BGH,
Beschl. v. 24.4.2002 - 1 StR 535/01
1 StR 535/01
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom
24. April 2002
in der Strafsache gegen
wegen versuchten Totschlags u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat am 24. April 2002
gemäß § 346 Abs. 2, § 349 Abs. 2
und 4 StPO beschlossen:
1. Der Beschluß des Landgerichts München I vom 21.
September 2001, mit dem die Revision des Angeklagten gegen das Urteil
dieses Landgerichts vom 3. Juli 2001 als unzulässig verworfen
worden ist, wird aufgehoben.
2. Auf die Revision des Angeklagten wird das vorbezeichnete Urteil im
Rechtsfolgenausspruch dahin geändert, daß die
Anordnung des Vorwegvollzuges eines Teils der Freiheitsstrafe vor der
Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus
entfällt.
3. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird als
unbegründet verworfen.
4. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der
Nebenklägerin dadurch im Revisionsrechtszug erwachsenen
notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in
Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer
Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt und seine Unterbringung in
einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Überdies hat es
bestimmt, daß zwei Jahre der Freiheitsstrafe vor der
Maßregel zu vollziehen sind. Die Revision des Angeklagten hat
das Landgericht mit Beschluß vom 21. September 2001 als
unzulässig verworfen (gemäß § 346
Abs. 1 StPO), weil das Rechtsmittel nicht fristgerecht
begründet worden sei. Dieser Beschluß unterliegt der
Aufhebung. Die Revision des Angeklagten ist mit der Maßgabe
unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO,
daß die Anordnung des teilweisen Vorwegvollzuges von
Freiheitsstrafe vor der ausgesprochenen Maßregel zu entfallen
hat.
I. Der Verteidiger des Angeklagten hat am Tage der Zustellung des
Verwerfungsbeschlusses des Landgerichts "Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand" beantragt. Dieser Antrag ist als solcher nach §
346 Abs. 2 StPO auszulegen. Er hat Erfolg. Entgegen der Auffassung des
Landgerichts war die Begründung der Revision hier nicht
verfristet. Die Zustellung des schriftlichen Urteils an Rechtsanwalt G.
am 10. August 2001 war unwirksam, weil sich dessen Vollmachtsurkunde zu
diesem Zeitpunkt nicht bei den Akten befand (§ 145a Abs. 1
StPO). Mithin wurde die Revisionsbegründungsfrist erst durch
die spätere, erneute Zustellung des Urteils an den hierzu
bevollmächtigten Verteidiger des Angeklagten, Rechtsanwalt S.
, in Lauf gesetzt. Die Revision ist nach allem fristgerecht
begründet worden (vgl. zu den Einzelheiten zutreffend die
Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 4. März 2002).
II. Das Rechtsmittel des Angeklagten führt zur Aufhebung der
Anordnung des teilweisen Vorwegvollzuges von Freiheitsstrafe vor der
Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus, ist
im übrigen indessen unbegründet im Sinne des
§ 349 Abs. 2 StPO.
Die Voraussetzungen eines Vorwegvollzuges nach § 67 Abs. 2
StGB liegen nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen nicht
vor.
Der Bundesgerichtshof hat wiederholt hervorgehoben, daß nach
der Grundentscheidung des Gesetzgebers in § 67 Abs. 1 StGB
möglichst umgehend mit der Behandlung des kranken
Rechtsbrechers begonnen werden soll, da dies am ehesten einen
dauerhaften Erfolg verspricht. Richtschnur für die Frage des
Vorwegvollzuges der Strafe ist das Rehabilitationsinteresse des
Verurteilten. Gerade bei längerer Strafdauer muß es
darum gehen, den Angeklagten frühzeitig zu heilen oder
jedenfalls zu behandeln, um seiner Erkrankung entgegenzuwirken. Eine
Abweichung von der Regelabfolge des Vollzuges bedarf eingehender
Begründung. Will der Tatrichter sie darauf stützen,
daß der an die Maßregel anschließende
Strafvollzug den Maßregelerfolg wieder zunichte machen
könnte, so müssen dafür
überzeugende Gründe vorliegen (vgl. nur BGH NStZ
1986, 428; BGHR StGB § 67 Abs. 2 Vorwegvollzug 7,
Vorwegvollzug, teilweiser 4, 10, 11, 12, 13).
Diesen Anforderungen wird die vom Landgericht bestimmte Ausnahme nicht
gerecht. Die Strafkammer führt aus, der Angeklagte habe sich
zunächst gegenüber einer Therapie ablehnend gezeigt.
Durch den Vorwegvollzug solle die Bereitschaft zu einer Therapie
verstärkt werden. Eine sinnvolle Therapie sei, wie auch der
Sachverständige ausgeführt habe, nur am Ende eines
Freiheitsentzuges möglich. Ein langjähriger
Strafvollzug werde die positiven Auswirkungen einer Therapie wieder
gefährden, weil ein in der Therapie erarbeitetes und
eingeübtes Verhalten wieder "verschüttet" werde. Die
Therapie habe nur dann Aussicht auf dauerhaften Erfolg, wenn das in ihr
erlernte Verhalten unmittelbar in praktische Bewährung
übergehe.
Diese Erwägungen vermögen die Anordnung im
vorliegenden Falle nicht zu tragen. Sie erweisen sich angesichts der im
übrigen zur Erkrankung des Angeklagten getroffenen
Feststellungen - worauf auch der Generalbundesanwalt zutreffend
hinweist - als nicht hinreichend substantiiert. Auf der Grundlage eines
psychiatrischen und eines psychologischen
Sachverständigengutachtens ist die Strafkammer zu dem Ergebnis
gekommen, daß der Angeklagte aufgrund eines langdauernden
chronischen Alkoholmißbrauchs und einer hirnorganischen
Wesensänderung an einer krankhaften seelischen
Störung leide. Es bestünden in somatischer Hinsicht
Auffälligkeiten (Ekzeme an den Händen, grenzwertige
Leberausdehnung). Neurologisch sei die Gangprobe unsicher, der
Blindgang erschwert und das Vibrationsempfinden vermindert. Unter
weiterer Bezugnahme auf die Sachverständigen wird in den
Urteilsgründen ausgeführt, der Angeklagte habe einen
weitschweifigen, umständlichen Gedankengang gezeigt, vermehrt
mißtrauisch gewirkt und paranoide Ideen anklingen lassen.
Deutliche Beeinträchtigungen hätten sich auch
hinsichtlich der feinmotorischen Bewegungskontrolle, der kognitiven
Fähigkeiten und der optischen Merkfähigkeit gezeigt.
Leidet der Angeklagte aber an einer hirnorganischen
Wesensänderung, die sich als krankhafte seelische
Störung im Sinne des § 20 StGB erweist, so bedarf
diese nach der Grundentscheidung des Gesetzgebers der umgehenden
Behandlung. Das gilt hier zumal im Blick darauf, daß die
Strafkammer - wie auch der psychiatrische Sachverständige -
mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgeht, der Angeklagte werde
aufgrund der erheblichen chronifizierten hirnorganischen
Schädigung in einer vergleichbaren Belastungssituation
wiederum ähnlich aggressiv reagieren wie bei der Tat.
Überdies ist nicht nachvollziehbar dargetan, inwiefern durch
andauernden Vollzug von Freiheitsstrafe die Therapiebereitschaft des
Angeklagten noch weiter geweckt und die Einsicht in die
Erforderlichkeit seiner Behandlung herbeigeführt werden kann,
nachdem er sich zum Zeitpunkt der Urteilsfindung bereits seit mehr als
einem Jahr in Haft befand.
Der Senat schließt aus, daß ein neuer Tatrichter
hierzu weitergehende Feststellungen zu treffen vermag. Er entscheidet
deshalb in der Sache selbst dahin, daß die Anordnung des
teilweisen Vorwegvollzuges entfällt (§ 354 Abs. 1
StPO entsprechend).
Der Senat sieht davon ab, den Angeklagten aus
Billigkeitsgründen teilweise von der Belastung mit Kosten und
notwendigen Auslagen freizustellen, weil er insgesamt keine
Verkürzung der ihm auferlegten Rechtsfolgen erreicht hat (vgl.
§ 473 Abs. 4 StPO).
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