BGH,
Beschl. v. 21.9.2006 - 3 StR 345/06
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
3 StR 345/06
vom
21.9.2006
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Totschlags u. a.
- 2 -
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des
Beschwerdeführers und des Generalbundesanwalts - zu 2. auf
dessen Antrag - am 21. September 2006 gemäß
§ 349 Abs. 2 und 4 StPO einstimmig beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Hannover vom 31. Mai 2006 mit den Feststellungen - ausgenommen
denjenigen zu den Verletzungen des Nebenklägers - aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die
dem Nebenkläger dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an
eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in drei
Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit
gefährlicher und schwerer Körperverletzung und in
zwei Fällen in Tateinheit mit versuchter gefährlicher
Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun
Jahren verurteilt. Die Revision des Angeklagten, die sich mit einer
Einzelbeanstandung nur gegen den Strafausspruch wendet, aber
ausdrücklich die uneingeschränkte Aufhebung des
Urteils beantragt, hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen
Umfang Erfolg.
1
- 3 -
Nach den Feststellungen des Landgerichts hatte sich der zur Tatzeit 81
Jahre alte Angeklagte mit seinen drei Tatopfern in einer
Gaststätte harmonisch über einen längeren
Zeitraum hinweg unterhalten und dabei drei Glas Cola mit Rum getrunken,
ehe er ohne erkennbaren Anlass eine Pistole zog und nacheinander mit
direktem Tötungsvorsatz auf die drei am Tresen stehenden
Männer schoss. Dabei traf er den Nebenkläger P. in
den Hals und verursachte bei ihm eine Querschnittslähmung. Die
beiden anderen Opfer verfehlte er knapp. Die Gäste des Lokals
konnten dem Angeklagten sodann die Waffe entreißen. Eine
knapp zwei Stunden später entnommene Blutprobe ergab eine
mittlere Blutalkoholkonzentration von 2,14 ‰.
2
Der Angeklagte hat sich dahin eingelassen, ihm sei, nachdem er einige
Zeit mit den drei Männern zusammen Alkohol getrunken hatte,
schlecht geworden. Er habe deshalb bezahlt und die Gaststätte
verlassen. Im Freien sei ihm plötzlich "seitlich von hinten"
mehrfach ins Gesicht geschlagen, er sei zu Boden gebracht und dort
getreten worden. In dieser Situation habe er die Waffe aus der Jacke
gezogen und einmal auf einen Schatten geschossen. An dieser Einlassung
hat er auch angesichts der entgegenstehenden übereinstimmenden
Zeugenaussagen festgehalten. Dass die Patronenhülsen innerhalb
des Lokals aufgefunden worden waren, hat er damit erklärt, die
Schüsse müssten von dritten Personen
draußen abgegeben und die Hülsen sodann in das
Gebäude gebracht worden sein.
3
1. Die Annahme des Landgerichts, die Schuldfähigkeit des
Angeklagten sei nicht ausgeschlossen gewesen, hält rechtlicher
Nachprüfung nicht stand.
4
Das Landgericht ist, dem gerichtsmedizinischen
Sachverständigen folgend, von einer Blutalkoholkonzentration
von 2,71 ‰ zu Tatzeit ausgegangen.
5
- 4 -
Bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit hat es sich dem
psychiatrischen Sachverständigen angeschlossen. Dieser habe
bei dem Angeklagten eine leichte hirnorganische Veränderung
festgestellt, die - weil alterstypisch - nicht die Diagnose einer
"organischen Persönlichkeitsstörung" erlaube. Es habe
"keinerlei Hinweise für ein paranoides Verhalten des
Angeklagten gegeben". Ein Rückschluss aus der später
geäußerten paranoiden Verarbeitung des Tatgeschehens
durch den Angeklagten auf eine psychische Störung
während der Tat "sei aus gutachterlicher Sicht nicht zu
diskutieren" (UA S. 15). "Aus einer 'verrückten' Tat im Sinne
einer nicht nachvollziehbaren Tat" sei "nicht auf den Geisteszustand
und die psychische Verfassung eines Täters
zurückzuschließen" (UA S. 16).
Dies wird den Besonderheiten des Falles nicht gerecht. Diese liegen zum
einen in der Person des Angeklagten: Es handelt sich um einen bislang
unbestraften Mann von hohem Alter mit einer angesichts seiner
physischen Konstellation (Zustand nach Magenoperation, Diabetes, nur
gelegentlicher Alkoholkonsum) sehr starken Alkoholisierung zur Tatzeit.
Sie liegen zum anderen auch in der Tat, einer abrupt verlaufenden
Spontantat, bei der ein Motiv, weswegen der Angeklagte die hohe
Hemmschwelle zur versuchten Tötung von drei Menschen
überwunden hatte, nicht festzustellen war.
6
Es ist in der forensischen Fachliteratur anerkannt, dass hochgradige
Al-koholisierung zu Rauschdämmerzuständen mit
Halluzinationen und damit in Zusammenhang stehenden Angst- und
Erregungszuständen führen kann (vgl. Rasch/Konrad,
Forensische Psychiatrie, 3. Aufl. S. 226; Schmidt/Freyberger in
Helmchen u. a., Psychiatrie der Gegenwart Band 4 S. 247, 255, 257);
charakteristisch ist dabei der schnelle Wechsel von der
Bewusstseinsklarheit zum Dämmerzustand (vgl. Ritter in
Venzlaff, Psychiatrische Begutachtung, 1. Aufl.
7
- 5 -
S. 218, 220). Es liegt daher durchaus nicht fern, dass die massive
Alkoholisierung des nur gering alkoholgewöhnten Mannes
angesichts einer internistischen und altersbedingten
Vorschädigung des Gehirns zu einer deliranten Episode im Sinne
eines Rauschdämmerzustands geführt hat. Damit kann
der paranoischen Verarbeitung der Tat, an der die Kammer erkennbar
keinen Zweifel hat, nicht die Bedeutung abgesprochen werden
für die Prüfung, ob der Angeklagte bei der Tat
paranoisch war. Eine wahnhafte Verkennung der Situation durch den
Angeklagten zum Tatzeitpunkt wäre eine Erklärung
dafür, warum er die drei Opfer ohne von außen
erkennbaren Anlass töten wollte.
2. Die Feststellungen zu den Verletzungen des Nebenklägers P.
sind von dem Fehler nicht berührt. Sie können deshalb
bestehen bleiben. Der neue Tatrichter kann dazu ergänzende
Feststellungen treffen.
8
3. Für das neue Verfahren wird sich die Begutachtung des
Angeklagten durch einen Sachverständigen mit besonderer
Erfahrung auf dem Gebiet der Gerontopsychiatrie empfehlen. Dabei wird
auch darauf Bedacht zu nehmen sein, ob der Angeklagte - sei es
früher oder tatzeitnah - auch anderen Personen
gegenüber durch Verwirrtheit und Verkennung der
Realitäten aufgefallen ist.
9
- 6 -
Sollte der neue Tatrichter wieder zu einem Schuldspruch gelangen, wird
er zu berücksichtigen haben, dass - entgegen der Ansicht des
Landgerichts - eine zum Nachteil der Geschädigten K. und G.
versuchte gefährliche Körperverletzung hinter einem
versuchten Totschlag zurücktreten würde.
10
Winkler Miebach Pfister von Lienen Becker |