BGH,
Beschl. v. 23.4.2007 - GSSt 1/06
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
GSSt 1/06
vom
23. April 2007
in der Strafsache
gegen
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
StPO § 274
1. Durch eine zulässige Berichtigung des Protokolls kann auch
zum Nachteil des Beschwerdeführers einer bereits
ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge die
Tatsachengrundlage entzogen werden.
- 2 -
2. Die Urkundspersonen haben in einem solchen Fall vor einer
beabsichtigten Protokollberichtigung zunächst den
Beschwerdeführer anzuhören. Widerspricht er der
beabsichtigten Berichtigung substantiiert, sind erforderlichenfalls
weitere Verfahrensbeteiligte zu befragen. Halten die Urkundspersonen
trotz des Widerspruchs an der Protokollberichtigung fest, ist ihre
Entscheidung hierüber mit Gründen zu versehen.
3. Die Beachtlichkeit der Protokollberichtigung unterliegt im Rahmen
der erhobenen Verfahrensrüge der Überprüfung
durch das Revisionsgericht. Im Zweifel gilt insoweit das Protokoll in
der nicht berichtigten Fassung.
BGH, Beschl. v. 23. April 2007 - GSSt 1/06 - Landgericht
München I
wegen gefährlicher Körperverletzung
- 3 -
Der Große Senat für Strafsachen des
Bundesgerichtshofs hat durch den Präsidenten des
Bundesgerichtshofs Prof. Dr. Hirsch, die Vorsitzende Richterin am
Bundesgerichtshof Dr. Rissing-van Saan, die Vorsitzenden Richter am
Bundesgerichtshof Nack und Basdorf sowie die Richter am
Bundesgerichtshof Häger, Maatz, Dr. Wahl, Dr. Bode, Prof. Dr.
Kuckein, Pfister und Becker am 23. April 2007 beschlossen:
1. Durch eine zulässige Berichtigung des Protokolls kann auch
zum Nachteil des Beschwerdeführers einer bereits
ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge die
Tatsachengrundlage entzogen werden.
2. Die Urkundspersonen haben in einem solchen Fall vor einer
beabsichtigten Protokollberichtigung zunächst den
Beschwerdeführer anzuhören. Widerspricht er der
beabsichtigten Berichtigung substantiiert, sind erforderlichenfalls
weitere Verfahrensbeteiligte zu befragen. Halten die Urkundspersonen
trotz des Widerspruchs an der Protokollberichtigung fest, ist ihre
Entscheidung hierüber mit Gründen zu versehen.
3. Die Beachtlichkeit der Protokollberichtigung unterliegt im Rahmen
der erhobenen Verfahrensrüge der Überprüfung
durch das Revisionsgericht. Im Zweifel gilt insoweit das Protokoll in
der nicht berichtigten Fassung.
- 4 -
Gründe:
I.
1
Die Vorlage des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs an den
Großen Senat für Strafsachen betrifft die Frage, ob
die Beweiskraft eines berichtigten Hauptverhandlungsprotokolls
für das Revisionsgericht auch dann beachtlich ist, wenn
aufgrund der Protokollberichtigung einer bereits zulässig
erhobenen Verfahrensrüge zum Nachteil des
Beschwerdeführers die Tatsachengrundlage entzogen wird.
1. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Strafsache gegen
F. (1 StR 466/05) über eine Revision des Angeklagten zu
entscheiden, die sich zum Beweis eines formal
ordnungsgemäß gerügten Verfahrensfehlers
auf eine Sitzungsniederschrift beruft, die nach Erhebung der
Verfahrensrüge in dem Sinne berichtigt wurde, dass der
behauptete Verfahrensfehler in Wirklichkeit nicht geschehen sei.
2
a) Das Landgericht München I hat den Angeklagten wegen
gefährlicher Körperverletzung (§ 223 Abs. 1,
§ 224 Abs. 1 Nrn. 2 und 5 StGB) zu Freiheitsstrafe verurteilt.
Er hatte dem Geschädigten in einem Oktoberfestzelt mit einem
1,3 kg schweren gläsernen Krug zweimal wuchtig auf den
Hinterkopf und einmal in den Nackenbereich geschlagen. Der
Geschädigte wurde erheblich verletzt.
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b) Der Beschwerdeführer erhebt - neben der Sachbeschwerde -
eine Verfahrensrüge. Er beanstandet mit der am 7. Juli 2005
beim Landgericht eingegangenen Revisionsbegründung, der
Anklagesatz sei in der Hauptverhandlung nicht verlesen worden
(Verstoß gegen § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO). Er beruft
sich insoweit auf die negative Beweiskraft der Sitzungsniederschrift,
in der
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- 5 -
die Verlesung des Anklagesatzes - zunächst - nicht beurkundet
war. Hier hatte es lediglich geheißen:
"Der Vorsitzende stellte weiter fest, dass die Staatsanwaltschaft
München I gegen den Angeklagten am 20.01.05 Anklage zum
Schwurgericht des Landgericht München I erhoben hat, die mit
Eröffnungsbeschluss der Kammer vom 18.02.05
unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen wurde."
5
Am 18. August 2005 ergänzten der Strafkammervorsitzende und
die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle das Protokoll
hinsichtlich des ersten Hauptverhandlungstages dahingehend, dass an der
genannten Stelle des Protokolls der Satz angefügt wird:
"Der Vertreter der Staatsanwaltschaft verlas den Anklagesatz".
Auch in der Revisionsgegenerklärung der Staatsanwaltschaft
(§ 347 Abs. 1 Satz 2 StPO) wird unter Vorlage entsprechender
dienstlicher Äußerungen von Verfahrensbeteiligten
vorgetragen, dass der Anklagesatz in Wirklichkeit verlesen wurde. Zum
Beleg erklärte etwa der Berichterstatter der Strafkammer, die
Verlesung der rechtlichen Bewertung des Tatgeschehens als versuchter
Totschlag habe Unmutsäußerungen im Publikum
ausgelöst. Die Urkundsbeamtin verwies auf einen ihr bei der
Fertigung der Protokollreinschrift unterlaufenen
Übertragungsfehler aus den teilweise stenographischen
Aufzeichnungen während der Hauptverhandlung, in denen der
Hinweis auf die Verlesung des Anklagesatzes noch enthalten war. Das
entsprechende Blatt der vorläufigen Aufzeichnungen ist ihrer
dienstlichen Erklärung beigefügt.
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Die Verteidiger des Angeklagten wurden vor der Protokollberichtigung
angehört. Der Verteidiger in der tatrichterlichen
Hauptverhandlung, der die Revision nicht selbst begründet hat,
äußerte sich dabei wie folgt:
7
- 6 -
"An den entsprechenden Verfahrensabschnitt kann ich mich nicht konkret
erinnern; die Verlesung der Anklageschrift stellt einen Routinevorgang
dar. Allerdings vermute ich, dass ich mich hieran erinnern
könnte, wenn die Anklageschrift nicht verlesen worden
wäre, weil dies einen ungewöhnlichen Verfahrensablauf
darstellen würde. Auch diese Überlegung
führt aber nicht zu einer konkreten Erinnerung. Aufgrund
dieses Rückschlusses erscheint es mir aber durchaus
möglich, dass die Erinnerung der Urkundspersonen zutreffend
ist."
2. Der 1. Strafsenat möchte die Revision des Angeklagten
verwerfen. Die Verfahrensrüge hält er für
unbegründet, da er unter Aufgabe seiner Rechtsprechung zum
Verbot der "Rügeverkümmerung" (vgl. BGHSt 34, 11, 12;
NStZ 1984, 521; 1986, 374; 1995, 200, 201) die berichtigte
Sitzungsniederschrift als im Sinne von § 274 StPO beachtlich
erachtet, auch wenn durch die Berichtigung der Rüge die
Tatsachengrundlage entzogen wird. Da sich der 1. Strafsenat an der
beabsichtigten Entscheidung durch entgegenstehende Rechtsprechung der
anderen Strafsenate gehindert sieht, hat er mit Beschluss vom 12.
Januar 2006 (NStZ-RR 2006, 112, m. Anm. Fezer StV 2006, 290,
Jahn/Widmaier JR 2006, 166 und Lampe NStZ 2006, 366) bei den anderen
Strafsenaten gemäß § 132 Abs. 3 GVG
angefragt, ob an dieser Rechtsprechung festgehalten wird.
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Der 2. Strafsenat (Beschl. vom 31. Mai 2006 i.V.m. Beschl. vom 3. Juli
2006 - 2 ARs 53/06 = NStZ-RR 2006, 275) und der 3. Strafsenat (Beschl.
vom 22. Februar 2006 - 3 ARs 1/06) haben der vom 1. Strafsenat
vertretenen Rechtsansicht zugestimmt und entgegenstehende eigene
Rechtsprechung aufgegeben. Der 4. Strafsenat (Beschl. vom 3. Mai 2006 -
4 ARs 3/06 = NStZ-RR 2006, 273) und der 5. Strafsenat (Beschl. vom 9.
Mai 2006 - 5 ARs 13/06) haben an der bisherigen Rechtsprechung
festgehalten.
9
- 7 -
3. Daraufhin hat der 1. Strafsenat mit Beschluss vom 23. August 2006
(NJW 2006, 3582 m. Anm. Widmaier) dem Großen Senat
gemäß § 132 Abs. 2 und 4 GVG folgende
Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
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Ist die Beweiskraft (§ 274 StPO) des berichtigten Protokolls
für das Revisionsgericht auch dann beachtlich, wenn aufgrund
einer Protokollberichtigung hinsichtlich einer vom Angeklagten
zulässig erhobenen Verfahrensrüge zu Ungunsten des
Angeklagten die maßgebliche Tatsachengrundlage
entfällt?
11
4. Der Generalbundesanwalt hält die Vorlegungsfrage
für zu eng gefasst; sie sei auf alle Revisionen, insbesondere
auch auf diejenigen der Staatsanwaltschaft und des
Nebenklägers, zu erstrecken.
In der Sache selbst tritt der Generalbundesanwalt im Grundsatz der
Rechtsansicht des 1. Strafsenats bei, dass die Beweisregel des
§ 274 StPO auch hinsichtlich eines nachträglich
berichtigten Protokolls gelte. Die Vorschrift schaffe keine vom
wirklichen Verfahrensgeschehen abweichende formelle bzw. prozessuale
Wahrheit; § 274 StPO bezwecke vielmehr nur eine klare
Kompetenzverteilung zwischen der Tatsachen- und der Revisionsinstanz in
Form des grundsätzlichen Verbots, im Revisionsverfahren die
tatrichterliche Hauptverhandlung zu rekonstruieren. Im Interesse einer
fairen Verfahrensgestaltung und der Effektivität des
Rechtsmittels müsse der Beschwerdeführer jedoch vor
der Gefahr fehlerhafter Protokollberichtigungen geschützt
werden. Vor der Berichtigung seien daher dienstliche
Erklärungen und Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten
einzuholen und dem Beschwerdeführer rechtliches Gehör
zu gewähren. Verblieben bei der freibeweislichen
Überprüfung aus Sicht des Revisionsgerichts konkrete
Zweifel an der Korrektheit der Berichtigung, könne es ihr die
Beachtung im Sinne von § 274 StPO verwehren.
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- 8 -
Der Generalbundesanwalt hat beantragt zu beschließen:
13
a) Die nach Erhebung einer Verfahrensrüge erfolgte
Berichtigung des Hauptverhandlungsprotokolls ist für das
Revisionsgericht grundsätzlich auch dann im Sinne von
§ 274 StPO beachtlich, wenn dadurch der
Verfahrensrüge zu Ungunsten des Revidenten die
Tatsachengrundlage entzogen wird.
b) Bestehen aus Sicht des Revisionsgerichts konkrete Anhaltspunkte
für eine inhaltliche Unrichtigkeit der Protokollberichtigung,
so kann das Revisionsgericht die entscheidungserheblichen
Verfahrenstatsachen freibeweislich aufklären.
II.
14
1. Die Vorlegungsvoraussetzungen gemäß §
132 Abs. 2 und 4 GVG sind gegeben. Den Bedenken, die der 4. Strafsenat
im Hinblick auf die Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten
Rechtsfrage im konkreten Fall geäußert hatte (vgl.
NStZ-RR 2006, 273), ist der 1. Strafsenat mit ausführlicher
Begründung entgegengetreten (vgl. NJW 2006, 3582, 3583, 3586
f.). Dessen Beurteilung ist jedenfalls vertretbar und folglich
für den Großen Senat bindend (vgl. BGHSt 41, 187,
194; Franke in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 132
GVG Rdn. 42).
2. Die vorgelegte Rechtsfrage ist allerdings auf alle Revisionen -
namentlich auf diejenigen der Staatsanwaltschaft und des
Nebenklägers - zu erweitern. Wenngleich in der
höchstrichterlichen Rechtsprechung keine Entscheidungen
über eine Revision anderer Beschwerdeführer als des
Angeklagten ersichtlich sind, in denen es auf die relative
Unbeachtlichkeit einer Protokollberichtigung angekommen wäre,
so sind doch die tragenden Erwägungen in den
Entscheidungsgründen davon unabhängig, wer
Beschwerdeführer ist (vgl. nur grundlegend BGHSt 2, 125;
ebenso schon RGSt 43, 1; OGHSt 1, 277).
15
- 9 -
III.
16
Im Strafprozessrecht sind Zulässigkeit und Beachtlichkeit
einer Protokollberichtigung nicht ausdrücklich geregelt. Auch
die Gesetzesmaterialien zur Strafprozessordnung enthalten insoweit
keine eindeutigen Hinweise.
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1. Nach § 274 Satz 1 StPO kann die Beobachtung der
für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen
Förmlichkeiten (§ 273 Abs. 1 StPO) nur durch das
Protokoll bewiesen werden. Gegen den diese wesentlichen
Förmlichkeiten betreffenden Inhalt lässt das Gesetz
nur den Nachweis der Fälschung zu (§ 274 Satz 2
StPO). Bei § 274 StPO handelt es sich um eine Beweisregel (BGH
NJW 2006, 3579, 3581, zur Veröffentlichung in BGHSt 51, 88
bestimmt; Dahs AnwBl. 1950/51, 90 f.; Dallinger NJW 1951, 256, 257;
Fahl, Rechtsmißbrauch im Strafprozeß 2004 S. 687
f.), die nach der Fertigstellung des ordnungsgemäß
errichteten und von beiden Urkundspersonen unterzeichneten Protokolls
(§§ 271, 273 Abs. 4 StPO) gilt. Dies wurde
zunächst dahin verstanden, dass den Urkundspersonen -
außerhalb des Nachweises der Fälschung -
Protokollberichtigungen, soweit es um die wesentlichen
Förmlichkeiten des Verfahrens geht, von vorneherein versagt
sind, und zwar solche zugunsten wie zu Lasten des
Beschwerdeführers (in diesem Sinne noch RGSt 8, 141, 143 f.;
17, 346, 348). Die Frage nach der Beachtlichkeit von
Protokollberichtigungen würde sich danach nicht stellen.
Den Gesetzesmaterialien zur Strafprozessordnung im Zusammenhang mit
einer Protokollberichtigung (vgl. Hahn, Materialien zur StPO 2. Aufl.
S. 40, 256 ff., 1039, 1394) entnimmt der Große Senat nicht,
dass der Gesetzgeber selbst dann jeden Zweifel an der Richtigkeit des -
ursprünglichen - Protokollinhalts für unberechtigt
hielt, sollte eine Protokollberichtigung aufgrund sicherer Erinnerung
der Urkundspersonen erfolgen.
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- 10 -
2. In die Zivilprozessordnung, die eine der Vorschrift des §
274 StPO vergleichbare Bestimmung (§ 165 ZPO)
enthält, ist durch Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Entlastung
der Landgerichte und zur Vereinfachung des gerichtlichen Protokolls vom
20. Dezember 1974 (ProtVereinfG, BGBl I 3651) mit § 164 ZPO
eine Vorschrift eingefügt worden, nach der - unter
Anhörung der Beteiligten - Protokollberichtigungen vorgenommen
werden dürfen. Anders als für das Verwaltungs-,
Finanz- und Sozialgerichtsverfahren (Art. 3 Nr. 1, Art. 4 Nr. 1, Art. 5
Nr. 2 des ProtVereinfG: jeweils Verweisung auf die §§
159 bis 165 ZPO) hat der Gesetzgeber, der mit dem
Protokollvereinfachungsgesetz von 1974 die Praxis der Zivilgerichte zur
Protokollberichtigung (vgl. Zöller, ZPO 10. Aufl. S. 263) auf
eine gesetzliche Grundlage gestellt hat (BRDrucks. 551/74 S. 63;
BTDrucks. 7/2769 S. 10), diese Vorschrift nicht für den
Strafprozess für anwendbar erklärt.
19
IV.
Die Rechtsprechung hat nach anfänglichem Schwanken
Protokollberichtigungen im Strafverfahren zugelassen und dies im
Wesentlichen damit begründet, dass insoweit eine
auslegungsbedürftige Gesetzeslücke bestehe. Umfang
und Folgen zulässiger Berichtigungen wurden allerdings nicht
einheitlich bestimmt:
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1. Eine Protokollberichtigung ist jederzeit zulässig und
geboten, falls die Urkundspersonen Mängel erkennen (vgl. BGHSt
1, 259, 261; BGH JZ 1952, 281; NStZ 2005, 281, 282; RGSt 19, 367, 370;
OGHSt 1, 277, 278; anders noch RGSt 8, 141, 143 f.; 17, 346, 348). Sie
ist auch stets beachtlich, wenn sie zugunsten des
Beschwerdeführers wirkt (BGHSt 1, 259, 261 f.; RGSt 19, 367,
369 f.; 21, 200, 201; OLG Köln NJW 1952, 758) oder wenn sie -
bei einem einheitlichen Vorgang - teilweise zu seinen Gunsten,
teilweise zu seinen Ungunsten vorgenommen worden ist (BGHSt aaO; RGSt
56, 29; RG GA 57 [1910], 396; JW 1932, 3109).
21
- 11 -
Nach bisheriger Rechtsprechung ist eine Protokollberichtigung - ebenso
wie eine Distanzierung der Urkundspersonen vom Protokollinhalt (vgl.
hierzu BGHSt 4, 364; BGH NStZ 1988, 85) - jedoch unbeachtlich, wenn sie
einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge die
Tatsachengrundlage entzieht (Verbot der
Rügeverkümmerung). Dieser Rechtssatz hat eine lange
Tradition: Er findet sich - aufbauend auf der Rechtsprechung der
preußischen Obergerichte (vgl. RGSt 43, 1, 10) - schon zu
Beginn der Reichsgerichtsrechtsprechung (RGSt 2, 76, 77 f.). Er blieb
ständige Rechtsprechung des Reichsgerichts (grundlegend RGSt
43, 1 m.w.N.; ferner RGSt 56, 29; 59, 429, 431; 63, 408, 409 f.) bis zu
dem - die umfassende Beachtlichkeit einer Berichtigung bejahenden -
Beschluss des Großen Strafsenats für Strafsachen vom
11. Juli 1936 (RGSt 70, 241). Diese Entscheidung darf indessen im
Hinblick auf im Zusammenhang mit nationalsozialistischem Gedankengut
stehende Formulierungen keine Beachtung finden.
22
Der ursprünglichen Rechtsprechung zum Verbot der
Rügeverkümmerung folgten nach 1945 verschiedene
Obergerichte, unter anderem der Oberste Gerichtshof für die
Britische Zone (OGHSt 1, 277 [m.w.N. 279]; 3, 83, 84), und
schließlich der Bundesgerichtshof. Grundlegend war das Urteil
des 3. Strafsenats vom 19. Dezember 1951 (BGHSt 2, 125), das sich im
Wesentlichen den in RGSt 43, 1 und OGHSt 1, 277 dargelegten Argumenten
anschloss (nachfolgend BGHSt 7, 218, 219; 10, 145, 147; 10, 342, 343;
12, 270, 271; 22, 278, 280; 34, 11, 12; BGHR StPO § 274
Beweiskraft 11; 13; 27; 28; BGH NStE StPO § 344 Nr. 7; NStZ
1984, 521; 1995, 200, 201; 2002, 219; StV 2002, 183; JZ 1952, 281;
wistra 1985, 154; Urt. vom 21. Dezember 1966 - 4 StR 404/66). Diese
Rechtsprechung steht in Übereinstimmung mit der heute
herrschenden Meinung in der strafprozessualen Literatur (vgl. nur
Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 271
Rdn. 55 ff. m. zahlr. w. N.).
23
- 12 -
Soweit danach eine Protokollberichtigung für das
Revisionsgericht nicht beachtlich ist, führt dies dazu, dass
Sachverhalte, die aufgrund der formellen Beweiskraft des -
unberichtigten - Protokolls als unwiderlegbar vermutet werden, der
Verfahrenswirklichkeit nicht zu entsprechen brauchen (BGHSt 26, 281,
283; 36, 354, 358; RGSt 43, 1, 6).
24
25
2. Folgende Argumente werden für den Rechtssatz, wonach eine
Protokollberichtigung einer Rüge nicht die Tatsachengrundlage
entziehen darf, vorgebracht:
Mit dem Eingang der Revisionsbegründungsschrift erwerbe der
Beschwerdeführer eine prozessuale Befugnis bzw. ein
prozessuales Recht auf Beibehaltung der Grundlage seiner Rüge
für die Revisionsinstanz, zumal er selbst praktisch keine
Möglichkeit habe, die Berichtigung des Protokolls zu erzwingen
(BGHSt 2, 125, 126; RGSt 43, 1, 9; 59, 429, 431). Da er zur
Begründung seiner Verfahrensrüge nur das Protokoll in
der ihm vorliegenden Form verwerten dürfe, müsse ihm
das Recht zustehen, sich nachträglichen Änderungen zu
seinen Lasten zu widersetzen (OGHSt 1, 277, 280); er müsse
auch gegen eine nachträgliche Beseitigung des Mangels durch
Protokollberichtigung gesichert sein (BGHSt 2, 125, 127).
26
Der Gesetzgeber habe mit § 274 StPO eine Norm geschaffen, die
der Zweckmäßigkeit den Vorrang vor der absoluten
Wahrheit einräume (BGHSt 2, 125, 128; 26, 281, 283); das
Hauptverhandlungsprotokoll erzeuge gewisserma-ßen einen
Sachverhalt, der kraft gesetzlicher Vorschrift als Tatsache zu
behandeln sei ohne Rücksicht darauf, wie der wirkliche
Sachverhalt liegen möge (RGSt 43, 1, 6). Der Gesetzgeber habe
die mögliche Ausnutzung einer prozessrechtlich
zulässigen Befugnis zu wahrheitswidrigen Zwecken gesehen und
in Kauf genommen (RG aaO; OGHSt 1, 277, 282). Die Neugestaltung des
27
- 13 -
§ 274 StPO sei Sache des Gesetzgebers (BGH, Beschl. vom 30.
Mai 2001 - 1 StR 99/01; OGHSt 1, 277, 280).
28
Mit zunehmender Zeit lasse das Erinnerungsvermögen der
Urkundspersonen nach. Die Gefahr fehlerhafter Berichtigungen sei nicht
auszuschließen (BGHSt 2, 125, 128; RGSt 43, 1, 5; OGHSt 1,
277, 281).
29
Die zeitlich unbeschränkte Berücksichtigung
nachträglicher Berichtigungen wäre mit der nach Sinn
und Zweck des § 274 StPO zu erhebenden Forderung nach
genauester Abfassung der Sitzungsniederschrift nicht vereinbar. Denn
die Möglichkeit ihrer jederzeitigen Änderung
könne dazu führen, dass ihrer Herstellung weniger
Sorgfalt zugewendet werde (BGHSt 2, 125, 127; OGHSt 1, 277, 281).
Auch wenn eine Revision nur deshalb erfolgreich sei, weil sie einen
Sachverhalt vortrage, der der Verfahrenswirklichkeit nicht entspreche,
sei nicht zu besorgen, dass die Gerechtigkeit letztlich Schaden nehme.
Denn selbst bei missbräuchlicher Ausübung der durch
§ 274 StPO gewährten prozessualen Befugnis erreiche
der Beschwerdeführer nur, dass der Sachverhalt nochmals unter
gewissenhafter Beachtung aller sachlichen und verfahrensrechtlichen
Vorschriften erörtert und gerecht entschieden werde (OGHSt 1,
277, 282).
30
3. Das Verbot der Rügeverkümmerung war jedoch in der
Rechtsprechung nie unbestritten:
31
Anders als zunächst das Reichsgericht judizierte das
Reichsmilitärgericht (RMG 9, 35; 15, 281, 282). Wenngleich es
auf der Grundlage einer anderen Prozessordnung - diese ließ
gegen das Protokoll auch den Nachweis der Unrichtigkeit zu (§
335 Satz 2 MStGO) - zu entscheiden hatte, trat es auch auf der
Grundlage der Strafprozessordnung den Argumenten des Reichsgerichts
entgegen (vgl. RMG 9, 35, 41 ff.). Dessen II. Strafsenat wollte sich
der Auffassung
32
- 14 -
des Reichsmilitärgerichts anschließen. In dem von
ihm herbeigeführten Beschluss der Vereinigten Strafsenate
wurde die bisherige Rechtsprechung des Reichsgerichts jedoch
bestätigt (RGSt 43, 1). Nach 1945 hielt zunächst das
OLG Braunschweig (HESt 1, 192) eine nachträgliche
Protokollberichtigung zum Nachteil des Beschwerdeführers
für beachtlich.
33
Auch in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs finden sich gegen das
Verbot der Rügeverkümmerung Vorbehalte: Ob eine
Protokollberichtigung einer bereits erhobenen Rüge die
Grundlage entziehen darf, wurde vom 1. Strafsenat offen gelassen in NJW
1982, 1057 sowie vom 5. Strafsenat in BGHR StPO § 274
Beweiskraft 22 (vgl. auch BGH [3. Strafsenat] NStZ-RR 1997, 73).
Zweifel äußerte der 2. Strafsenat in NJW 2001, 3794,
3796 (kritisch derselbe Senat in diesem Zusammenhang auch in BGHSt 36,
354, 358 f.). Zuletzt sprachen sich definitiv - in obiter dicta - der
2. Strafsenat (BGHR StPO § 274 Beweiskraft 29 m. Anm.
Mosbacher JuS 2006, 39, 42 und Park StV 2005, 257) und der 1.
Strafsenat (NStZ 2006, 181) für eine Änderung der
Rechtsprechung zur Berücksichtigung einer
Protokollberichtigung trotz Rügeverlust aus.
4. Dieser Kritik am Verbot der Rügeverkümmerung
liegen folgende Erwägungen zugrunde:
34
Das Strafverfahrensrecht kenne keine Rechtsnorm, wonach für
das Revisionsgericht die Sitzungsniederschrift in ihrer
ursprünglichen Fassung, nicht nach ihrer Berichtigung im Sinne
von § 274 StPO beachtlich sei. "Ein prozessuales Recht der
Prozessbeteiligten, dass etwas nicht Geschehenes beurkundet oder etwas
Geschehenes nicht beurkundet wird, gibt es nicht" (RMG 9, 35, 41 f.).
35
Grundsätzlich sei auch für die Revisionsgerichte die
wahre Sachlage maßgeblich, wenn prozessual erhebliche
Tatsachen der Klärung bedürften (BGHSt 36, 354, 358
f.). Wenn tatsächlich kein Verfahrensfehler gegeben sei,
36
- 15 -
dürften bloße Mängel des Protokolls, welche
die Urkundspersonen erkannt und beseitigt hätten, kein
Revisionsgrund sein (vgl. BGHR StPO § 274 Beweiskraft 29; BGH
NJW 2001, 3794, 3796; RMG 9, 35, 43; OLG Braunschweig HESt 1, 192,
193). Ein Misstrauen in die Redlichkeit der Urkundspersonen sei
hingegen nicht gerechtfertigt (BGH NStZ 2006, 181). Eine von der
Verfahrenswirklichkeit abweichende prozessuale Wahrheit sei nicht
anzuerkennen, da § 274 StPO nicht die Tatsachen
verändere, es sich bei der Vorschrift vielmehr nur um eine
Beweisregel handele (BGH NJW 2006, 3579, 3581).
Bei Berücksichtigung der Protokollberichtigung
könnten durch Protokollmängel veranlasste
Verfahrensverzögerungen vermieden werden (BGHR StPO §
274 Beweiskraft 29; BGH NStZ 2006, 181). Die Ausweitung der
Rechtsprechung zur Lückenhaftigkeit des Protokolls
könnte begrenzt werden; die Problematik
rechtsmissbräuchlicher Verfahrensrügen würde
sich erübrigen (BGHR aaO).
37
V.
Der Große Senat beantwortet die vorgelegte Rechtsfrage wie
aus der Entscheidungsformel ersichtlich und gibt dabei den für
eine Änderung der Rechtsprechung zum Verbot der
Rügeverkümmerung sprechenden Argumenten den Vorzug:
38
1. Der Grundsatz, wonach einer zulässig erhobenen
Verfahrensrüge durch eine Protokollberichtigung nicht die
Tatsachengrundlage zum Nachteil des Beschwerdeführers entzogen
werden darf, beruht auf Rechtsprechung und kann durch Rechtsprechung
geändert werden; eines Gesetzes bedarf es nicht:
39
a) Die grundsätzlich umfassende Berücksichtigung der
nachträglichen Protokollberichtigung widerspricht dem Gesetz
nämlich nicht. Zwar lässt § 274 Satz 2 StPO
als Gegenbeweis gegen die Beurkundungen des Protokolls nur
40
- 16 -
den Nachweis der Fälschung zu. Eine Berichtigung durch
Erklärungen der Urkundspersonen enthält jedoch einen
Widerruf der früheren Beurkundung und entzieht ihr, soweit die
Berichtigung reicht, die absolute Beweiskraft, so dass es eines
Gegenbeweises nicht mehr bedarf (ebenso bereits RGSt 19, 367, 370).
Insbesondere auch deswegen hat die Rechtsprechung schon bisher
nachträgliche Protokollberichtigungen, die einer
Verfahrensrüge erst zum Erfolg verhelfen, für
beachtlich gehalten (RG aaO; ähnlich für sich
zugunsten des Beschwerdeführers vom Protokollinhalt
distanzierende Erklärungen der Urkundspersonen BGHSt 4, 364,
365; BGH NJW 2001, 3794, 3796; NStZ 1988, 85; RGSt 57, 394, 396 f.; OLG
Köln NJW 1952, 758).
b) Die Annahme, durch den Eingang der Revisionsbegründung
werde ein besonderes prozessuales Recht auf Beibehaltung der
Tatsachengrundlage für eine Rüge begründet,
findet im Gesetz keine Stütze. Der Revisionsführer
hat keinen Anspruch darauf, aus tatsächlich nicht gegebenen
Umständen Verfahrensvorteile abzuleiten (vgl. BGH NJW 2006,
3579, 3580; Gollwitzer in FS für Gössel S. 543, 558;
Lampe NStZ 2006, 366, 367; Lohse in Anwaltskommentar, StPO §
344 Rdn. 18). Ein etwaiges Vertrauen des Beschwerdeführers
dahingehend, dass ein - inhaltlich unrichtiges - Protokoll für
die Revisionsinstanz allein beachtlich bleibe, ist nicht
schützenswert und kann auch nicht auf das verfassungsrechtlich
verbürgte Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4
GG) gestützt werden (a.A. Jahn/Widmaier JR 2006, 166, 169;
Krawczyk HRRS 2006, 344, 353). Verfahrensrechte können nur
durch den tatsächlichen Verfahrensverlauf verletzt worden
sein. Dementsprechend ist nur ein auf dessen
Überprüfung bezogener effektiver Rechtsschutz
erforderlich. Einen weitergehenden, aus rechtsstaatlichen Prinzipien
abzuleitenden Anspruch des Beschwerdeführers, dass zu seinen
Gunsten Unwahres unter allen Umständen als wahr fingiert
bleiben muss, gibt es nicht. Da ein Recht auf Beibehaltung der
Grundlage für eine Rüge weder einfachgesetzlich
geregelt noch gar verfas-
41
- 17 -
sungsrechtlich verankert ist, gilt für die
Zulässigkeit und Beachtlichkeit von Protokollberichtigungen
auch kein Gesetzesvorbehalt.
42
2. Auch die Revisionsgerichte sind der Wahrheit verpflichtet; wenn
prozessual erhebliche Tatsachen aus der tatrichterlichen
Hauptverhandlung der Klärung bedürfen, muss
grundsätzlich der wahre Sachverhalt, wie er sich zugetragen
hat, maßgeblich sein (vgl. BGHSt 36, 354, 358 f.). Dies
spricht entscheidend dafür, die Regelung des § 274
StPO in einer Weise auszulegen, welche die inhaltliche Richtigkeit der
Sitzungsniederschrift gewährleistet.
a) Allerdings wird dem entgegengehalten, dass § 274 StPO nach
dem Willen des Gesetzgebers der Zweckmäßigkeit
Vorrang vor der Wahrheit einräume (so BGHSt 2, 125, 128; 26,
281, 283). Dieser Vorrang gilt aber schon jetzt nicht
uneingeschränkt. Denn damit wäre der unstreitige
Grundsatz nicht vereinbar, dass - wie bereits in anderem Zusammenhang
ausgeführt (IV 1 und V 1a) - Protokollberichtigungen und
distanzierende Erklärungen der Urkundspersonen beachtlich
sind, wenn sie das Revisionsvorbringen bestätigen (vgl. BGHSt
4, 364; BGH NStZ 1988, 85; RGSt 19, 367, 369 f.; 21, 323, 324 f.; 57,
394, 396 f.; OLG Köln NJW 1952, 758).
43
b) Der Wahrheitspflicht würde nicht dadurch Genüge
getan, dass die Wahrheit in eine "materielle" und eine "formelle" bzw.
"prozessuale Wahrheit" aufzuspalten wäre. Die Beweisregel des
§ 274 StPO schafft keinen von der (objektiven) Wahrheit
abweichenden Wahrheitsbegriff (so aber Cüppers NJW 1950, 930,
931 ff.; 1951, 259; Dahs, StraFo 2000, 181, 185; Jahn JuS 2007, 91 Fn.
3; Park StraFo 2004, 335, 337; Schneidewin MDR 1951, 193; vgl. auch
RGSt 43, 1, 6). Die Beweiskraft des Protokolls nach § 274 StPO
verändert nicht die Tatsachen, macht nicht aus Unwahrheit
Wahrheit (vgl. Detter StraFo 2004, 329, 334; ebenso Beulke, Der
Verteidiger im Strafverfahren 1980 S. 157, der aber "in diesem
Ausnahmefall eine Lüge (für) prozessual
zulässig" hält).
44
- 18 -
3. Die Verpflichtung zur Entscheidung auf der Grundlage eines
zutreffenden Sachverhalts erhält inzwischen durch das
Beschleunigungsgebot und den Gesichtspunkt des Opferschutzes
zusätzliches Gewicht.
45
46
a) Das Bundesverfassungsgericht hat in jüngerer Zeit - unter
Hinweis auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte (Urt. vom 31. Mai 2001 - Nr. 37591/97 -
Metzger gegen Deutschland - Rdn. 41 = NJW 2002, 2856, 2857) - mehrfach
betont, die durch eine Revisionsentscheidung bedingte
zusätzliche Verfahrensdauer sei bei der Berechnung der
Überlänge eines Verfahrens zwar nicht stets, aber
immer dann zu berücksichtigen, wenn das Revisionsverfahren der
Korrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastenden
Verfahrensfehlers gedient hat (BVerfG NJW 2003, 2897, 2898; 2006, 672,
673; vgl. auch BVerfGK 2, 239, 251 [jeweils 3. Kammer des Zweiten
Senats]). Bei erfolgreichen Verfahrensrügen wäre nach
dieser Auffassung wohl regelmäßig eine
kompensationspflichtige rechtsstaatswidrige
Verfahrensverzögerung gegeben; denn Verfahrensfehler kann nur
das Gericht begehen (vgl. BGH NJW 2006, 1529, 1533). Gerade auch die
nach bisheriger Rechtsprechung zur Urteilsaufhebung führende
Fiktion eines Verfahrensfehlers, die allein darauf beruht, dass die
Urkundspersonen durch eine unrichtige Sitzungsniederschrift den
Anschein eines in Wahrheit nicht vorgefallenen Verfahrensfehlers
erweckt haben, fällt in den Verantwortungsbereich der Justiz.
Vor diesem Hintergrund ist das Gewicht des für das Verbot der
Rügeverkümmerung früher vorgebrachten
Arguments, der Beschwerdeführer könne nicht mehr
erreichen, als dass der Sachverhalt nochmals unter gewissenhafter
Beachtung aller sachlichen und verfahrensrechtlichen Vorschriften
erörtert und gerecht entschieden werde (OGHSt 1, 277, 282),
stark relativiert.
b) Neben der Wahrheitspflicht und dem Beschleunigungsgebot kann auch
der Opferschutz gebieten, ein Urteil nicht allein wegen eines fiktiven
- unwahren - Sachverhalts aufzuheben. Liegt tatsächlich kein
Verfahrensfehler vor
47
- 19 -
und ist das Urteil auch sachlich-rechtlich nicht zu beanstanden, so ist
es nicht gerechtfertigt, Opferzeugen nach der "Feuerprobe" (Sowada NStZ
2005, 1, 7) in der ersten Hauptverhandlung nochmals einer
konfrontativen Vernehmung zu unterziehen. In diesem Sinne verpflichtet
auch der Rahmenbeschluss der Europäischen Union über
die Stellung des Opfers im Strafverfahren vom 15. März 2001
(ABlEG Nr. L 82 vom 22. März 2001) in Art. 3 Abs. 2 die
Mitgliedstaaten, "die gebotenen Maßnahmen (zu ergreifen),
damit ihre Behörden Opfer nur in dem für das
Strafverfahren erforderlichen Umfang befragen" (hierzu BGH NJW 2005,
1519, 1520 f.; vgl. auch BTDrucks. 15/1976 S. 8, 19 zu § 24
Abs. 1 Nr. 3 GVG n.F.).
4. Ebenso sind mit der Änderung der Rechtsprechung zum Verbot
der Rügeverkümmerung der Erfolgsaussicht bewusst
unwahrer Verfahrensrügen Grenzen gesetzt.
48
a) Eine veränderte Einstellung der Strafverteidiger zu der
Praxis, auf unwahres Vorbringen Verfahrensrügen zu
stützen, spricht dafür, die Zurückhaltung
bei der Berücksichtigung der Protokollberichtigung aufzugeben,
auch wenn mit der Berichtigung einer zulässig erhobenen
Rüge die Tatsachengrundlage entzogen wird.
49
aa) Die grundlegende Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum Verbot der
Rügeverkümmerung (BGHSt 2, 125) erging in einer Zeit,
in der die vom Verteidiger bewusst wahrheitswidrig erhobene
Verfahrensrüge nach verbreiteter Ansicht als standeswidrige
Verfehlung galt (vgl. Dahs AnwBl. 1950/51, 90: "Die wahrheitswidrige
Verfahrensrüge ist eine standesrechtliche Verfehlung" [S. 90];
"… der Anwalt, der die hier wiedergegebenen
Grundsätze nicht anerkennt, [muß] mit der Einleitung
eines ehrengerichtlichen Verfahrens seitens des Generalstaatsanwalts
rechnen" [S. 92]; ferner d. Nachw. b. Tepperwien in FS für
Meyer-Goßner S. 595, 598 f.).
50
- 20 -
Heute wird es hingegen schon als "anwaltlicher Kunstfehler" bezeichnet,
sich eines Fehlers im Protokoll jedenfalls nicht in der Weise zu
bedienen, dass ein anderer Verteidiger die Revision begründet
(vgl. hierzu G. Schäfer in FS 50 Jahre BGH S. 707, 726 f.
m.w.N.; ders., Die Praxis des Strafverfahrens 6. Aufl. Rdn. 1814;
ferner - gestützt auf die bisherige Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs - Dahs, Handbuch des Strafverteidigers von der 1.
Auflage 1969, Rdn. 754, bis zur neuesten 7. Aufl. [ab 4. Auflage Dahs
jun.] 2005, Rdn. 918: "… braucht der Verteidiger sich nicht
zu scheuen, von dem durch das Protokoll 'geschaffenen'
unverrückbaren Tatbestand als 'Wahrheit' auszugehen"). In der
Literatur wird sogar postuliert, dass das "Recht der Verteidigung zur
'unwahren Verfahrensrüge' … sakrosankt" sei
(Docke/v. Döllen/Momsen StV 1999, 583, 585), sogar die
"Pflicht zur Lüge" bestehe (vgl. Dahs StraFo 2000, 181, 185;
Leipold NJW-Spezial 2006, 521, 522; in vergleichbarem Sinne auch
Sarstedt/Hamm, Die Revision in Strafsachen 6. Aufl. Rdn. 292 ff.).
51
bb) All dies widerstreitet diametral den Vorstellungen, von denen der
Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung zur Unzulässigkeit
der Protokollrüge (BGHSt 7, 162) ausgegangen ist. Hier ist
ausgeführt, das Erfordernis der bestimmten Behauptung eines
Verfahrensfehlers führe dazu, dass der Verteidiger -
unbeschadet der Frage der Standeswidrigkeit seines Verhaltens -
jedenfalls "vor seinem Gewissen und nach außen hin die
Verantwortung für die Geltendmachung eines jeden
Verfahrensmangels übernehmen" muss, "indem er ihn ernstlich
behauptet und nicht etwa nur darauf hinweist, daß er sich aus
der Niederschrift ergebe"; dieses Erfordernis solle "einem
Mißbrauch rein formaler Möglichkeiten
entgegenwirken" (BGH aaO 164; hierzu Fahl, Rechtsmißbrauch im
Strafprozeß 2004 S. 665 f.; Tepperwien in FS für
Meyer-Goßner S. 595, 599).
52
Die veränderte Einstellung auf Seiten der Strafverteidiger hat
verdeutlicht, dass sich die mit der Rechtsprechung zur
Unzulässigkeit der Protokollrüge
53
- 21 -
verknüpfte Hoffnung nicht erfüllt hat, auf diese
Weise - insbesondere durch den Appell an das Gewissen des die Revision
begründenden Verteidigers - bewusst unwahre
Verfahrensrügen zu verhindern. Vielmehr hat diese
Rechtsprechung den Rat nach sich gezogen, Unwahres ohne weiteres als
tatsächlich geschehen zu behaupten; denn die Vorschrift des
§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO schließe "jeden
Formulierungs- oder Formelkompromiß in der
Revisionsbegründung aus, zu dem zart besaitete
Strafverteidiger - falls es solche gibt - sich durch ihr Gewissen
gedrängt sehen könnten. Die Revisionsgerichte ahnden
derartige Relikte von Wahrheitsliebe (gemeint: angedeutete
Distanzierung vom Protokollinhalt) mit unnachsichtiger Strenge" (Dahs
StraFo 2000, 181, 185).
Die Änderung des anwaltlichen Ethos ist ein weiteres Argument
für die Änderung der Rechtsprechung.
54
b) Die prozessuale Wirksamkeit auch einer bewusst unwahren
Verfahrensrüge wurde von der Rechtsprechung trotz erkennbaren
Unbehagens und geäußerter Zweifel bis vor kurzem nie
verneint (vgl. BGHSt 7, 162, 164; BGHR StPO § 274 Beweiskraft
21; 22; 24; 27; BGH NJW 2001, 3794, 3796; RGSt 43, 1; OGHSt 1, 277,
282; Detter StraFo 2004, 329, 334; Park StraFo 2004, 335, 337;
Tepperwien in FS für Meyer-Goßner S. 585). Erst in
neuerer Zeit hat der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die
nachgewiesenermaßen wahrheitswidrige Behauptung eines
Verfahrensfehlers unter Berufung auf das insoweit fehlerhafte Protokoll
dann als rechtsmissbräuchlich missbilligt, wenn der
Beschwerdeführer - im Fall der Angeklagtenrevision (auch) der
Verteidiger in der Revisionsinstanz - sicher weiß, dass sich
der Fehler nicht ereignet hat, und zwar auch dann, wenn er Kenntnis
erst im Laufe des Revisionsverfahrens erhält (BGHSt 51, 88 =
NJW 2006, 3579 m. Anm. Benthin NJ 2007, 36, Fahl JR 2007, 34,
Hollaender JR 2007, 6, Jahn JuS 2007, 91, Lindemann/Reichling StV 2007,
152 und Widmaier NJW 2006, 3587). Der solchermaßen
rügevernichtende
55
- 22 -
Missbrauch prozessualer Rechte ist allerdings
regelmäßig nicht leicht nachweisbar (BGH NJW 2006,
3579, 3582).
56
5. Eine Änderung der Rechtsprechung zum Verbot der
Rügeverkümmerung begegnet zudem der Tendenz zur
Ausweitung der Rechtsprechung zu offensichtlichen Mängeln des
Protokolls (ebenso BGHR StPO § 274 Beweiskraft 29). Diese
Rechtsprechung (vgl. BGH NJW 2001, 3794; NStZ 2000, 546) geht
mittlerweile sehr weit; ihr fehlen - jedenfalls in Grenzfällen
- hinreichend klare und verlässliche Konturen. Diese Tendenz
ist gerade vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Folgen der relativen
Unbeachtlichkeit der Protokollberichtigung als nicht mehr tragbar
empfunden werden. In der Literatur wird hierzu vorgebracht, die Senate
suchten in Grenzfällen geradezu nach Möglichkeiten
der Durchbrechung der formellen Beweiskraft der Sitzungsniederschrift
(Detter StraFo 2004, 329, 330; Park StraFo 2004, 335, 338, 340; krit.
auch Docke/v. Döllen/Momsen StV 1999, 583 f.; Kuhn NJW-Spezial
2006, 567; Ventzke StV 2004, 300 f.).
6. Eine Beibehaltung der bisherigen Rechtsprechung ist auch nicht unter
dem Gesichtspunkt geboten, dass auf diese Weise die Tatgerichte zum
Einhalten der Vorschriften über die Protokollführung
anzuhalten wären (so aber BGHSt 2, 125, 127; OGHSt 1, 277,
281; Jahn/Widmaier JR 2006, 166 f.; Meyer-Goßner DRiZ 1997,
471, 474; Park StraFo 2004, 335, 342; ders. StV 2005, 257, 259). Die
Tragfähigkeit einer solchen Argumentation ist schon bislang
zweifelhaft; denn gerade ein Protokoll, das offensichtlich
unsorgfältig geführt ist, verliert von vorneherein
jede Beweiswirkung und die Revisionsgerichte klären im
Freibeweisverfahren, ob ein Verfahrensfehler vorliegt. Im Ergebnis wird
bislang gerade derjenige "Tatrichter, der das
Hauptverhandlungsprotokoll nachlässig führt,
… prämiert" (Ventzke StV 2004, 300, 301).
57
- 23 -
7. Die Berichtigung setzt bei den Urkundspersonen sichere Erinnerung
voraus (vgl. nur Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl.
§ 271 Rdn. 47 ff. m.w.N.). Fehlt es hieran, kann das Protokoll
nicht (mehr) berichtigt werden. Ein Argument gegen die umfassende
Berücksichtigung einer Berichtigung durch das Revisionsgericht
ist die Erfahrung nachlassender Erinnerung grundsätzlich
nicht. Dass die Urkundspersonen unbewusst Erinnerungsdefizite mit
"Erfahrungswissen" ausfüllen (Jahn/Widmaier JR 2006, 166, 167;
vgl. auch BGHSt 2, 125, 128 f.; OGHSt 1, 277, 281; Park StV 2005, 257,
259), liegt gerade bei den in der Literatur für problematisch
erachteten Fällen, in denen es um den sachlichen Inhalt nicht
regelmäßiger Prozesshandlungen (etwa bei Hinweisen
nach § 265 StPO) geht (vgl. Jahn/Widmaier aaO 167 ff.), fern.
Häufig kann eine Urkundsperson auch auf andere Unterlagen als
Erinnerungsstütze zurückgreifen, wie in dem der
Vorlegung zugrunde liegenden Fall die Urkundsbeamtin auf die
unmittelbar während der Verhandlung getätigten
Aufzeichnungen, die Grundlage der Sitzungsniederschrift waren; oftmals
beruhen Protokollmängel auf derartigen
Übertragungsfehlern. Schließlich stammt der Hinweis
auf das nachlassende Erinnerungsvermögen aus einer Zeit, als
es die Vorschrift über die Urteilsabsetzungsfristen
(§ 275 Abs. 1 StPO), die insgesamt
regelmäßig zu einer zeitlichen Straffung des
Verfahrens nach der Hauptverhandlung geführt haben, noch nicht
gab.
58
Das Argument, dass dem berichtigten Protokoll schon deshalb ein
tatsächlich geringerer Beweiswert zukomme, weil sich die
Urkundspersonen zuvor übereinstimmend geirrt haben
müssten (vgl. Tepperwien in FS für
Meyer-Goß-ner S. 595, 605), hält der Große
Senat nicht für durchgreifend. Dass beide Urkundspersonen bei
der Anfertigung des ursprünglichen Protokolls nicht
gewissenhaft genug waren, wird nämlich dadurch ausgeglichen,
dass besonders hohe Anforderungen an die Sorgfalt bei der Berichtigung
gestellt werden. Ein übereinstimmender Irrtum im Sinne einer
gemeinsamen Fehlvorstellung der Ur-
59
- 24 -
kundspersonen liegt nach aller forensischer Erfahrung ohnehin nicht
vor. Dies würde voraussetzen, dass die Urkundspersonen
über die Einzelheiten des Prozessgeschehens und dessen -
fehlende - Beurkundung gleich reflektiert hätten. So spricht
etwa in dem der Vorlegung zugrunde liegenden Fall nichts
dafür, dass der Vorsitzende und die Protokollführerin
zunächst bei der Protokollerstellung noch
übereinstimmend davon überzeugt waren, der Vertreter
der Staatsanwaltschaft habe den Anklagesatz nicht verlesen.
VI.
Zusätzliche Gewähr für die Richtigkeit der
nachträglichen Änderung der Sitzungsniederschrift
bietet eine rechtlich verbindliche Form der Protokollberichtigung, die
zu einer im Revisionsverfahren überprüfbaren
Entscheidungsgrundlage führt. Dies sichert die
Effektivität des Rechtsmittels der Revision (vgl.
Jahn/Widmaier JR 2006, 166, 169) und trägt im Fall der
Angeklagtenrevision dessen verfassungsrechtlich verbürgtem
Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) Rechnung.
Lässt sich jedoch zuverlässig ausschließen,
dass sich die Urkundspersonen an ein der Verfahrenswirklichkeit nicht
entsprechendes Prozessgeschehen irrtümlich vermeintlich sicher
erinnern, so haben die Argumente, welche das Verbot der
Rügeverkümmerung mit dem Schutz des
Beschwerdeführers bzw. der prozessualen Waffengleichheit
begründen (vgl. Fezer StV 2006, 290, 291; Tepperwien aaO 604),
kein Gewicht.
60
1. In Fällen der vorliegenden Art ist zur Sicherung der
Effektivität des Rechtsmittels bei der Protokollberichtigung
folgendes Verfahren einzuhalten:
61
Wie bereits dargelegt (V 7), setzt die Berichtigung sichere Erinnerung
bei den Urkundspersonen voraus. Die Absicht der Berichtigung ist dem
Beschwerdeführer - im Fall einer Angeklagtenrevision zumindest
dem Revisionsverteidiger - zusammen mit dienstlichen
Erklärungen der Urkundspersonen mitzuteilen. Diese
Erklärungen haben die für die Berichtigung tragenden
Erwägungen zu
62
- 25 -
enthalten, etwa indem sie auf markante Besonderheiten des Falls
eingehen, wie hier etwa darauf, dass die Verlesung der rechtlichen
Würdigung des Tatgeschehens zu
Unmutsäußerungen der Zuhörer
führte. Daneben sollten gegebenenfalls während der
Hauptverhandlung getätigte Aufzeichnungen, welche den
Protokollfehler belegen, in Abschrift übermittelt werden. Dem
Beschwerdeführer ist innerhalb angemessener Frist rechtliches
Gehör zu gewähren.
Widerspricht der Beschwerdeführer daraufhin der beabsichtigten
Protokollberichtigung substantiiert, indem er im Einzelnen darlegt, aus
welchen Gründen er im Gegensatz zu den Urkundspersonen sicher
ist, dass das zunächst gefertigte Protokoll richtig ist, so
sind erforderlichenfalls weitere dienstliche Erklärungen und
Stellungnahmen der übrigen Verfahrensbeteiligten einzuholen.
Auch hierzu ist dem Beschwerdeführer eine angemessene Frist
zur Stellungnahme zu gewähren. Halten die Urkundspersonen die
Niederschrift weiterhin für inhaltlich unrichtig, so haben sie
diese gleichwohl zu berichtigen. In diesem Fall ist ihre Entscheidung
über die Protokollberichtigung - dies ergibt sich bereits aus
allgemeinen Rechtsgedanken (vgl. § 34 StPO) - mit
Gründen zu versehen. Darin sind die Tatsachen anzugeben,
welche die Erinnerung der Urkundspersonen belegen. Ferner ist auf das
Vorbringen des Beschwerdeführers und gegebenenfalls
abweichende Erklärungen der übrigen
Verfahrensbeteiligten einzugehen.
63
2. Eine erneute Zustellung des Urteils nach Berichtigung der
Sitzungsniederschrift ist nicht erforderlich. Nach § 273 Abs.
4 StPO setzt eine wirksame Zustellung einzig voraus, dass die
Niederschrift fertig gestellt ist. Die Fertigstellung erfolgt zu dem
Zeitpunkt, zu dem die letzte der beiden erforderlichen Unterschriften
geleistet wurde (§ 271 Abs. 1 StPO), selbst wenn die
Niederschrift sachlich oder formell fehlerhaft ist oder Lücken
aufweist (vgl. Engelhardt in KK-StPO 5. Aufl. § 271 Rdn. 8;
Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 271
Rdn. 31, § 273 Rdn. 56). Spätere Berichtigungen
derartiger Mängel be-
64
- 26 -
rühren den Zeitpunkt der Fertigstellung nicht mehr (vgl.
Gollwitzer aaO). Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht unter
dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes. In seinem Vertrauen, eine
bestimmte Verfahrensrüge werde erfolgreich sein, wird der
Beschwerdeführer auch sonst nicht geschützt.
65
3. Die Gründe der Berichtigungsentscheidung unterliegen im
Rahmen der erhobenen Verfahrensrüge der
Überprüfung durch das Revisionsgericht. Tragen sie
die Berichtigung, so ist das berichtigte Protokoll zugrunde zu legen.
Allerdings kommt dem berichtigten Teil des Protokolls nicht die
formelle Beweiskraft des § 274 StPO zu. Nur so ist das
Revisionsgericht in der Lage, zum Schutz der Beschwerdeführer
die rügevernichtende Protokollberichtigung zu
überprüfen. Verbleiben dem Revisionsgericht Zweifel,
ob die Berichtigung zu Recht erfolgt ist, kann es den Sachverhalt im
Freibeweisverfahren weiter aufklären. Insoweit gelten die
Grundsätze, die schon bisher für eine
ursprünglich offensichtlich mangelhafte Sitzungsniederschrift
zur Anwendung kamen. Verbleiben dem Revisionsgericht auch nach seiner
Überprüfung Zweifel an der Richtigkeit des
berichtigten Protokolls, hat es seiner Entscheidung das Protokoll in
der ursprünglichen Fassung zugrunde zu legen.
Hirsch Rissing-van Saan Nack Basdorf
Häger Maatz Wahl Bode
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