BGH,
Beschl. v. 24.11.2004 - 5 StR 206/04
Nachschlagewerk: ja
BGHSt
: ja
Veröffentlichung : ja
AO § 370 Abs.
1
StPO § 264
Bei der Umsatzsteuerhinterziehung bilden die Umsatzsteuervoranmeldungen
eines Jahres und die anschließende
Umsatzsteuerjahreserklärung des nämlichen Jahres eine
einheitliche Tat im Sinne des § 264 StPO.
BGH, Beschluß vom 24. November 2004 - 5 StR 206/04 - LG
Frankfurt/Main -
5 StR 206/04
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom 24. November 2004
in der Strafsache
gegen
wegen Steuerhinterziehung
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Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 24. November 2004
beschlossen:
1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des
Landger ichts Frankfurt am Main vom 13. Oktober 2003
gemäß § 349 Abs. 4 StPO im gesamten
Strafausspruch
mit den zugehör igen Feststellungen aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision der Angeklagten wird nach
§ 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Ver-
handlung und Entscheidung - auch über die Kosten des
Rechtsmittels - an eine andere Strafkammer des Landge-
richts zurückverwiesen.
G r ü n d e
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Steuerhinterziehung
in
30 Fällen (Umsatz-, Gewerbe- und Einkommensteuer 1989 bis
1995) zu ei-
ner Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt.
Die
Revision der Angeklagten hat zum Strafausspruch Erfolg; im
übrigen ist sie
unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
I.
Der Verurteilung liegt folgendes Geschehen zu Grunde:
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts betrieben die
Angeklag-
te und ihr damaliger Lebensgefährte ab 1985 eine Cafeteria mit
Kiosk in ei-
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ner Klinik der Universität Frankfurt. Obgleich ihr
Lebensgefährte nach außen
hin und insbesondere steuerlich den Betrieb als Einzelunternehmen
führte,
hatte er mit der Angeklagten im Innenverhältnis eine
gemeinsame Betriebs-
führung und eine Teilung des erwirtschafteten Gewinns
vereinbart und prak-
tiziert. Um die betriebswirtschaftlichen und steuerrechtlichen Belange
küm-
merte sich im Innenverhältnis tatsächlich allein die
Angeklagte, während ihr
Lebensgefährte - zur Wahrung des Scheins eines
Einzelunternehmens - die
Geldmittel auf den Bankkonten verwaltete.
Bis 1993 ließen die Angeklagte und ihr
Lebensgefährte jährliche Bi-
lanzen für das angebliche Einzelunter nehmen über
ihren Steuerberater er-
stellen, die - zusammen mit den Buchhaltungsunterlagen - Gr undlage der
Umsatz-, Gewerbe- und Einkommensteuererklärungen des
Lebensgefährten
waren. Für die Jahre 1994 und 1995 wurden keine
Umsatzsteuererklärungen
abgegeben. Es er folgten lediglich bis Dezember 1995 monatliche Umsatz-
steuervoranmeldungen. Aufgrund der Einkommensteuererklärungen
des Le-
bensgefährten bis 1993 wurde die Einkommensteuer jeweils mit
Null festge-
setzt.
2. Entgegen den Angaben in den jeweiligen
Erklärungen florierte der
Betr ieb aber tatsächlich. Die Angeklagte hatte über
die Jahr e hinweg durch
manipulative Stornobuchungen und nichtverbuchte Bareinnahmen wesentli-
che Umsätze des Unternehmens verschleiert. Hierdur ch bewirkte
die Ange-
klagte zwischen 1989 und 1995 eine Verkürzung der an sich
festzusetzen-
den Steuern in einer vom Landgericht geschätzten
Gesamtgrößenordnung
von über 800.000 DM.
3. Im Anschluß an eine im Oktober 1995
durchgeführte Betriebsprü-
fung wurde der Angeklagten am 22. Dezember 1995 die Einleitung eines
steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahrens wegen der Hinterziehung
von
Einkommen- und Gewerbesteuer für die Jahre 1989 bis 1993 sowie
von Um-
satzsteuer für die Jahre 1989 bis 1995 eröffnet.
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4. Gegenstand der insoweit unver ändert zur
Hauptverhandlung zuge-
lassenen Anklage bezüglich der Umsatzsteuer 1995 war
der Vorwurf der
pflichtwidrigen Nichtabgabe einer Jahressteuer erklär ung.
Zuvor hatte die
Staatsanwaltschaft das Verfahren mit Blick auf die (falschen)
Umsatzsteuer-
voranmeldungen für 1995 gemäß §
154 Abs. 1 StPO eingestellt. In der
Hauptverhandlung erteilte das Landgericht der
Beschwerdeführerin - ohne
ausdrückliche Bezugnahme, aber im Hinblick auf die dazu
ergangene Se-
natsrechtsprechung (grundlegend BGHSt 47, 8) - den zutreffenden rechtli-
chen Hinweis, daß wegen der Einleitung des
steuerstrafrechtlichen Ermitt-
lungsverfahrens die strafbewehrte Pflicht zur Abgabe einer
Umsatzsteuerjah-
r eserklärung 1995 entfallen war. Statt dessen käme -
so das Landgericht -
eine Strafbarkeit wegen der (falschen)
Umsatzsteuervoranmeldungen für
Januar 1995 bis November 1995 in Betracht.
II.
Verfahrenshindernisse mit Blick auf die Verurteilung der
Angeklagten
wegen Steuerhinter ziehung in elf Fällen betreffend die
Umsatzsteuervoran-
meldungen für Januar 1995 bis November 1995 bestehen nicht.
Der mit der
Anklageschrift dem Gericht zur Entscheidung unterbreitete historische
Vor-
gang umfaßt auch diese Taten; er ist mit den ausgeurteilten
Taten identisch
gemäß den bei Anwendung von § 264 Abs. 1
StPO maßgebenden Kriterien.
Zwar ergibt sich dies - entgegen der Auffassung des
Generalbundes-
anwalts - nicht aus dem Urteil des Senats vom 22. Mai 2003 (BGHR StPO
§ 264 Abs. 1 Tatidentität 38). Dort ist lediglich
ausgeführt, daß Untreuehand-
lungen, welche zugleich den weiteren Gegenstand der Umsatzsteuerhinter-
ziehung bilden, mit den wegen anderer Handlungen bereits angenommenen
Steuerhinterziehungen für die nämlichen
Erklärungsakte in einem so engen
und untrennbaren Zusammenhang zueinander stehen, daß sie
aufgrund ihrer
Verzahnung insgesamt eine einheitliche prozessuale Tat im Sinne des
§ 264
StPO bilden. Im Ergebnis zu Recht geht der Generalbundesanwalt aber da-
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von aus, daß die Umsatzsteuervoranmeldungen eines Jahr es und
die an-
schließende Umsatzsteuerjahreserklärung des
nämlichen Jahres eine ein-
heitliche prozessuale Tat im Sinne des § 264 StPO bilden.
1. Der Bundesgerichtshof hat das Verhältnis zwischen
Umsatzsteuer-
voranmeldungen eines Jahres und der für das nämliche
Jahr abzugebenden
Umsatzsteuerjahr eserklärung bisher ausdrücklich nur
unter dem Gesichts-
punkt der materiellrechtlichen Konkurrenz beurteilt. Insoweit besteht
Tat-
mehr heit im Sinne des § 53 StGB, weil den jeweiligen Taten
ungeachtet ihrer
steuerrechtlichen Verzahnung ein selbständiger Unrechtsgehalt
zukommt.
Zwar beziehen sich die Voranmeldungen und die Jahreserklärung
auf diesel-
be Steuerart und dasselbe Steueraufkommen eines jeweiligen Jahres. Bei-
den Arten von Steuererklärungen kommt jedoch ein
eigenständiger
Erklärungswert zu, der auch durch die Zusammenfassung in der
Jahreserklärung nicht deckungsgleich wird (vgl. nur BGHR AO
§ 370 Abs. 1
Konkurrenzen 13 m.w.N. und Erläuterungen zur Systematik des
Umsatzsteuerrechts).
2. Die Frage, ob die Umsatzsteuervoranmeldungen eines Jahres
und
die anschließende Umsatzsteuerjahreserklärung des
nämlichen Jahres eine
einheitliche prozessuale Tat im Sinne des § 264 StPO bilden,
ist bislang nicht
ausdrücklich entschieden. Der Senat hat allerdings mit
Beschluß vom
5. Mai 2004 - 5 StR 66/04 - die Versagung einer Strafr
ahmenverschiebung
nach § 23 Abs. 2 i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB bei einer -
wegen Tatentdeckung
nur - versuchten Steuerhinterziehung bezüglich einer falschen
Umsatzsteu-
erjahreserklärung gebilligt und dort ausgeführt,
daß jener Angeklagte bereits
r echtsfehlerfrei festgestellte, aber nicht ausdrücklich
mitangeklagte oder aus-
geurteilte falsche Umsatzsteuervoranmeldungen abgegeben hatte. Der
Beschluß enthält den Hinweis, daß auch die
vollendeten Steuerhinterziehun-
gen bezüglich der Umsatzsteuervoranmeldungen Gegenstand der
Urteilsfin-
dung im Sinne von § 264 StPO waren.
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3. Danach gilt hier folgendes:
Mehrere im Sinne von § 53 StGB sachlich-rechtlich
selbständige Hand-
lungen bilden nur dann eine einheitliche prozessuale Tat im Sinne von
§ 264
StPO, wenn die einzelnen Handlungen nicht nur
äußerlich ineinander über-
gehen, sondern wegen der ihnen zugrundeliegenden Vorkommnisse unter
Berücksichtigung ihrer strafrechtlichen Bedeutung auch
innerlich derart mit-
einander verknüpft sind, daß der Unrechts- und
Schuldgehalt der einen
Handlung nicht ohne die Umstände, die zu der anderen
Handlung geführt
haben, richtig gewürdigt werden kann und ihre getrennte
Würdigung und Ab-
urteilung als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen
Lebensvorgangs
empfunden wird (st. Rspr.; vgl. nur BGHSt 13, 21, 25 f.; 23, 141, 146
f.; 23,
270, 273; 24, 185, 186; 29, 288; BGH NStZ 2001, 440). Nur in diesen
Fällen
ist das aus der materiellrechtlichen Realkonkurrenz folgende Indiz
für die
Annahme unter schiedlicher prozessualer Taten widerlegt.
a) So verhält es sich auch hier:
Zwar handelt es sich bei der Verkür zung von
Umsatzsteuern durch die
monatlichen oder vierteljährlichen Voranmeldungen und die
entsprechende
Jahreserklärung desselben Jahres um materiellrechtlich
selbständige Taten,
denen jeweils ein eigener Unrechtsgehalt zukommt (st. Rspr.; vgl. nur
oben 1). Die aus dem mater iellen Steuerrecht folgenden engen Verzahnun-
gen führen jedoch dazu, daß
Umsatzsteuervoranmeldungen und Umsatz-
steuerjahreserklärung eines Jahres hinsichtlich ihrer
strafrechtlichen Bedeu-
tung innerlich derart miteinander verknüpft sind,
daß der Unrechts- und
Schuldgehalt der einzelnen Taten nur in der Zusammenschau richtig
gewür-
digt werden kann. Eine getr ennte Würdigung und Aburteilung
erscheint als
unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen, von den
Besonderheiten des
materiellen Umsatzsteuerrechts geprägten Lebensvorgangs.
Steueranmel-
dungen und Jahreserklärung beziehen sich auf dieselbe
Steuerart und das-
selbe Steueraufkommen eines jeweiligen Jahres. Die Beteiligten des
Steuer-
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r echtsverhältnisses sind identisch. Auch die Umsatzsteuer ist
jenseits ihrer
Besonderheiten in der technischen Ausgestaltung eine Jahressteuer
(§ 16
Abs. 1 Satz 2 UStG). Die Voranmeldungen dienen nämlich nur der
zeitnahen
Erfassung und Erhebung der Umsatzsteuer; auf der Grundlage der monatli-
chen oder vierteljährlichen Anmeldungen wird die Steuer als
Vorauszahlung
vom Steuerpflichtigen berechnet oder vom Finanzamt festgesetzt (vgl.
nur
BGHR AO § 370 Abs. 1 Konkurrenzen 13 m.w.N.).
Nicht zuletzt aufgrund dieser Besonderheiten wird nach
ständiger
Rechtsprechung in der Einreichung einer
(wahrheitsgemäßen) Umsatzsteu-
erjahreserklärung im Verhältnis zu den zuvor
unterlassenen oder unzutref-
fenden monatlichen Umsatzsteuervoranmeldungen auch eine strafbefr
eiende
Selbstanzeige im Sinne von § 371 Abs. 1 AO gesehen, ohne
daß es etwa
ausdrücklich eines entsprechenden Hinweises seitens des Steuer
pflichtigen
bedarf (vgl. BGH wistra 1991, 223, 225, insoweit in BGHSt 37, 340 nicht
ab-
gedruckt; vgl. auch BGHR AO § 371 Abs. 1
Unvollständigkeit 2).
Eine getrennte Abur teilung von einzelnen Voranmeldungen und
be-
r ichtigender Jahreserklärung könnte daher
zu dem nicht hinnehmbaren Er-
gebnis führen, daß der Unrechtsgehalt der falschen
Vor anmeldungen durch
die Ausklammerung der berichtigenden Jahreserklärung in einer
den Ange-
klagten beschwerenden Weise falsch ermittelt wird.
Vergleichbare Pr obleme entstünden unter dem
Gesichtspunkt der
Rechtskraft: Es widerspräche elementaren Gerechtigkeits- und
Strafzumes-
sungserwägungen, wenn ein Angeklagter im Anschluß an
eine den Schuld-
gehalt der falschen Voranmeldungen erschöpfende
rechtskräftige Verurtei-
lung auch wegen der falschen Jahreserklärung
verurteilt würde, ohne daß
dabei Berücksichtigung fände, daß der
Unrechtsgehalt der falschen Jahres-
erklärung weitgehend identisch, wenn auch nicht
vollständig deckungsgleich
ist.
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Schließlich sprechen auch die steuer- und
steuerstrafrechtlichen Inter-
dependenzen mit Blick auf die Bestimmung des Hinterziehungsschadens
für
eine prozessuale Tatidentität. So ist in den Fällen,
in denen der Täter von
Anfang an beabsichtigt, keine zutreffende
Umsatzsteuerjahreserklärung ab-
zugeben, der gesamte jeweils monatlich erlangte Vorteil als vom Vorsatz
um-
faßtes Handlungsziel bei der Strafzumessung erschwerend zu
berücksichti-
gen und in die Gesamtabwägung einzustellen (vgl. BGHR AO
§ 370 Abs. 1
Konkurrenzen 15).
b) Der prozessualen Tatidentität stehen
auch die bisweilen langen
Zeiträume zwischen der Abgabe der Umsatzsteuervoranmeldungen
und der
Umsatzsteuerjahr eserklärung nicht entgegen. Denn die Steuer
hinter ziehung
ist ein Erfolgsdelikt, das regelmäßig von vornherein
auf die Verkürzung eines
bestimmten Steueranspruchs gerichtet ist. Seiner Struktur nach ist der
Tat-
bestand der Steuerhinterziehung trotz oftmals langer
Tatzeiträume nicht sol-
cher der Delikte des Waffengesetzes (vgl. BGHSt 36, 151) oder anderer
Dauerdelikte (vgl. BGHSt 23, 141, 148 ff.) vergleichbar, bei denen ein
zusätz-
licher neuer Tatentschluß zu einer Zäsur
führen kann, so daß sich die nach-
folgende Dauerstraftat als prozessual selbständige Tat
darstellt (vgl. schon
BGHSt 38, 37, 40 zum Strafklageverbrauch bei Steuerhinterziehung).
c) Im Hinblick auf die Teilidentität im
Unrechtsgehalt zwischen Um-
satzsteuervoranmeldungen und der dasselbe Jahr betreffenden
Jahreserklä-
r ung wird der Tatrichter im Regelfall - schon aus Gründen der
Ver einfa-
chung - in Verfahren dieser Art gemäß §
154a Abs. 2 StPO die Verfolgung
auf die falsche Jahreserklärung beschränken
können (vgl. schon BGHR AO
§ 370 Abs. 1 Strafzumessung 18).
d) Umgekehrt kann der Tatr ichter dann, wenn eine
Verurteilung wegen
( vollendeter) Steuerhinter ziehung bezüglich der
Jahreserklärung aus Rechts-
gründen nicht in Betracht kommt, nach einem rechtlichen
Hinweis gemäß
§ 265 StPO auf die falschen oder unterlassenen Voranmeldungen
desselben
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Steuerjahres zurückgreifen. Daß die
Staatsanwaltschaft hier die Voranmel-
dungen des Jahres 1995 nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellt hat,
statt die
Verfolgung gemäß § 154a Abs. 1 StPO auf die
Jahreserklärung zu be-
schränken, ändert an der umfassenden
Kognitionspflicht des Tatrichters
auch bezüglich der Voranmeldungen nichts (vgl. BGHSt 25, 388,
390).
III.
Die Revision der Angeklagten hat nur zum Str afausspruch
Erfolg. Sie
führt zur Aufhebung der Gesamtstrafe und der ver
hängten Einzelstrafen. Im
übrigen ist sie nach § 349 Abs. 2 StPO
unbegründet, da die Nachprüfung des
Urteils aufgrund der Revisionsbegründungsschr ift keinen die
Angeklagte be-
schwerenden Rechtsfehler ergeben hat.
Der von der Beschwerdeführerin mit der
Sachrüge und einer zulässi-
gen Verfahrensrüge angegriffene Strafausspruch kann keinen
Bestand ha-
ben. Die Auffassung des Landgerichts, ein Verstoß gegen Art.
6 Abs. 1
Satz 1 MRK liege nicht vor, begegnet durchgreifenden rechtlichen
Bedenken.
Dazu hat der Generalbundesanwalt ausgeführt:
„Ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1
MRK ist gegeben, wenn das
Verfahren aus Gründen verzögert worden ist, die den
Strafverfolgungsorga-
nen anzulasten sind. Der Tatrichter hat zu prüfen, ob die
Sache insgesamt
nicht in angemessener Frist verhandelt worden ist, wobei eine gewisse
Untä-
tigkeit inner halb eines einzelnen Verfahrensabschnitts dann nicht zu
einer
Verletzung der konventionsrechtlichen Gewährleistung
führ t, wenn dadurch
die Gesamtdauer des Verfahrens nicht unangemessen lang wir d (vgl. dazu
Franke in MünchKomm/StGB, 2003, § 46 Rdn. 62 m.N. zur
Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofs). Dabei beginnt die angemessene Frist i. S. der
Konvention, wenn der Beschuldigte von den Ermittlungen in Kenntnis
gesetzt
wird. Sie endet mit dem rechtskräftigen Abschluß des
Verfahrens. Neben der
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gesamten Dauer von Beginn bis zum Ende der Frist kommen für
die Frage
der Angemessenheit die Schwere und Art des Tatvorwurfs, der Umfang und
die Schwierigkeit des Verfahrens, die Art und Weise der Er mittlungen,
das
Verhalten des Beschuldigten sowie das Ausmaß der mit dem
Andauern des
Verfahrens verbundenen Belastungen für den Beschuldigten als
maßgebli-
che Kriterien in Betracht (Franke aaO). Ist die rechtsstaatswidrige
Verfah-
r ensverzögerung i. S. der MRK festgestellt, verlangt die
höchstrichterliche
Rechtsprechung die ausdrückliche Feststellung der Verletzung
des Be-
schleunigungsgebotes im Urteil und die r echnerisch exakte Bestimmung
des
Maßes der Strafmilderung ( BGHR StGB § 46 Abs. 2
Verfahrensverzögerung
13 im Anschluß an BVerfG NJW 1995, 1277 sowie BVerfG NStZ
1997, 591).
Bei der konkreten Strafzumessung ist das Ausmaß der
vorgenommenen
Herabsetzung der Strafe durch Vergleich mit der ohne
Berücksichtigung der
Verletzung des Beschleunigungsgebotes angemessenen Strafe genau zu
bestimmen (vgl. EGMR EuGRZ 1983, 371, 378 f. [Fall Eckle gegen Bundes-
r epublik Deutschland]). Die Notwendigkeit der Kompensation bezieht
sich bei
mehr eren selbständigen Taten nicht nur auf die Findung der
angemessenen
Gesamtstrafe, sondern auch auf die Festsetzung der Einzelstrafen (BGH,
Beschluß vom 14. Mai 2002 - 3 StR 128/02).
Danach ist im vor liegenden Fall auf der Grundlage der
Umstände, die
der Senat im Revisionsverfahren zur Kenntnis nimmt, ein
Verstoß gegen
Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK zu bejahen.
Die Auffassung der Strafkammer , zwar sei das Strafverfahren
insge-
samt 27 Monate nicht er kennbar gefördert worden (UA S. 66
Mitte), dabei
handele es sich aber angesichts des Umfangs und der Schwierigkeit der
Er-
mittlungen um einen hinnehmbaren Zeitverzug, ist in sich wider
sprüchlich
und daher nicht haltbar. Diese Bewertung durch das Landgericht verkennt
zum einen, daß die Steuerfahndung ihren
Abschlußbericht an die Staatsan-
waltschaft bereits am 25. April 1997 übersandte, also nahezu
zwei Jahre vor
Einstellung des finanzgerichtlichen Verfahr ens wegen der
verfahrensgegen-
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ständlichen Steuerforderungen. Zum anderen bleibt
unberücksichtigt, daß die
auf Grund der Schutzschrift der Angeschuldigten vom 31. August 2001
(Bd. II
Bl. 605 ff. d. A.) vom Vorsitzenden der Strafkammer für
erforderlich gehalte-
nen Kontenabklärungen (vgl. dazu Bd. II Bl. 633 d. A.) von der
Steuerfahn-
dung zeitnah durchgeführt wurden (Bd. III Bl. 871 d. A.).
Demgegenüber teil-
te der Strafkammervorsitzende auf eine Sachstandsanfrage im Novem-
ber 2001 mit, die Sache könne wegen vorrangiger anderer Sachen
nicht ter-
miniert werden ( Bd. II Bl. 872 d. A.). Obwohl sich bereits dieser
Zeitraum da-
für angeboten hätte, erging erst ein Jahr
später der gerichtliche Beschluß zur
Einholung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens hinsichtlich des
früheren Mit-
angeklagten
P ( Bd. III
Bl. 902 f. d. A.). Die danach eingetretene, den
Strafverfolgungsorganen ausschließlich zuzurechnende
zeitliche Ver zöge-
r ung erweist sich insbesondere auf dem Hintergrund der lange
zurückliegen-
den Tatzeiten als erheblich, so daß ein Verstoß
gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1
MRK vorliegt.“
Dem tritt der Senat bei.
Die Sache bedarf daher hinsichtlich der Einzelstrafen sowie
der Fest-
setzung der Gesamtsstrafe neuer Verhandlung und Entscheidung. Auf die
Entscheidung in BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1
Verfahrensverzögerung 16
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wird hingewiesen; im übrigen wird auf § 51 Abs. 1
BZRG Bedacht zu nehmen
sein.
Harms
Häger Gerhardt
Brause Schaal |