BGH,
Beschl. v. 25.4.2002 - 3 StR 506/01
3 StR 506/01
StPO § 244 Abs. 5 Satz 2
Bei der Prüfung, ob die Aufklärungspflicht die Ladung
eines benannten Zeugen im Ausland gebietet, sind neben dem Gewicht der
Strafsache die Bedeutung und der Beweiswert des weiteren Beweismittels
vor dem Hintergrund des Ergebnisses der bisherigen Beweisaufnahme
einerseits und der zeitliche und organisatorische Aufwand der Ladung
und Vernehmung mit den damit verbundenen Nachteilen durch die
Verzögerung des Verfahrens andererseits unter Beachtung des
Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit
abzuwägen.
BGH, Beschl. vom 25. April 2002 - - Landgericht Kleve
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom
25. April 2002
in der Strafsache gegen
1.
2.
wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht
geringer Menge u.a.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat auf Antrag des
Generalbundesanwalts und nach Anhörung der
Beschwerdeführer am 25. April 2002 gemäß
§ 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:
Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Kleve vom 7. Juni 2001 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer
des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe:
Das Landgericht hat die Angeklagten, zwei Brüder, wegen
Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in
Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit diesen zu
Freiheitsstrafen von je fünf Jahren verurteilt. Die hiergegen
gerichteten Revisionen der Angeklagten haben mit einer auf die
Verletzung des § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO gestützten
Verfahrensrüge Erfolg; auf die weiteren Rügen, die
der Generalbundesanwalt zum Anlaß für seinen
Aufhebungsantrag genommen hat, kommt es daher nicht an.
Nach den Feststellungen waren die aus der Nähe von Neapel
stammenden Angeklagten mit dem Tunesier K. zu einer Kurzreise von
Italien nach Amsterdam gefahren. Dort versteckte dieser 3,5 kg Kokain
im PKW der Angeklagten und trennte sich von ihnen, um die Heimreise mit
dem Zug anzutreten. Bei der Einreise der Angeklagten nach Deutschland
wurde das Rauschgift in deren PKW entdeckt und diese festgenommen. Sie
haben sich dahin eingelassen, das Kokain sei ohne ihr Wissen und Wollen
von K. dort versteckt worden. Die Strafkammer hat dies auf Grund
verschiedener Indizien für widerlegt erachtet. In der
Hauptverhandlung hatten die Verteidiger beider Angeklagter u. a.
beantragt, die in Lioni/Italien wohnende Zeugin Rita P. , die Freundin
des K. , die mit der Schwester der Angeklagten befreundet ist, zum
Beweis dafür zu vernehmen, daß K. gemeinsam mit ihr
den Plan gefaßt habe, die beiden Angeklagten zu der Kurzreise
nach Amsterdam zu veranlassen, dort heimlich Rauschgift in deren PKW zu
verstecken und sie so als ahnungslose Kuriere zu mißbrauchen.
Die Strafkammer hat diesen Beweisantrag nach § 244 Abs. 5 Satz
2 StPO abgelehnt, da eine weitere Sachaufklärung nicht zu
erwarten sei. Es sei angesichts des Verdachts der Beteiligung am
Kokainhandel schon fraglich, ob die Zeugin der Ladung folgen werde;
aber selbst wenn sie erscheine, sei damit zu rechnen, daß sie
insoweit von ihrem Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO
Gebrauch machen werde.
Diese Ablehnung hält einer rechtlichen Nachprüfung
nicht stand. Nach § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO kann die Vernehmung
eines Auslandszeugen abgelehnt werden, wenn sie nach
pflichtgemäßem Ermessen zur Erforschung der Wahrheit
nicht erforderlich ist. Maßgebendes Kriterium dabei ist, ob
die Erhebung des Beweises ein Gebot der Aufklärungspflicht ist
(BGHSt 40, 60, 62).
Die Möglichkeit, nach dieser Vorschrift einen Beweisantrag auf
Vernehmung eines Auslandszeugen abzulehnen, erfaßt nicht nur
Fälle der voraussichtlichen Unergiebigkeit der Zeugenaussage
oder der Unerreichbarkeit des Zeugen, sondern - als Unterfall der
Unerreichbarkeit - grundsätzlich auch solche Fallgestaltungen,
in denen der Aufenthalt eines Zeugen zwar bekannt, aber damit zu
rechnen ist, daß er entweder einer Ladung nicht folgen oder
im Falle seines Erscheinens keine Angaben zur Sache machen werde. Dies
gilt insbesondere für Zeugen, die der Beteiligung an der Tat
verdächtig sind und denen deswegen ein
Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO zusteht (vgl. BGH,
Beschl. vom 16. März 1994 - 5 StR 84/94; ferner für
die Behandlung eines inländischen Zeugen als unerreichbar BGHR
StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Unerreichbarkeit 17).
Bei der Anwendung der Vorschrift des § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO
ist jedoch zu beachten, daß das Gesetz zur Entlastung der
Rechtspflege vom 11. Januar 1993 (BGBl I 50 f.) mit dieser von Anfang
an umstrittenen Regelung die Ablehnungsmöglichkeit nur um den
schmalen Bereich erweitert hat, um den die Ablehnungsgründe
des bis dahin allein anwendbaren Abs. 3 Satz 2 über die
Aufklärungspflicht hinausreichen (vgl. amtl. Begr. zum Entwurf
des Bundesrates BTDrucks. 12/1217 S. 36; ferner zum Diskussionsstand:
Gollwitzer in Löwe-Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 244
Rdn. 339). Die Bundesregierung hatte in ihrer ablehnenden Stellungnahme
zum Ausdruck gebracht, daß die Nutzung moderner
Kommunikationswege den Richter in die Lage versetzen würde,
Anträgen auf Ladung ohne wesentliche Verzögerungen
nachzugehen (BTDrucks. 12/1217 S. 67). Im Rechtsausschuß ist
dazu die Erwartung ausgesprochen worden, die Rechtsprechung werde im
Rahmen des ihr eingeräumten Ermessens
berücksichtigen, welche praktischen Probleme die Ladung eines
benannten Zeugen bereiten würde (vgl. zum Gang der
Gesetzgebung Siegismund/Wickern, wistra 1993, 81, 86).
Danach sind bei der Prüfung, ob die
Aufklärungspflicht die Ladung eines benannten Auslandszeugen
gebietet, neben dem Gewicht der Strafsache die Bedeutung und der
Beweiswert dieses weiteren Beweismittels vor dem Hintergrund des
Ergebnisses der bisherigen Beweisaufnahme einerseits und der zeitliche
und organisatorische Aufwand einer
Aufklärungsmaßnahme mit den damit verbundenen
Nachteilen durch die Verzögerung des Verfahrens andererseits
unter Beachtung des Grundsatzes der
Verhältnismäßigkeit abzuwägen
(vgl. BGH NJW 2001, 695 f.). Dabei wird nicht unbeachtet bleiben
können, ob die zu treffende Maßnahme nur durch ein
aufwendiges Rechtshilfeersuchen oder auch durch direkte Kontaktaufnahme
in benachbarten Ländern erledigt werden kann (vgl. zum
"kleinen Rechtshilfegrenzverkehr" Siegismund/Wickern, wistra 1993, 81,
86).
Diesen Maßstäben wird die Entscheidung des
Landgerichts nicht gerecht. Die Strafsache ist von erheblicher
Bedeutung, da die bislang unbestraften Angeklagten zu je fünf
Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden sind. Einerseits sind die
für die Überführung der Angeklagten
sprechenden Indizien nicht so gewichtig, daß ihr Beweiswert
nicht durch eine die Einlassung der Angeklagten stützende
Aussage erschüttert werden könnte, andererseits kommt
der benannten Zeugin eine wesentliche Rolle im Geschehen zu, die
für eine nicht unerhebliche Beweisbedeutung spricht. Denn
über diese Zeugin ist nach den Feststellungen der Kontakt
zwischen K. und den Angeklagten hergestellt worden; auch hat K. , als
er sich für die Rückreise in Amsterdam von den
Angeklagten trennte, diesen einen Zettel mit der Telefonnummer der
Zeugin nach dem Hinweis gegeben, über diesen
Anschluß könne er erreicht werden, falls es Probleme
gebe. Auch wenn die Zeugin in Italien zurückgeblieben ist und
zunächst nur über die dort getroffenen Absprachen mit
K. , nicht aber über die Gespräche zwischen K. und
den Angeklagten in Amsterdam berichten kann, käme einer
solchen Tatplanung für die Beurteilung erhebliche Bedeutung zu.
Bei dieser besonderen Beweislage hätte es die
Aufklärungspflicht erfordert, daß das Gericht nicht
lediglich auf Grund der mutmaßlichen Interessenlage der
Zeugin von der fehlenden Bereitschaft ausgeht, vor Gericht zu
erscheinen und trotz eines Auskunftsverweigerungsrechts auszusagen.
Vielmehr hätte es die - wenn auch möglicherweise nur
geringe - Chance, eine Aussage der Zeugin zu erlangen, wahrnehmen und
wenigstens einen Ladungsversuch oder zumindest eine freibeweisliche
Klärung der Aussagewilligkeit, etwa durch einen Telefonanruf
(gegebenenfalls unter Zusicherung freien Geleits), unternehmen
müssen, zumal der zeitliche und organisatorische Aufwand
solcher Maßnahmen in vertretbarem Rahmen geblieben
wäre.
Tolksdorf Rissing-van Saan Winkler Richter am Bundesgerichtshof von
Lienen und Richter am Bundesgerichtshof Becker sind infolge Urlaubs an
der Unterschrift gehindert |