BGH,
Beschl. v. 29.10.2002 - 4 StR 281/02
4 StR 281/02
StGB §§ 13 Abs. 1, 24 Abs. 1
Zum Rücktritt vom Versuch bei einem mehraktigen
Unterlassungsdelikt.
BGH, Beschluß vom 29. Oktober 2002 - - Landgericht Rostock
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom
29. Oktober 2002
in der Strafsache gegen
wegen versuchten Totschlags u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat nach Anhörung
des Generalbundesanwalts und der Beschwerdeführerin am 29.
Oktober 2002 gemäß § 349 Abs. 2 und 4,
§ 357 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision der Angeklagten E. wird das Urteil des Landgerichts
Rostock vom 7. März 2002, auch soweit es den Angeklagten K.
betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die
Feststellungen zum äußeren Geschehensablauf - mit
Ausnahme derer zum Rücktritt - aufrechterhalten.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels der
Angeklagten E. , an eine andere als Schwurgericht zuständige
Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe:
Das Landgericht hat die Angeklagte E. wegen "versuchten Totschlags
durch Unterlassen in Tateinheit mit Mißhandlung von
Schutzbefohlenen durch Unterlassen und versuchter schwerer
Körperverletzung durch Unterlassen" zu einer Freiheitsstrafe
von drei Jahren verurteilt. Mit ihrer hiergegen eingelegten Revision
rügt die Angeklagte E. die Verletzung formellen und
materiellen Rechts.
Die Verfahrensrüge ist unzulässig (§ 344
Abs. 2 Satz 2 StPO). Insoweit verweist der Senat auf die zutreffenden
Ausführungen des Generalbundesanwalts in seiner Antragsschrift
vom 30. Juli 2002. Das Urteil ist jedoch auf die Sachbeschwerde im
Schuldspruch aufzuheben, da das Landgericht einen strafbefreienden
Rücktritt nach § 24 StGB hinsichtlich des versuchten
Totschlags nicht rechtsfehlerfrei verneint hat.
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
Die Angeklagte bewohnte mit dem Mitangeklagten K. , den sie Ende
Oktober 2000 kennengelernt hatte, und ihren beiden Söhnen Can
und Pierre eine gemeinsame Wohnung. K. fühlte sich durch das
Schreien des am 17. Februar 2001 geborenen Pierre extrem
gestört und reagierte darauf
aggressiv. Obwohl der Angeklagten mehrere vorangegangene
Mißhandlungen dieses Kindes durch den in seiner
Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkten
Mitangeklagten bekannt waren, schützte sie ihr Kind nicht vor
weiteren zu erwartenden Übergriffen. Insbesondere verwies sie
K. , der mehrfach Auszugsabsichten geäußert hatte,
nicht der Wohnung, weil sie nicht allein sein wollte.
Deswegen kam es am 15. März 2001 zu weiteren
Gewalttätigkeiten K. s gegenüber dem
Säugling. Am Nachmittag dieses Tages schlug K. mindestens
zweimal mit der flachen Hand gegen den Kopf und anschließend
mit der Faust heftig gegen die Stirn des schreienden Kindes (UA 9); am
Abend schüttelte er Pierre, der nach den ersten
Mißhandlungen eingeschlafen und dann unter Schreien erwacht
war, mit beiden Händen am Hals, würgte ihn etwa eine
halbe Minute, bis das Kind rot anlief, zappelte und keine Luft mehr
bekam, und schlug ihm erneut mit der flachen Hand links und rechts ins
Gesicht. Hierbei war die Angeklagte E. jeweils anwesend, ohne
schützend einzugreifen. Sie rechnete damit, daß ihr
Kind ohne ärztliche Hilfe zu Tode kommen oder erhebliche
Dauerschäden erleiden könnte, fand sich damit aber ab
(UA 9-10). An diesem Tage unterließ sie es auch,
ärztliche Hilfe zur Rettung ihres - wie sie erkannte -
lebensbedrohlich verletzten Kindes herbeizuholen. Erst am Abend des
Folgetages, als Pierre nur noch röchelte, alarmierten der
Mitangeklagte K. und die Angeklagte einen Notarzt.
Zwar überlebte Pierre E. mittels intensivmedizinischer
Versorgung, er erlitt aber infolge der Mißhandlungen vom 15.
März 2001 u.a. eine ausgedehnte Gehirnquetschung sowie
-schwellung und so massive Durchblutungsstörungen des Gehirns,
daß eine Hirnregion abstarb, was zu einer dauernden,
deutlichen Einschränkung der kognitiven und intellektuellen
Fähigkeiten mindestens im Grad einer Lernbehinderung
führte. Ob diese Dauerfolge bei sofortiger ärztlicher
Hilfeleistung noch am 15. März 2001 abwendbar gewesen
wären, konnte nicht festgestellt werden (UA 10-11).
Das Landgericht ist bei der Angeklagten E. von zwei versuchten
Tötungen durch Unterlassen ausgegangen und hat ohne
nähere Begründung zwar einen Rücktritt nach
§ 24 Abs. 1 StGB von dem am Abend des 15. März 2001
begangenen Totschlagsversuch angenommen, diese Strafbefreiung jedoch
nicht auf die vorangegangene versuchte Tötung am Nachmittag
desselben Tages erstreckt. Angesichts der fortdauernden
Mißhandlung von Schutzbefohlenden mittels Quälens
und rohen Mißhandelns durch Unterlassen hat die Strafkammer
hinsichtlich sämtlicher Tatbestände eine einheitliche
Tat i.S.d. § 52 StGB bejaht (UA 19-20).
2. Die Verneinung des Rücktritts von dem am Nachmittag des 15.
März 2001 begangenen Totschlagsversuch hält
rechtlicher Prüfung nicht stand.
Der Rücktritt des Unterlassenstäters ist nach den
Grundsätzen des beendeten Versuchs beim Begehungsdelikt
gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. StGB zu
beurteilen (vgl. BGH StV 1998, 369; NJW 2000, 1730, 1732). Gelingt es
dem Täter, die Vollendung der Tat zu verhindern, kommt es
nicht darauf an, wann er sich zur Rettung des Opfers
entschloß, was er in der Zwischenzeit tat oder
unterließ und welche Vorstellungen oder Beweggründe
insbesondere dafür maßgeblich waren, daß
er zunächst keine Rettungsmaßnahmen ergriff (BGH
NStZ 1981, 388; vgl. auch StV 1983, 413; BGHR § 24 Abs. 1. S.
1 Freiwilligkeit 14).
Bei einem mehraktigen Geschehen ist der Rücktritt hinsichtlich
des ersten Tatabschnitts nur dann ausgeschlossen, wenn dieser als ein
bereits fehlgeschlagener Versuch zu erachten ist (vgl. BGHSt 34, 53,
55; 41, 368, 369; 44, 91, 94). Von einem solchen, auch durch
spätere Handlungen nicht mehr
rücktrittsfähigen fehlgeschlagenen Versuch ist - bei
aktivem Tun - nur dann auszugehen, wenn der Täter nach dem
Mißlingen des vorgestellten Tatablaufs zu der Annahme
gelangt, er könne die Tat nicht mehr ohne zeitliche
Zäsur mit den bereits eingesetzten oder anderen
bereitliegenden Mitteln vollenden, so daß ein erneutes
Ansetzen notwendig sei, um zum gewünschten Ziel zu gelangen
(BGHSt 41, 368, 369 m.w.N.). Das Landgericht stellt jedoch fest,
daß die Angeklagte bereits aufgrund der erlittenen
Mißhandlung am Nachmittag des 15. März 2001 damit
rechnete, ohne ärztliche Hilfe werde das Kind
möglicherweise sterben (UA 9). Für die Zeit zwischen
den beiden Gewalthandlungen des Mitangeklagten K. sind den
Feststellungen keine Anhaltspunkte für einen Fehlschlag in dem
Sinne zu entnehmen, daß eine Unterbrechung der
Gefährdungslage des Kindes eingetreten oder von der
Angeklagten vorgestellt worden wäre. Dieses war zwar
eingeschlafen und wieder erwacht, befand sich aber weiterhin mit
lebensgefährlichen Verletzungen ohne jede medizinische
Versorgung schutzlos in ihrer Gewalt. Die Verletzungen durch den ersten
Teilakt waren demzufolge aus Sicht der Angeklagten nach wie vor
geeignet, den Todeserfolg herbeizuführen, wobei die
Verletzungen aus dem zweiten Teilakt nur geeignet waren, den Eindruck
akuter Lebensgefährlichkeit im Sinne des nahen
Erfolgseintritts zu verstärken (vgl. BGHR StGB § 24
Abs. 1 S. 1 Versuch, beendeter 5). Selbst wenn die Angeklagte, als sie
die Gewalttätigkeiten am Abend duldete, einen erneuten
gleichartigen Tatentschluß gefaßt hätte,
stünde dies einem Rücktritt nicht entgegen. Der Grund
der Strafbefreiung wurzelt in der freiwilligen Änderung der
Verhaltensrichtung, solange der Täter alle unerlaubten Risiken
noch in der Hand hat (BGH NJW 2000, 1730, 1732 m.w.N.). Daher erstreckt
sich ein Rücktritt auf sämtliche vorangegangene
Tatabschnitte, soweit er auf die Abwendung der durch diese
geschaffenen, ungehindert fortwirkenden Gefahren zielt.
3. Die Aufhebung der Verurteilung wegen versuchten Totschlags
erfaßt auch die tateinheitlichen Schuldsprüche wegen
Mißhandlung von Schutzbefohlenen und versuchter schwerer
Körperverletzung nach § 225 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2,
Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 2, § 226 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2, §
22, § 23 Abs. 1, § 13 Abs. 1 StGB.
Der neu entscheidende Tatrichter wird jedoch zu prüfen haben,
inwieweit eine Verurteilung wegen vollendeter schwerer
Körperverletzung durch Unterlassen nach § 226 Abs. 1
Nr. 3, § 13 StGB in Betracht kommt. Denn angesichts des von K.
am 12. März 2001 in Gegenwart der Angeklagten E. vorgenommenen
kräftigen Schlages mit der flachen Hand gegen den Kopf des
noch keine vier Wochen alten Kindes, der daraufhin seitlich anschwoll
(UA 7, 8), liegt nahe, daß die Angeklagte E. nicht erst nach
dem am 15. März 2001 verabreichten Faustschlag mit weiteren
Mißhandlungen i.S.d. § 225 Abs. 3 StGB rechnete,
sondern schon zuvor auch mit solchen Körperverletzungen, denen
nach Art, Ausmaß und Schwere die spezifische Gefahr der Folge
einer geistigen Krankheit oder Behinderung i.S.d. § 226 Abs. 1
Nr. 3 StGB anhaftet (vgl. BGHSt 31, 96, 98 f.; 41, 113, 118; BGHR StGB
§ 226 Todesfolge 11). Da sie aufgrund solcher Kenntnisse
verpflichtet gewesen wäre, für eine
räumliche Trennung des K. von ihrem Sohn Sorge zu tragen, und
um weitere Gewalttätigkeiten zu verhindern,
unverzüglich einzuschreiten, als der Angeklagte den
Säugling in ihrer Anwesenheit erneut angriff, würde
es nicht mehr darauf ankommen, ob durch eine sofortige
ärztliche Hilfe die Dauerfolge der Gewalthandlungen vom 15.
März 2001 objektiv hätte abgewendet werden
können.
4. Der sachlich-rechtliche Fehler, der zur Aufhebung der Verurteilung
der Angeklagten E. führt, betrifft auch die Verurteilung des
nicht mehr revidierenden Mitangeklagten K. , der wegen der genannten
Taten neben der tateinheitlichen Mißhandlung von
Schutzbefohlenen und schweren Körperverletzung ebenfalls wegen
versuchten Totschlags unter Versagung eines strafbefreienden
Rücktritts hinsichtlich der Tat am Nachmittag des 15.
März 2001 verurteilt worden ist. Denn die von der Strafkammer
in der Reichweite verkannten Voraussetzungen des Rücktritts
bei der Angeklagten E. als Unterlassenstäterin bestimmen sich
nach den gleichen Maßstäben wie beim Angeklagten K.
als Begehungstäter eines beendeten Versuchs. Somit kann der
Schuldspruch beim Mitangeklagten K. nach § 357 StPO ebenfalls
keinen Bestand haben.
5. Die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen sind rechtsfehlerfrei
getroffen und können mit Ausnahme derjenigen zum
Rücktrittsgeschehen (UA 10 Abs. 2 S. 4) bestehen bleiben.
Ergänzende Feststellungen, insbesondere zur bisher nicht
festgestellten Freiwilligkeit des Rücktritts sowie zu dem
Zeitpunkt, von dem an die Angeklagte mit schweren
Körperverletzungshandlungen des Mitangeklagten rechnete, sind
möglich.
Tepperwien Kuckein Solin-Stojanovic Ernemann Sost-Scheible |