BGH,
Beschl. v. 3.4.2003 - 4 StR 506/02
4 StR 506/02
StPO § 29 Abs. 1
Steht für das Revisionsgericht fest, daß der
abgelehnte Richter zu keinem Zeitpunkt befangen war, so vermag der
bloße formale Verstoß gegen die Wartepflicht des
§ 29 Abs. 1 StPO die Revision nicht zu begründen.
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom
3. April 2003
in der Strafsache gegen
wegen gewerbs- und bandenmäßiger Verleitung zur
mißbräuchlichen Asylantragstellung
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat auf Antrag des
Generalbundesanwalts und nach Anhörung des
Beschwerdeführers am 3. April 2003 einstimmig beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Dortmund
vom 17. Januar 2002 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu
tragen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gewerbs- und
bandenmäßiger Verleitung zur
mißbräuchlichen Asylantragstellung in 13
Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun
Monaten verurteilt. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte
die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat
keinen Erfolg.
Die Überprüfung des Urteils auf Grund der
Revisionsrechtfertigung hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des
Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO). Der
Erörterung bedarf nur die Rüge der Verletzung des
§ 29 Abs. 1 StPO. Im übrigen wird auf die
Ausführungen in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts
vom 10. Januar 2003 Bezug genommen.
1. Der Rüge liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:
Die Verteidigung lehnte vor der Hauptverhandlung den Vorsitzenden der
Strafkammer wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Das
Ablehnungsschreiben ging per Fax am 21. März 2001 gegen 22.30
Uhr beim Landgericht ein. Am nächsten Morgen begann um 9.22
Uhr die Hauptverhandlung unter Vorsitz des abgelehnten Richters mit dem
Aufruf der Sache, der Feststellung der Anwesenheit der
Verfahrensbeteiligten und der Vernehmung des Angeklagten zu seinen
Personalien. Ein Hinweis der Verteidigung auf das Ablehnungsgesuch
erfolgte nicht. Kenntnis hiervon erhielt der Vorsitzende erst am 23.
März 2001. Am zweiten Hauptverhandlungstag (26. März
2001) wurde auf Anordnung des Vorsitzenden die Anklageschrift verlesen;
weiterhin wurde festgestellt, daß die Anklage durch
Eröffnungsbeschluß zugelassen worden war. Das
Ablehnungsgesuch wurde durch Beschluß vom 28. März
2001, der zu Beginn des dritten Hauptverhandlungstag verkündet
wurde, als unbegründet zurückgewiesen.
Die Revision ist der Auffassung, die an den ersten beiden
Hauptverhandlungstagen gemäß § 243 StPO
vorgenommenen Handlungen des für befangen erklärten
Richters seien aufschiebbar gewesen und deswegen
gemäß § 29 Abs. 1 StPO nicht wirksam
vorgenommen worden. Da diese Verfahrensmängel nicht durch
Wiederholung der Prozeßhandlungen geheilt worden sind, beruhe
das Urteil auf dem Fehlen wesentlicher Hauptverhandlungsteile.
2. Die Rüge ist jedenfalls unbegründet.
a) Fraglich erscheint bereits, ob der abgelehnte Tatrichter der
Wartepflicht des § 29 Abs. 1 StPO unterlag.
Geht das Ablehnungsgesuch vor der Hauptverhandlung ein, bestimmt sich
die Befugnis des abgelehnten Richters zur Vornahme richterlicher
Handlungen grundsätzlich ab diesem Zeitpunkt nach §
29 Abs. 1 StPO (h.M., vgl. nur Meyer-Goßner StPO 46. Aufl.
§ 29 Rdn. 1, 9). Danach hat ein abgelehnter Richter vor
Erledigung des Ablehnungsgesuchs nur solche Handlungen vorzunehmen, die
keinen Aufschub gestatten. Unaufschiebbar im Sinne dieser Vorschrift
sind Handlungen, die wegen ihrer Dringlichkeit nicht anstehen
können, bis ein Ersatzrichter eintritt (vgl. BGH NStZ 2002,
429, 430; Wendisch in Löwe/Rosenberg StPO 25. Aufl. §
29 Rdn. 14; Pfeiffer in KK 4. Aufl. § 29 Rdn. 3;
Meyer-Goßner aaO § 29 Rdn. 4, jeweils m. w. Nachw.).
Ob dies auch dann zu gelten hat, wenn das Ablehnungsgesuch - wie hier -
unmittelbar vor Beginn der Hauptverhandlung gestellt wird, oder ob zur
Vermeidung rechtsmißbräuchlichen Vorgehens in
Fällen dieser Art § 29 Abs. 2 StPO anzuwenden sein
wird, braucht der Senat nicht zu entscheiden.
b) Auch unter Zugrundelegung der Maßstäbe des
§ 29 Abs. 1 StPO verstieß jedenfalls der Beginn der
Hauptverhandlung durch Aufruf der Sache und Feststellung der
Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten nicht gegen die Wartepflicht. Das
Verfahren, das sich ursprünglich gegen vier Angeklagte
richtete, war bereits einmal ausgesetzt worden. Ein weiterer
für September 2000 vorgesehener Termin konnte nicht
durchgeführt werden. Für die nunmehr terminierten 20
Verhandlungstage waren neben den acht Verteidigern, ein
Sachverständiger, ein Dolmetscher und zahlreiche, insbesondere
ausländische Zeugen geladen. Angesichts des Umstandes,
daß das Ablehnungsgesuch erst in der Nacht vor dem ersten
Hauptverhandlungstermin angebracht worden war, stellte der Beginn der
Hauptverhandlung bei dieser Sachlage eine dringliche, keinen Aufschub
gestattende Handlung im Sinne des § 29 Abs. 1 StPO dar (anders
OLG Düsseldorf StV 1994, 528 in einem Fall, in welchem das
Ablehnungsgesuch allerdings bereits eine Woche vor Beginn der
Hauptverhandlung gestellt worden war).
c) Die richterlich angeordnete Verlesung der Anklage sowie die
Feststellung ihrer Zulassung durch den
Eröffnungsbeschluß am zweiten Hauptverhandlungstag,
waren allerdings unter keinem Gesichtspunkt mehr unaufschiebbar im
Sinne von § 29 Abs. 1 StPO.
Unbeschadet der aus der unterbliebenen Beanstandung der Anordnungen des
Vorsitzenden resultierenden Bedenken gegen die Zulässigkeit
der erhobenen Rüge (vgl. BGH NStZ 2002, 429, 430), bleibt die
Verfahrensbeschwerde jedoch schon deshalb ohne Erfolg, weil das Urteil
auf dem allein gerügten formalen Verstoß gegen
§ 29 Abs. 1 StPO nicht beruht (§ 337 StPO).
aa) Die Vorschrift des § 29 Abs. 1 StPO trägt der
unterschiedlichen Interessenlage bei der Ablehnung eines Richters
Rechnung. Sie dient primär der Verfahrensförderung:
Die Anbringung eines Ablehnungsgesuchs soll für sich allein
nicht die Wirkung haben, daß der Abgelehnte sogleich von
jeder Mitwirkung in der Sache ausgeschlossen wird. Anderenfalls
hätte es ein Verfahrensbeteiligter in der Hand, "die Vornahme
dringlicher Untersuchungshandlungen durch Vorbringen eines
unbegründeten Ablehnungsgesuchs zu verhindern" (vgl. Hahn, Die
gesamten Materialien zu der Strafprozeßordnung, 1. Abt., 2.
Aufl. S. 91 zu der entsprechenden Regelung in § 23 des
Entwurfs der StPO). Andererseits hat derjenige, der das
Ablehnungsgesuch gestellt hat, regelmäßig ein
Interesse daran, daß der von ihm für befangen
erachtete Richter in dem Verfahren nicht weiter mitwirkt; ein
abgelehnter Richter, dessen Ablehnung möglicherweise
für begründet erklärt werden wird, soll
deshalb nicht länger als unbedingt nötig auf das
Prozeßgeschehen einwirken können (vgl. BGH NStZ
1996, 398). Beschwert im Sinne des Revisionsrechts wird der Ablehnende
indes nur, wenn sich herausstellt, daß der abgelehnte Richter
auch befangen war.
bb) Hat ein abgelehnter Richter, dessen Ablehnung später
für begründet erklärt oder zu Unrecht
zurückgewiesen wird, unter Verstoß gegen §
29 Abs. 1 StPO in dem weiteren Verfahren mitgewirkt, so kann dies der
Ablehnende mit dem dafür vorgesehenen absoluten Revisionsgrund
des § 338 Nr. 3 StPO geltend machen. Er kann auch in dem Fall,
daß ein erkennender Richter nach der Eröffnung des
Hauptverfahrens, aber noch vor Beginn der Hauptverhandlung abgelehnt
wird, mit der Verfahrensbeschwerde nach § 338 Nr. 3 StPO
rügen, daß der abgelehnte Richter bei dem Urteil
mitgewirkt hat (vgl. BGHSt 31, 15). Mit dieser Regelung wäre
es jedoch wertungsmäßig nicht in Einklang zu
bringen, wenn schon der formale Verstoß gegen die
Wartepflicht des § 29 Abs. 1 StPO - unabhängig von
der Begründetheit des Ablehnungsgesuchs - für sich
gesehen die Revision begründen oder gar zur Unwirksamkeit der
betroffenen Prozeßhandlungen führen (so OLG
Düsseldorf StV 1994, 528) würde. Zu einer
dahingehenden Auslegung des § 29 Abs. 1 StGB besteht nach dem
Sinn und Zweck der Vorschrift kein Anlaß. Eine solche ist
angesichts des absoluten Revisionsgrundes des § 338 Nr. 3 StPO
zur Wahrung der berechtigten Interessen des Ablehnenden nicht geboten.
cc) Da der Beschwerdeführer mit der Verfahrensbeschwerde
ausdrücklich nur den (formalen) Verstoß gegen die
Wartepflicht des § 29 Abs. 1 StPO und nicht (auch) die
Verletzung des § 338 Nr. 3 StPO gerügt hat und das
Befangenheitsgesuch als unbegründet zurückgewiesen
worden ist, steht - ohne daß der Senat die
Begründetheit des Ablehnungsantrags zu
überprüfen hätte - fest, daß der
abgelehnte Richter zu keinem Zeitpunkt befangen gewesen ist (vgl. BGHSt
4, 208, 210). Es kann daher ausgeschlossen werden, daß der
Verstoß gegen die Wartepflicht des § 29 Abs. 1 StPO
sich hier zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt hat (BGH aaO ; vgl.
auch BGH NStZ 1996, 398 [zur Überschreitung der
Höchstfrist des § 29 Abs. 2 Satz 1 StPO] ; ebenso wie
hier im Ergebnis OLG München NStZ 1993, 354 f.; OLG Hamm NStZ
1999, 530; OLG Düsseldorf JMBlNW 1997, 223 f.; Pfeiffer aaO
§ 29 Rdn. 5; a.A. OLG Düsseldorf StV 1994, 528).
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