BGH,
Beschl. v. 27.3.2001 - 4 StR 414/00
Nachschlagewerk: ja zu 1.
BGHSt: nein zu 1.
Veröffentlichung: ja zu 1.
StPO § 154 Abs. 2; § 258
Ein nach dem letzten Wort des Angeklagten und unmittelbar vor dem
Urteil verkündeter Beschluß über die
Teileinstellung des Verfahrens gemäß § 154
Abs. 2 StPO ist Teil der abschließenden Entscheidung des
Gerichts; dies gilt auch dann, wenn durch den
Einstellungsbeschluß über einen das Verfahren
insgesamt betreffenden Hilfsbeweisantrag mittelbar mitentschieden wird
(im Anschluß an BGH, Urteil vom 21. Februar 1979 - 2 StR
473/78; Aufgabe von BGH NStZ 1983, 469).
BGH, Beschluß vom 27. März 2001 - 4 StR 414/00 - LG
Siegen
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
4 StR 414/00
vom
27. März 2001
in der Strafsache gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des
Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 27.
März 2001 gemäß § 349 Abs. 2 und 4
StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Siegen vom 28. März 2000 im Strafausspruch mit den
Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine
andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit
mit Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren
und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit
seiner Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen
Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat zum Strafausspruch mit einer
Aufklärungsrüge Erfolg; im übrigen ist es
unbegründet.
1. Die Verfahrensrüge, § 258 StPO sei dadurch
verletzt worden, daß der Verteidigerin und dem Angeklagten
nach der Verkündung eines (Teil-) Einstellungsbeschlusses
gemäß § 154 Abs. 2 StPO nicht nochmals
Gelegenheit gegeben worden sei, sich zu äußern, hat
keinen Erfolg.
a) Der Rüge liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:
Am dritten Hauptverhandlungstag wurde die Beweisaufnahme (erneut)
geschlossen, nachdem die Verteidigerin einen Hilfsbeweisantrag gestellt
hatte. Durch die begehrte Beweiserhebung sollte die
Glaubwürdigkeit der Geschädigten und
Hauptbelastungszeugin erschüttert werden. Der Staatsanwalt
beantragte, einen Teil des Anklagevorwurfs - eine nach dem angeklagten
Vergewaltigungsgeschehen an dem Tatopfer begangene (weitere)
Körperverletzung - gemäß § 154
Abs. 2 StPO einzustellen und den Angeklagten im übrigen zu
verurteilen. Die Nebenklägerin schloß sich dem
Antrag des Staatsanwalts an. Nach einem rechtlichen Hinweis beantragte
die Verteidigerin Freispruch. Der Angeklagte hatte das letzte Wort; er
verzichtete auf Ausführungen zu seiner Verteidigung. Sodann
wurde die Hauptverhandlung unterbrochen und an einem anderen Tag mit
der Verkündung des (Teil-) Einstellungsbeschlusses - wie vom
Staatsanwalt beantragt - und des Urteils fortgesetzt. Der
Hilfsbeweisantrag wurde in den Urteilsgründen rechtsfehlerfrei
abgelehnt.
b) Die Rüge ist unbegründet.
Ein nach dem letzten Wort des Angeklagten und unmittelbar vor dem
Urteil verkündeter Beschluß über die
Teileinstellung des Verfahrens nach § 154 Abs. 2 StPO ist Teil
der abschließenden Entscheidung des Gerichts; dies gilt - mit
der Folge, daß dem Angeklagten nach dem Beschluß
nicht erneut das Wort zu erteilen ist - auch dann, wenn durch den
Einstellungsbeschluß über einen das Verfahren
insgesamt betreffenden Hilfsbeweisantrag mittelbar mitentschieden wird.
aa) Es ist umstritten, ob in der Verkündung eines
Teileinstellungsbeschlusses unmittelbar vor dem Urteil ein zu erneuten
Ausführungen und zur nochmaligen Erteilung des letzten Wortes
zwingender Wiedereintritt in die Verhandlung zu sehen ist (vgl. BGH
NStZ 1999, 257 = StV 2000, 296; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg
StPO 25. Aufl., § 258 Rdn. 6, Fn. 27 f. jeweils m.w.N.). Der
2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat dies in seinem Urteil vom 21.
Februar 1979 - 2 StR 473/78 - verneint, weil der
Einstellungsbeschluß lediglich einen Teil der aus
Beschluß und Urteil bestehenden Endentscheidung darstelle
(zustimmend Pelchen JR 1986, 166, 167; KMR-Stuckenberg § 258
Rdn. 5; offengelassen in BGH NJW 1985, 1479, 1480 [1. Strafsenat]; NStZ
1990, 228 [3. Strafsenat]; 1999, 244 [4. Strafsenat] und 257 [3.
Strafsenat]). Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in seinem
Beschluß vom 12. April 1983 - 5 StR 162/83 (= NStZ 1983, 469)
die Ansicht vertreten, daß dem Angeklagten dann nochmals das
letzte Wort erteilt werden muß, wenn der
Urteilsverkündung ein (Teil-) Einstellungsbeschluß
nach § 154 Abs. 2 StPO vorausgegangen ist und durch diesen
(wie in dem hier zu entscheidenden Fall) über einen
Hilfsbeweisantrag des Verteidigers zur Glaubwürdigkeit des
Hauptbelastungszeugen - betreffend auch Fälle, in denen
verurteilt wurde - mittelbar mitentschieden worden ist.
bb) Für die Richtigkeit der Auffassung des 2. Strafsenats -
auch bei einer Fallgestaltung wie hier - spricht, daß der
Angeklagte keine Möglichkeit hat, sich erneut zu
äußern, wenn das Gericht nach Beratung dem Antrag
der Staatsanwaltschaft auf Teileinstellung des Verfahrens nicht folgt
und ihn (ohne Beschlußfassung) auch insoweit verurteilt. Dann
erscheint es aber widersinnig, daß er bei der für
ihn positiven Entscheidung des Gerichts ein erneutes
Äußerungsrecht haben soll. Der 3. Strafsenat hat
zudem zutreffend darauf hingewiesen, daß nicht
Zufälligkeiten über den Bestand des Urteils bei einer
Rüge nach § 258 StPO entscheiden dürfen (s.
BGH NStZ 1999, 257): So machen etwa die der Urteilsverkündung
erst nachfolgende Mitteilung des (Teil-) Einstellungsbeschlusses (s.
BGH StV 1996, 297 [5. Strafsenat]) oder die - unzulässige -
formale Aufnahme der Teileinstellungsentscheidung in die
verkündete Urteilsformel (regelmäßig) keine
erneute Worterteilung erforderlich.
cc) Sinn der Regelung des Äußerungsrechts in
§ 258 StPO ist die Wahrung des rechtlichen Gehörs
(vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 44. Aufl., § 258
Rdn. 1). Werden dem Verteidiger und dem Angeklagten nach dem
Schlußvortrag des Staatsanwalts und dessen Antrag auf
Teileinstellung des Verfahrens das Recht zum Schlußvortrag
eingeräumt und hatte der Angeklagte vor der Urteilsberatung
als letzter Verfahrensbeteiligter Gelegenheit zur
Äußerung (vgl. BGHSt 13, 53, 60; BGH NStZ 1993,
551), so ist das rechtliche Gehör umfassend gewährt
worden, weil der Verteidiger und der Angeklagte zu dem gesamten
Vorbringen des Staatsanwalts Stellung nehmen konnten. Das Ergebnis der
unmittelbar anschließenden zur Teileinstellung und
Verurteilung im übrigen führenden Beratung des
Gerichts ist eine einheitliche Entscheidung, die auch die Behandlung
der Hilfsbeweisanträge umfaßt; denn über
sie ist erst im Rahmen der Urteilsberatung zu befinden (vgl. BGHR StPO
§ 244 Abs. 6 Hilfsbeweisantrag 7; Herdegen in KK 4. Aufl.,
§ 244 Rdn. 50 a). Wird über einen Hilfsbeweisantrag
nur "mittelbar" im Teileinstellungsbeschluß entschieden, so
kann zwar (möglicherweise) die rechtsfehlerhafte Behandlung
des Hilfsbeweisantrags mit Erfolg gerügt werden, nicht aber
§ 258 StPO. Ein Verstoß gegen § 258 StPO
läge noch nicht einmal vor, wenn der hilfsweise gestellte
Beweisantrag, der an sich in den Urteilsgründen hätte
abgelehnt werden können, ohne Erörterung gleichzeitig
mit der Urteilsverkündung durch einen besonderen
Beschluß zurückgewiesen wird (RGSt 55, 109 f.; OLG
Karlsruhe MDR 1966, 948; Gollwitzer aaO Rdn. 6; Niemöller JZ
1992, 884 Fn. 4 m.w.N.).
Ob etwas anderes gilt, wenn das Gericht für den Angeklagten
einen Vertrauenstatbestand dadurch schafft, daß es vor der
Verkündung des Urteils nochmals ausdrücklich in die
Verhandlung eintritt (s. etwa die Fallgestaltungen in BGH NJW 1985,
1479; NStZ-RR 1998, 15; BGH, Urteil vom 21. Dezember 1966 - 4 StR
404/66), kann dahinstehen; denn ein solcher Fall liegt hier nicht vor.
dd) Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Anfrage des Senats
gemäß § 132 Abs. 3 GVG erklärt,
daß er seine entgegenstehende Rechtsprechung im
Beschluß vom 12. April 1983 - 5 StR 162/83 (= NStZ 1983, 469)
aufgibt; die übrigen Strafsenate des Bundesgerichtshofs haben
mitgeteilt, entgegenstehende Rechtsprechung ihres Senats liege nicht
vor.
2. Die Aufklärungsrüge, mit der die Revision
beanstandet, daß die Strafkammer zur Frage erheblich
verminderter Schuldfähigkeit des Angeklagten keinen
psychiatrischen Sachverständigen gehört hat, hat
dagegen Erfolg.
Nach den Urteilsfeststellungen zeigte der Angeklagte in der
Vergangenheit erhebliche psychische Auffälligkeiten; er war
deswegen in psycho-therapeutischer und psychologischer Behandlung.
Wegen seiner "gesundheitlichen Probleme" mußte er seinen
Beruf als Kraftfahrer, bei dessen Ausübung er "einige
Unfälle mit Kopfverletzungen" erlitten hatte (UA 5), aufgeben.
Die Tat des - bisher nicht bestraften und sozial angepaßt
lebenden - Angeklagten ist nach den Feststellungen
persönlichkeitsfremd und weist ungewöhnliche
Züge auf: Er stieg an einem frühen Morgen in den Pkw
einer ihm unbekannten Frau ein, bedrohte sie mit einer Waffe und befahl
ihr, in der Stadt umherzufahren, weil er "eine Person observieren
müsse". Auf dem Parkplatz seines Firmengeländes zog
er die Geschädigte aus dem Fahrzeug, zwang sie, in das
Firmengebäude zu gehen, schlug sie und führte dann
mit ihr u.a. den Geschlechtsverkehr durch. Als er ihr danach mitteilte,
" daß er mit ihr noch einige Waldwege abfahren wolle", nutzte
sie eine Gelegenheit zur Flucht.
Zu Recht weist die Revision darauf hin, daß sich die
Strafkammer bei dieser Sachlage hätte gedrängt sehen
müssen, ein psychiatrisches Sachverständigengutachten
einzuholen (vgl. BGHR StGB § 21 Sachverständiger 7,
8). Dieses hätte möglicherweise ergeben,
daß die Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Begehung
der Tat aus einem der in § 20 StGB bezeichneten
Gründe erheblich vermindert war. Die versäumte
Begutachtung wird der neu entscheidende Tatrichter nachzuholen haben.
Da Anhaltspunkte für eine Schuldunfähigkeit des
Angeklagten zur Tatzeit nicht vorliegen, kann der Schuldspruch bestehen
bleiben. Die Straffrage bedarf jedoch neuer Verhandlung und
Entscheidung.
Meyer-Goßner Kuckein Athing
Solin-Stojanovic Ernemann
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