BGH,
Beschl. v. 23.9.2003 - 1 StR 292/03
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
1 StR 292/03
vom
23.09.2003
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
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Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 23.09.2003 beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
Karlsruhe vom 29. Januar 2003 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die
der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen
notwendigen
Auslagen zu tragen.
Gründe:
Der Angeklagte wurde wegen Vergewaltigung in vier Fällen,
gefährlicher
Körperverletzung in zwei Fällen und
vorsätzlicher Körperverletzung zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt.
Seine auf eine Verfahrensrüge und die zum Strafausspruch
näher ausgeführte
Sachrüge gestützte Revision bleibt erfolglos
(§ 349 Abs. 2 StPO).
I.
Folgendes ist festgestellt:
Opfer sämtlicher Taten ist die Ehefrau des Angeklagten. Sie
hat 1978
mit 14 Jahren den damals 18jährigen Angeklagten geheiratet.
Sie war schon
mit acht Jahren als Waise in die Familie des Angeklagten gekommen, die
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mals in einem Dorf an der türkisch/syrischen Grenze lebte.
Seit sie etwa neun
Jahre alt war, übte der Angeklagte gegen ihren Willen
häufig und in für sie
schmerzhafter Weise Geschlechtsverkehr mit ihr aus. Weder die
Eheschließung
noch die 1992 erfolgte Übersiedlung in die Bundesrepublik
änderten etwas;
sexuelle Handlungen machten ihm "mehr Spaß, wenn er dabei
Gewalt
ausüben mußte". Die ehelichen Beziehungen waren
nicht nur dementsprechend
von sexueller Gewalt, sondern darüber hinaus auch von
sonstigen gewalttätigen
Mißhandlungen - z.B. Schlägen, auch mit
gefährlichen Werkzeugen
oder Tritten - und schwerwiegenden Bedrohungen, z.B. sie umzubringen,
gekennzeichnet.
Auch seine Kinder wurden häufig von ihm mißhandelt.
Die ganze
Familie "lebte in einem Klima ständiger Angst und
Einschüchterung". Zuletzt
flüchtete die Ehefrau in eine andere Stadt, wo ihr der
Angeklagte auf offener
Straße mit einem Messer zahlreiche, vielfach tiefe,
Schnittverletzungen zufügte,
im Gesicht in der Nähe der Augen ebenso wie am
übrigen Körper.
II.
Zur Verfahrensrüge:
1. Auf dieser Grundlage erhob die Staatsanwaltschaft Anklage wegen
einiger besonders markanter Vorfälle und stellte im
übrigen das Verfahren hinsichtlich
sämtlicher weiterer Delikte - hauptsächlich
Sexualdelikte und Mißhandlungen
zum Nachteil der Ehefrau, aber auch wegen Vergewaltigung einer
Tochter, sowie wegen Verletzungen und Mißhandlungen der
(offenbar fünf)
Kinder - ein. Gestützt ist dies hinsichtlich solcher Taten,
die vor bestimmten,
näher dargelegten Zeitpunkten liegen, auf Verjährung,
im übrigen auf § 154
Abs. 1 StPO.
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2. Die Revision macht geltend, die Strafkammer hätte, ohne auf
diese
Möglichkeit zuvor hinzuweisen, die gemäß
§ 154 Abs. 1 StPO eingestellten
Taten bei der Beweiswürdigung und bei der Strafzumessung zum
Nachteil des
Angeklagten berücksichtigt.
Sie konkretisiert dies damit, daß die Strafkammer von einem
Klima der
Angst und Einschüchterung in der Familie ausgegangen sei (vgl.
oben I). Außerdem
habe sie eine Bestätigung der Glaubwürdigkeit der
Aussage der Ehefrau
unter anderem auch darin gesehen, daß ein Sohn deren in
diesem Punkt
nicht zum Gegenstand der Anklage gewordenen Schilderung
bestätigt habe,
der Angeklagte habe einmal versucht, sie mit kochendem Wasser zu
begießen.
3. Die Rüge bleibt erfolglos:
a) Hinsichtlich des Vorfalls mit dem kochenden Wasser ist schon entgegen
§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht mitgeteilt, wann er
stattgefunden hat oder
haben soll. Wie dargelegt (II 1), sind nämlich weite Teile des
innerfamiliären
Geschehens wegen Verjährung nicht verfolgt worden. Eine
Notwendigkeit, auf
die Verwertbarkeit prozeßordnungsgemäß
festgestellten, wegen Verjährung
aber nicht verfolgbaren Geschehens hinzuweisen, besteht nicht:
Soweit ein Hinweis zur Verwertung von gemäß
§§ 154, 154a StPO eingestellten
Geschehens erforderlich ist, beruht dies darauf, daß
anderenfalls
das Verhalten der Justiz widersprüchlich und daher
mißverständlich erscheinen
kann (vgl. zusammenfassend Beulke in Löwe/Rosenberg StPO 24.
Aufl. § 154
Rdn. 56 ff., 61 m.w.N.). Einerseits wird der insoweit bestehende weite
Beurteilungsspielraum
(vgl. hierzu Schoreit in KK 5. Aufl. § 154 Rdn. 19, 25 m.N.)
dahin
genutzt, bestimmte Vorgänge oder rechtliche Gesichtspunkte
nicht abzuurteilen,
obwohl dies an sich möglich wäre, andererseits werden
diese Ge-
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sichtspunkte oder Vorgänge in anderem Zusammenhang dann aber
doch berücksichtigt.
Demgegenüber folgt zwingend aus dem Gesetz, daß eine
Bestrafung
wegen verjährten Geschehens nicht möglich ist; ein
Beurteilungsspielraum
besteht insoweit nicht. Anders als bei einem Vergehen
gemäß §§ 154,
154a StPO kann eine Einstellung wegen Verjährung nicht
Grundlage eines nur
durch einen Hinweis zu beseitigenden
Mißverständnisses sein, verjährte Taten
blieben in jeder Hinsicht unberücksichtigt (im Ergebnis ebenso
Eisenberg, Beweisrecht
der StPO 4. Aufl. Rdn. 412 f., 416).
b) Ob ein Klima von Angst und Einschüchterung nur auf der
Grundlage
der Feststellung von konkreten Straftaten bejaht werden kann - und hier
bejaht
worden ist - ist schon im Ansatz zweifelhaft. Der Senat braucht dem
aber nicht
näher nachzugehen. Schon allein die abgeurteilten, sich
über mehrere Jahre
hinziehenden rohen und zum Teil vor Zeugen begangenen Taten (z.B. schlug
der Angeklagte einmal seine Frau mit einer Mineralwasserflasche zu
Boden,
einmal schlug und trat er auf dem Balkon so lange auf sie ein, bis
Nachbarn mit
der Polizei drohten) tragen ohne weiteres die Annahme eines Klimas von
Angst
und Einschüchterung.
c) Von alledem abgesehen war hier der von der Revision
vermißte Hinweis
aber auch sonst nicht geboten. Ein Hinweis auf die Verwertbarkeit von
Feststellungen der in Rede stehenden Art ist entbehrlich, wenn die
Gefahr eines
Mißverständnisses (II 3a) - ein
"Vertrauenstatbestand" - nicht besteht. Ein
Vertrauen kann nur verletzt sein, wo es zuvor geschaffen wurde, wo also
der
Angeklagte in eine Lage versetzt wurde, die sein Verteidigungsverhalten
beeinflußt hat und bei verständiger
Einschätzung der Verfahrenslage auch beeinflussen
konnte (st. Rspr., vgl. nur BGHR StPO § 154 Abs. 1
Hinweispflicht 1,
StPO § 154 Abs. 2 Hinweispflicht 2, 3, 4 m. zahlr. N.). Es
lassen sich insoweit
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keine starren Regeln aufstellen, maßgeblich sind die
Umstände des jeweiligen
Verfahrens (vgl. BGHR StPO § 154 Abs. 1 Hinweispflicht 1).
(1) Eine rein isolierte Betrachtung der einzelnen Geschehnisse
würde
offensichtlich weder den Taten noch dem Angeklagten gerecht. Dem
entspricht
im übrigen auch, daß auch die Revision - in ihren
Ausführungen zum Strafausspruch
- die nach ihrer Auffassung gebotene Bewertung des Eheverlaufs ("kein
jahrelanges Martyrium") und der Situation des Angeklagten innerhalb der
Familie
("Machtstellung als Familienoberhaupt sichern") im einzelnen darlegt.
Jedenfalls
wäre ein Vertrauen darauf, daß das Gericht mit einer
isolierten Bewertung
einen erkennbar unzulänglichen Maßstab anlegt,
selbst dann, wenn es
bestanden haben sollte, nicht geschützt.
(2) Hinzu kommt, daß sowohl die Ehefrau als auch
fünf Kinder als Zeugen
zu den innerfamiliären Verhältnissen und
Geschehnissen - auch über die
angeklagten Taten hinaus - angehört wurden, wie auch die
Revision ausführt.
Schon durch diesen Umfang der Beweisaufnahme war daher für
jeden
Verfahrensbeteiligten offenkundig, daß die in Rede stehenden
Gesichtspunkte
von erheblichem Gewicht gerade auch für die Bewertung des
Tatgeschehens
selbst waren. (Auch) deshalb kann keine Rede davon sein, die Strafkammer
habe einen entgegenstehenden Vertrauenstatbestand geschaffen (BGH aaO).
(3) Hinzu kommt das Verteidigungsverhalten des Angeklagten: Der
Verteidiger
hat eine in den Urteilsgründen wiedergegebene schriftliche
Erklärung
abgegeben, die in der Hauptverhandlung verlesen wurde und die der
Angeklagte
"ausdrücklich als eigene Erklärung genehmigt hat".
Sie befaßt sich näher
mit der Messerattacke auf der Straße (vgl. I) und
führt im übrigen eher pauschal
aus, der Angeklagte habe "auch wegen Kleinigkeiten oft viel zu heftig
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reagiert" und es sei "eine sehr unzufriedene Situation in der ganzen
Familie"
gewesen. Weitere Angaben hat der Angeklagte nicht gemacht.
Mit dem Vorbringen der Revision, wenn erkennbar gewesen sei,
daß das
Gericht von einem Klima der Angst und Einschüchterung ausgehen
könnte,
wären zahlreiche (nicht näher genannte) Zeugen
für das Gegenteil benannt
worden, wird unter diesen Umständen nicht aufgezeigt,
daß "bei verständiger
Einschätzung" (BGH aaO) im Hinblick auf die Nichtverfolgung
einzelner Taten
das Verteidigungsverhalten beeinflußt gewesen sein
könnte.
Auch das Vorbringen der Revision, im Falle des von ihr
vermißten Hinweises
wäre eine Zustimmung zur Verlesung (nicht näher
dargelegter) ärztlicher
Atteste nicht erteilt worden, sondern es wäre auf dem
Erscheinen der
Ärzte bestanden worden, vermag die Möglichkeit einer
erfolgversprechenden
anderweitigen Verteidigung ebenfalls nicht zu verdeutlichen.
Die genannte Erklärung des Angeklagten ist
überwiegend pauschal
gehalten. Ein Bestreiten der Vorwürfe - mit Ausnahme des dem
Angeklagten
zur Last gelegten Vorwurfs eines versuchten Tötungsverbrechens
bei der Messerattacke
- und insbesondere die Behauptung, die Ehefrau (oder die Kinder)
hätten in irgendeinem Punkt die Unwahrheit gesagt, kann ihr
aber nicht einmal
ansatzweise entnommen werden.
Auch deshalb ist nicht erkennbar, daß der Angeklagte darauf
vertraut
und sein Verteidigungsverhalten darauf eingerichtet haben
könnte, daß das
Gericht bei der Bewertung der Aussage speziell den Vorgang mit dem
kochenden
Wasser (oder irgendein anderes strafbares, aber nicht abgeurteiltes
Geschehen)
außer Betracht läßt.
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d) Ob die Urteilsgründe, wie die Revision meint,
überhaupt ergeben, daß
die in Rede stehenden Gesichtspunkte auch bei der Strafzumessung zum
Nachteil des Angeklagten berücksichtigt wurden -
ausdrücklich ist dies jedenfalls
nicht der Fall - kann offen bleiben, da dies aus den genannten
Gründen
ebenfalls rechtlich unbedenklich wäre.
e) Die Revision, die ausdrücklich rügt, daß
hinsichtlich der gemäß § 154
Abs. 1 StPO eingestellten Vorgänge kein Hinweis erteilt worden
sei, schildert
auch, daß hinsichtlich weiterer Sexualdelikte und
Mißhandlungen der Ehefrau
der Verfahrensstoff in der Hauptverhandlung gemäß
§ 154 Abs. 2 StPO und
§ 154a Abs. 2 StPO beschränkt wurde. Sie
führt aus, daß auch in solchen Fällen
ein - hier unterbliebener - Hinweis Voraussetzung für eine
Verwertbarkeit
sei, im Vergleich mit dem von ihr vermißten Hinweis sei er
"aber nicht so wichtig".
Ob damit auch im Zusammenhang mit den Vorgängen in der
Hauptverhandlung
eine Verfahrensrüge erhoben sein soll, erscheint fraglich, mag
aber
dahinstehen, da auch sie aus den bereits genannten Gründen
erfolglos bliebe.
III.
Zur Sachrüge:
1. Der Schuldspruch ist ohne den Angeklagten benachteiligenden
Rechtsfehler.
2. Hinsichtlich des Strafausspruchs nimmt der Senat auf die durch die
Revisionserwiderung (§ 349 Abs. 3 Satz 2 StPO) nicht
entkräfteten Ausführungen
des Generalbundesanwalts Bezug und bemerkt ergänzend:
Die Strafkammer war aus Rechtsgründen nicht gehalten, die - im
übrigen
nicht näher mit Tatsachen belegte - Auffassung des zur
Schuldfähigkeit des
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Angeklagten gehörten Sachverständigen, im
"Herkunftsmilieu des Angeklagten
(gebe es eine) weit verbreitete Geringschätzung
gegenüber weiblichen Personen"
als erörterungsbedürftigen Strafmilderungsgrund
anzusehen (vgl. BGH,
Beschluß vom 22. Dezember 1998 - 3 StR 587/98;
Tröndle/Fischer StGB
51. Aufl. § 46 Rdn. 43a; in vergleichbarem Sinne ders. aaO
§ 211 Rdn. 14 jew.
m.w.N.). Für den Gesichtspunkt, daß der Angeklagte
gewaltsam seine "Machtstellung
als Familienoberhaupt" aufrecht erhalten wollte, gilt nichts anderes
(vgl. Tröndle/Fischer aaO m.w.N.).
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