGH NStZ 1999, 181)
zunächst als Grundlage für die Strafzumessung.
Insofern hat der Tatrichter in wertender Betrachtung zu entscheiden, ob
und in welchem Umfang der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil
sowie die besonderen Belastungen, denen der Angeklagte wegen der
überlangen Verfahrensdauer ausgesetzt war, bei der
Straffestsetzung in den Grenzen des gesetzlich eröffneten
Strafrahmens mildernd zu berücksichtigen sind (vgl. BGHSt 52,
124, 146). Wenn aber - wie hier - der Justiz anzulastende
Verfahrensverzögerungen festgestellt sind, ist neben der
Berücksichtigung der vorgenannten Milderungsgründe
bei der Strafzumessung und davon unabhängig eine Kompensation
der Verletzung des Beschleunigungsgebotes des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK
im Wege der Vollstreckungslösung vorzunehmen (vgl. BGHSt aaO;
BGH, Urteil vom 7. August 2008 - 3 StR 201/08 Rdn. 9).
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Soweit das Landgericht hinsichtlich der Beschwerdeführer von
einer Kompensation der sie betreffenden Verletzung des
Beschleunigungsgebotes abgesehen und zum konkreten Ausmaß der
sie betreffenden Verfahrensverzögerungen keine hinreichenden
Feststellungen getroffen hat (vgl. dazu BGHSt aaO S. 146), bedarf die
Sache daher neuer Verhandlung und Entscheidung.
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Einer Aufhebung der Feststellungen bedarf es hier aber nicht, weil der
neue Tatrichter zusätzliche Feststellungen zur
Verfahrensverzögerung wird treffen können, ohne sich
zu den bisherigen in Widerspruch zu setzen.
Er wird zunächst zu prüfen haben, ob vor dem
Hintergrund der vorgenommenen Strafmilderung zur Kompensation die
ausdrückliche Feststellung der rechtsstaatswidrigen
Verfahrensverzögerung genügt; ist dies der Fall, so
muss diese Feststellung in den Urteilsgründen klar
hervortreten (vgl. BGHSt 52, 124, 146). Reicht sie als
Entschädigung nicht aus, so ist festzulegen, welcher
bezifferte Teil der Strafe zur Kompensation der Verzögerung
als vollstreckt gilt (zu den Kriterien für die Bemessung vgl.
BGHSt aaO S. 146).
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b) Für eine Erstreckung der hinsichtlich der
Beschwerdeführer insoweit gebotenen Aufhebung des Urteils auf
den früheren Mitangeklagten W. , der keine Revision eingelegt
hat, ist kein Raum. § 357 StPO findet keine Anwendung, weil
die Aufhebung nicht wegen einer Gesetzesverletzung bei der Anwendung
des Strafgesetzes erfolgt. Die Aufhebung erfolgt vielmehr, weil das
Landgericht rechtsfehlerhaft von der Kompensation rechtsstaatswidriger
Verfahrensverzögerungen nach dem so genannten
Vollstreckungsmodell abgesehen hat, das sich inhaltlich an den nach der
Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1, Art. 13, Art. 34 MRK
hierfür maßgeblichen Kriterien ausrichtet (vgl.
BGHSt aaO S. 136 f.). Grundlage dieser von Fragen des Unrechts, der
Schuld- und Strafhöhe abgekoppelten Kompensation (vgl. BGHSt
aaO S. 129 und 138; BGH, Urteil vom 7. August 2008 - 3 StR 201/08 Rdn.
9) ist ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK bzw. gegen
das auch verfassungsrechtliche Gebot der Gewährung eines
fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG; vgl.
Meyer-Goßner StPO 51. Aufl. Einl. Rdn. 19 m. N.), mithin die
Verletzung einer Rechtsnorm über das Verfahren im Sinne des
§ 344 Abs. 2 StPO
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(vgl. BGH, Beschluss vom 23. Juni 2004 - 1 ARs 5/04; zur Abgrenzung zum
materiellen Recht vgl. Meyer-Goßner aaO § 337 Rdn.
8; Frisch in SK-StPO § 337 Rdn. 61, jew. m.w.N.). Die
Verletzung solcher Normen ist aber keine Gesetzesverletzung im Sinne
des § 357 StPO (vgl. Meyer-Goßner aaO § 357
Rdn. 11; Wohlers in SK-StPO § 357 Rdn. 22 m.N.).
Dass die Aufhebung hier auf die Sachrüge erfolgt und nicht auf
eine, soweit es sich um Verzögerungen vor Urteilserlass
handelt, grundsätzlich erforderliche Verfahrensrüge
(vgl. BGHSt 49, 342, 343 f.; Meyer-Goßner aaO Art. 6 MRK Rdn.
9 e m.N.), führt nicht zur (analogen) Anwendung der nach
allgemeiner Meinung (vgl. BGHR StPO § 357 Erstreckung 9;
Kuckein in KK-StPO 6. Aufl. § 357 Rdn. 23; Wohlers aaO Rdn.
52) als Ausnahmevorschrift eng auszulegenden Vorschrift des §
357 StPO. Zwar hat das Revisionsgericht auf Grund der Sachrüge
einzugreifen, wenn sich - wie hier - bereits aus den
Urteilsgründen ergibt, dass eine rechtsstaatswidrige
Verfahrensverzögerung vorliegt, oder wenn insoweit ein
sachlichrechtlicher Erörterungsmangel gegeben ist (vgl. BGHSt
49, 342). Der sachlich-rechtliche Mangel, der in einem solchen Fall zur
Aufhebung führt, liegt nach der Aufgabe der früher
praktizierten Strafabschlagslösung, bei der die Anwendung des
§ 357 StPO in Betracht gezogen worden ist (vgl. BGH NStZ 1996,
328; BGH, Beschluss vom 11. November 2004 - 5 StR 376/03, insoweit in
BGHSt 49, 342 nicht abgedruckt), aber nicht (auch) in einer
Gesetzesverletzung bei der Anwendung des materiellen Strafrechts. Durch
die Kompensation nach dem so genannten Vollstreckungsmodell, die allein
der Wiedergutmachung des durch die Verletzung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1
MRK entstandenen objektiven Verfahrensunrechts dient, auf die der
Betroffene gemäß Art. 13 MRK Anspruch hat, wird
vielmehr eine Art Staatshaftungsanspruch erfüllt, wie er in
gleicher Weise einer Partei eines Zivilprozesses
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oder einem an einem Verwaltungsrechtsstreit beteiligten Bürger
erwachsen kann (vgl. BGHSt 52, 124, 137 f.).
Eine analoge Anwendung des § 357 StPO kommt im
Übrigen schon deshalb nicht in Betracht, weil die Frage, ob
eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt, nach
den individuellen Umständen des Einzelfalles für
jeden Angeklagten eigenständig zu beurteilen ist (vgl. dazu
BGH, Urteil vom 9. Oktober 2008 - 1 StR 238/08 Rdn. 14).
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3. Die Revision des Angeklagten Y. beanstandet ferner zu Recht, dass
das Landgericht es unterlassen hat, gemäß §
67 StGB die Vollstreckungsreihenfolge festzulegen. Nach § 67
Abs. 2 Satz 2 StGB n.F. soll das Gericht mit der Anordnung der
Unterbringung in einer Entziehungsanstalt neben einer zeitlichen
Freiheitsstrafe von über drei Jahren bestimmen, dass ein Teil
der Strafe vor der Maßregel zu vollziehen ist. Die Sache
bedarf daher auch insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung. Einer
Aufhebung der Feststellungen bedarf es insoweit nicht. Der neue
Tatrichter wird gegebenenfalls hinsichtlich der Dauer des
Vorwegvollzugs ergänzende Feststellungen für die zu
treffende Prognose
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zu treffen haben, mit welcher konkreten Verweildauer des Angeklagten im
Maßregelvollzug zu rechnen ist.
Maatz Kuckein Athing
Ernemann Mutzbauer |