BGH,
Beschl. v. 28.3.2006 - 4 StR 575/05
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
4 StR 575/05
vom 28.3.2006
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags
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Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des
Generalbundesanwalts und nach Anhörung des
Beschwerdeführers am 28.03.2006 gemäß
§ 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Essen vom 15. August 2005 im Strafausspruch aufgehoben. 2. Im Umfang
der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung,
auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als
Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts
zurückverwiesen. Gründe: Das Landgericht hat den
Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren
und sechs Monaten verurteilt. Mit seiner auf den Strafausspruch
beschränkten Revision beanstandet der Angeklagte das Verfahren
und rügt die Verletzung sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel
hat mit der Aufklärungsrüge Erfolg. 1 Nach den
Feststellungen war es in der seit 1982 bestehenden Ehe des Angeklagten
mit dem späteren Tatopfer schon bald zu ernsten
Schwierigkeiten gekommen, weil die dominante Ehefrau den Angeklagten
von seinen Familienangehörigen und Bekannten isolierte,
überzogene finanzielle Ansprüche - auch
bezüglich der Versorgung ihrer Familie in Bulgarien - stellte
und ihn betrog. Mitte der 90iger Jahre ging die Ehefrau - insbesondere
unter Alkoholeinfluss - dazu über, den Angeklagten
tätlich anzugreifen, ihn einzusperren und verschiedene 2
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entwürdigende sexuelle Praktiken von ihm zu verlangen. Zu
einer Trennung war der Angeklagte auf Grund seiner asthenischen
Persönlichkeit nicht in der Lage, zumal er seine Frau nach wie
vor liebte. Auch am Tattag kam es aus nichtigem Anlass zu
mehrstündigen verbalen und tätlichen Angriffen
seitens der Ehefrau, denen der Angeklagte nicht ausweichen konnte, weil
die Wohnungstür verschlossen war und er keinen eigenen
Schlüssel besaß. Er wehrte sich noch nicht einmal,
als sie vor ihm auf den Boden urinierte und von ihm verlangte, den Urin
aufzulecken. Erst als sie ihm nach weiteren Beschimpfungen Sekt
über den Kopf goss, wurde der Angeklagte "von der
Gesamtsituation, von der permanenten bereits stundenlang anhaltenden
Beschimpfung und der Erkenntnis, dass Valentina N. nicht
nachließ, so überflutet, dass er an seiner
ausweichenden und duldenden Verhaltensweise nicht mehr fest hielt" [UA
16] und seine Ehefrau erwürgte. Das Landgericht hat die Tat
wegen der einem "Affekt angenäherten Fassung des Angeklagten"
[UA 28] als minder schweren Fall des Totschlags nach § 213
StGB gewertet; das Vorliegen eines Affekts, der eine erhebliche
Verminderung der Steuerungsfähigkeit im Sinne des §
21 StGB bedingt hätte, hat es dagegen - abweichend von dem
Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen - verneint. Der
Sachverständige, dessen Sachkunde vom Gericht nicht in Zweifel
gezogen wurde, hat sich sowohl in seinem schriftlichen Gutachten als
auch bei seiner mündlichen Gutachtenerstattung eindeutig
darauf festgelegt, dass sich die Tat des Angeklagten als Affekttat im
klassischen Sinne [UA 24] darstelle. Dem ist das Landgericht auf Grund
eigener Würdigung nicht gefolgt, ohne ein weiteres Gutachten
einzuholen. Dies beanstandet die Revision zu Recht. 3
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Zwar muss der Tatrichter nicht in jedem Fall, in dem er von dem
Gutachten des in der Hauptverhandlung gehörten
Sachverständigen abweichen will, einen weiteren
Sachverständigen hinzuziehen. Voraussetzung ist aber, dass er
die für die abweichende Beurteilung erforderliche Sachkunde
besitzt, selbst wenn er erst durch das Gutachten genügend
sachkundig geworden ist, um die Beweisfrage beurteilen zu
können (vgl. BGH NStZ 2000, 437; vgl. auch
Meyer-Goßner StPO 48. Aufl. § 244 Rdn. 75 m.w.N.).
Außerdem muss er die Ausführungen des
Sachverständigen in nachprüfbarer Weise im Urteil
wiedergeben, sich mit ihnen auseinandersetzen und seine abweichende
Meinung begründen (vgl. BGH NStZ 1983, 377; 1994, 503; 2000,
550 f.). Die Ausführungen im angefochtenen Urteil, auf deren
Grundlage eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung des
Angeklagten bei der Tat verneint und lediglich eine einer solchen
angenäherte Verfassung angenommen wird, belegen die
erforderliche eigene Sachkunde des Tatrichters nicht, denn sie begegnen
- worauf auch der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift
zutreffend hingewiesen hat - in wesentlichen Teilen durchgreifenden
rechtlichen Bedenken. 4 Dies gilt insbesondere für die
Auffassung des Landgerichts, es fehle an einer spezifischen
Tatvorgeschichte und Tatanlaufzeit, weil sich bei dem Angeklagten nicht
über eine längere Zeit eine Affektverfassung
aufgebaut habe, die sich letztlich in der Tat ein Ventil gesucht habe.
Das Landgericht ist der Ansicht, der Angeklagte habe in den Phasen
friedlichen Zusammenlebens den Affekt immer wieder abgebaut, indem er
die durch die hysterischen und aggressiven Attacken seiner Ehefrau
geprägten "schlechten Zeiten vergaß und
verdrängte" [UA 25]. Ein solcher Affektabbau ist schon deshalb
nicht nachvollziehbar, weil der Angeklagte auf Grund des
unberechenbaren Verhaltens seiner Ehefrau ständig mit neuen
aggressiven Entgleisungen rechnen musste. Darüber hinaus hat
das Landgericht in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigt,
dass sich 5
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die Haltung des Angeklagten in der letzten Zeit vor der Tat
verändert hatte, indem dieser versuchte, sich auf
unterschiedliche Weise den Attacken zu entziehen, und sogar
polizeiliche Hilfe in Anspruch nahm [UA 12]; auch dies weist auf eine
sich verschärfende Entwicklung in der
Täter-Opfer-Beziehung hin. Durchgreifende Bedenken bestehen
vor allem gegen die Annahme des Landgerichts, es könne nicht
von einem affekttypischen Missverhältnis zwischen Tat und
Anlass ausgegangen werden. Tatauslösend war nach den
Urteilsfeststellungen das Schütten von Sekt auf den Kopf des
Angeklagten [UA 16], mithin eine Handlung, die im Verhältnis
zu den Ereignissen, die sich am Tattag bis zu diesem Zeitpunkt zwischen
den Eheleuten abgespielt hatten, eher als eine weniger gravierende
Demütigung anzusehen ist. 6 Schließlich hat die
Strafkammer bei ihrer Erwägung, es fehle an einer "relevanten
Erinnerungslücke" [UA 26], nicht bedacht, dass auch eine nur
auf das unmittelbare Tötungsgeschehen begrenzte Lücke
Ausdruck eines affekttypischen Erinnerungsverlusts sein kann (vgl. BGH
NStZ 1987, 503, 504). 7 Aus alledem ergibt sich, dass die
Urteilsausführungen eine eigene Sachkunde des Landgerichts zur
Beurteilung der grundsätzlich von einem
Sachverständigen zu beantwortenden Frage, ob beim Angeklagten
zur Tatzeit ein Affekt vorgelegen hat, nicht belegen. Die
Aufklärungspflicht hätte es daher geboten, einen
weiteren Sachverständigen hinzuzuziehen, wenn die Strafkammer
von der eindeutigen Festlegung des gehörten
Sachverständigen abweichen wollte. 8
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Der Senat kann nicht sicher ausschließen, dass sich dieser
Rechtsfehler bei der Bemessung der an sich maßvollen Strafe
zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt hat. 9
Tepperwien Maatz RiBGH Prof.Dr.Kuckein und Ri'inBGH Sost-Scheible sind
urlaubsbedingt ortsabwesend und daher an der Beifügung der
Unterschrift gehindert Tepperwien Solin-Stojanović |