BGH,
Beschl. v. 3.3.2005 - GSSt 1/04
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
GSSt 1/04
vom
3.3.2005
in den Strafsachen
gegen
1.
2.
alias:
wegen zu 1.: Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer
Menge u.a.
zu 2.: Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer
Menge
- 2 -
Der Große Senat für Strafsachen des
Bundesgerichtshofs hat durch den Präsidenten
des Bundesgerichtshofes Prof. Dr. Hirsch, die Vorsitzende Richterin am
Bundesgerichtshof Dr. Tepperwien, den Vorsitzenden Richter am
Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Tolksdorf, die Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Rissing-van Saan, den Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof Nack
sowie die Richter am Bundesgerichtshof Dr. h.c. Detter, Häger,
Maatz, Basdorf,
Winkler und Dr. Wahl am 3.03.2005 beschlossen:
1. Das Gericht darf im Rahmen einer Urteilsabsprache an der
Erörterung eines Rechtsmittelverzichts nicht mitwirken und
auf einen solchen Verzicht auch nicht hinwirken.
2. Nach jedem Urteil, dem eine Urteilsabsprache zugrunde
liegt, ist der Rechtsmittelberechtigte, der nach § 35 a
Satz 1 StPO über ein Rechtsmittel zu belehren ist, stets
auch
darüber zu belehren, daß er ungeachtet der Absprache
in
seiner Entscheidung frei ist, Rechtsmittel einzulegen (qualifizierte
Belehrung). Das gilt auch dann, wenn die Absprache
einen Rechtsmittelverzicht nicht zum Gegenstand hatte.
3. Der nach einer Urteilsabsprache erklärte Verzicht auf die
Einlegung eines Rechtsmittels ist unwirksam, wenn der ihn
erklärende Rechtsmittelberechtigte nicht qualifiziert belehrt
worden ist.
- 3 -
Gründe:
A.
Die Vorlage des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs an den
Großen
Senat für Strafsachen betrifft die Frage, inwieweit dem im
Zusammenhang mit
einer Urteilsabsprache erklärten Rechtsmittelverzicht
Wirksamkeit zukommt.
I. Dem 3. Strafsenat liegen zwei Revisionsverfahren vor, in denen vorab
jeweils über die Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts zu
entscheiden ist. Beide
Verfahren hat der 3. Strafsenat zur gemeinsamen Verhandlung und
Entscheidung
verbunden.
1. In der Strafsache gegen J. (3 StR 415/02) geht es um einen in der
Urteilsabsprache „vereinbarten“ und nach
Urteilsverkündung sodann allseitig
erklärten Rechtsmittelverzicht, nach dem der Angeklagte
Wiedereinsetzung zur
Revisionseinlegung begehrt.
Das Landgericht Duisburg hat den Angeklagten am 29. April 2002 wegen
unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht
geringer Menge
in drei Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren
und sechs Monaten
verurteilt. Der Angeklagte hat unmittelbar nach der
Urteilsverkündung auf die
Einlegung eines Rechtsmittels verzichtet. Fünf Monate
später hat er mit Schriftsatz
vom 25. September 2002, eingegangen am 27. September 2002, Revision
eingelegt und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach
Versäumung
der Frist zur Einlegung der Revision beantragt. Dazu hat er
vorgetragen: Der
Rechtsmittelverzicht sei Bestandteil einer verfahrensbeendenden
Absprache
- 4 -
gewesen und deshalb unwirksam. Hiervon habe er erst nach dem 20.
September
2002 - dem Tag, an dem sein neuer Verteidiger Akteneinsicht erhalten
hatte
- Kenntnis erlangt.
Dem Antrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Nach
Erörterung der
Sach- und Rechtslage sowie einer einstündigen Unterbrechung
der Sitzung
wurde im Hauptverhandlungsprotokoll festgehalten: „Nach
Erörterung der
Sach- und Rechtslage sicherte die Kammer eine Freiheitsstrafe von
höchstens
vier Jahren neun Monaten bei Rechtsmittelverzicht zu“.
Daraufhin erklärten
sowohl die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft als auch der
Angeklagte
und sein Verteidiger, sie stimmten einer „solchen
Absprache“ bzw. einer „solchen
Zusage der Kammer“ zu. Nach Verlesung des Anklagesatzes und
Belehrung
des Angeklagten über seine Aussagefreiheit erklärte
dieser, aussagen zu
wollen. Anschließend gestand „der Angeklagte durch
seinen Verteidiger die
Anklagevorwürfe als richtig zu“. Der Verteidiger
erklärte für den Angeklagten
weiterhin das Einverständnis zur
„außergerichtlichen Einziehung“ von
sichergestellten
Betäubungsmitteln und Geldbeträgen. Daraufhin wurde
auf die Vernehmung
der erschienenen Zeugen verzichtet. Nach im wesentlichen
übereinstimmenden
Schlußanträgen von Staatsanwaltschaft und
Verteidigung und
dem letzten Wort des Angeklagten verkündete die Strafkammer
das Urteil und
einen Haftfortdauerbeschluß. Unmittelbar danach verzichteten
der Angeklagte,
sein Verteidiger und die Staatsanwaltschaft auf Rechtsmittel. Diese
Erklärungen
wurden vorgelesen und genehmigt.
2. In der Strafsache gegen H. (3 StR 368/02) war der
Rechtsmittelverzicht
selbst zwar nicht Inhalt der Urteilsabsprache. Das Gericht brachte dabei
aber zum Ausdruck, daß ein Rechtsmittelverzicht
„wünschenswert“ sei. Auf
- 5 -
Nachfrage des Gerichts nach Urteilsverkündung
erklärten die Angeklagte und
ihr Verteidiger Rechtsmittelverzicht, ungeachtet dessen die Angeklagte
innerhalb
der Frist des § 341 StPO Revision einlegte.
Das Landgericht Lüneburg hat die Angeklagte am 4. Juli 2002 in
einem
umfangreichen Betäubungsmittelverfahren, das sich noch gegen
weitere Angeklagte
richtete, wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in
Tateinheit
mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit
Betäubungsmitteln, jeweils in
nicht geringer Menge, in zehn Fällen zu der
Gesamtfreiheitsstrafe von acht
Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die am 5.
Juli 2002
- am Tag nach der Urteilsverkündung - eingelegte Revision der
Angeklagten.
Die Angeklagte ist der Auffassung, ihr Rechtsmittel sei
zulässig, obwohl sie
unmittelbar nach Verkündung des Urteils auf Rechtsmittel
verzichtet hatte. Ihr
Rechtsmittelverzicht sei nämlich unwirksam.
Dem liegt folgender Verfahrensablauf zugrunde: Am ersten Verhandlungstag
wurde die Hauptverhandlung unterbrochen, „um den
Verfahrensbeteiligten
(Staatsanwaltschaft, Verteidigung, Gericht) Gelegenheit zu geben, eine
einverständliche Verfahrenserledigung zu
erörtern“. Nach einer Stunde wurde
die Hauptverhandlung fortgesetzt. Zum weiteren Fortgang heißt
es im Hauptverhandlungsprotokoll:
„Der Vorsitzende gab den Inhalt des in der
Verhandlungsunterbrechung
geführten Gespräches bekannt: Die Kammer schlage
folgende
Verfahrenserledigung (Rechtsmittelverzicht wünschenswert) vor:
…“ Für
den Fall eines „umfassenden und glaubhaften“
Geständnisses der Angeklagten
wurde eine Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten als
Strafobergrenze in Aussicht gestellt. Die Hauptverhandlung wurde sodann
erneut
unterbrochen, „um den Verfahrensbeteiligten, insbesondere den
Ange-
6 -
klagten und ihren Verteidigern Gelegenheit zu geben, die Anregung des
Gerichts
zu erörtern.“ 40 Minuten später wurde die
Hauptverhandlung fortgesetzt.
„Die Verfahrensbeteiligten, insbesondere die Angeklagten und
ihre Verteidiger
erklärten: Wir sind mit der vorgeschlagenen
einverständlichen Verfahrenserledigung
einschließlich der in Aussicht gestellten
Gesamtfreiheitsstrafe … einverstanden.“
Anschließend erklärte der Verteidiger für
die Angeklagte, die Anklagevorwürfe
träfen zu, und die Angeklagte bestätigte, dies sei so
richtig.
Am nächsten Verhandlungstag wurde das Urteil
verkündet. Dann wurde
die Rechtsmittelbelehrung erteilt, zusätzlich wurde das
Formblatt ausgehändigt.
Während die anderen Angeklagten keine
Rechtsmittelverzichtserklärungen
abgaben, erklärte der Verteidiger der Angeklagten:
„Wir verzichten auf
Rechtsmittel.“ Auf Nachfrage des Gerichts bekundete die
Angeklagte nach kurzer
Unterredung mit ihrem Verteidiger: „Ich verzichte auf
Rechtsmittel gegen
das soeben verkündete Urteil.“ Diese
Erklärung wurde vorgelesen und genehmigt.
Anschließend erklärte die Staatsanwaltschaft
gleichfalls Rechtsmittelverzicht
bezüglich der Angeklagten H. .
II. Der 3. Strafsenat hält in beiden Fällen den
Rechtsmittelverzicht für
unwirksam. Er möchte auf die Revisionen der Angeklagten die
Urteile einer
Rechtsprüfung unterziehen. Er hält die geschilderte
Vorgehensweise des
Landgerichts für unzulässig. Ein Rechtsmittelverzicht
im Rahmen einer Urteilsabsprache
dürfe weder vereinbart werden noch dürfe das Gericht
auf ihn hinwirken.
Wegen des unzulässigen Vorgehens seien die
Rechtsmittelverzichtserklärungen
der Angeklagten unwirksam.
- 7 -
In der Strafsache J. (Fall 1) würde der 3. Strafsenat auf der
Basis
der bisherigen Rechtsprechung (vgl. BGHSt 45, 227, 234)
Wiedereinsetzung in
den vorigen Stand nach Versäumung der Frist zur Einlegung der
Revision gewähren.
III. Da sich der 3. Strafsenat im Fall 1 an der beabsichtigten
Entscheidung
durch die Rechtsprechung des 1., 2. und 5. Strafsenats gehindert sieht,
hat er mit Beschluß vom 24. Juli 2003 (NJW 2003, 3426) bei
den anderen
Strafsenaten gemäß § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG
angefragt, ob an dieser Rechtsprechung
festgehalten wird. Im Fall 2 hat der 3. Strafsenat - nachdem hierzu
eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs bislang nicht vorliegt - die
anderen
Senate um Stellungnahme gebeten.
Der 5. Strafsenat (Beschl. vom 29. Oktober 2003 - 5 ARs 61/03 = NJW
2004, 1335) und der 4. Strafsenat (Beschl. vom 25. November 2003 - 4 ARs
32/03) haben mitgeteilt, daß sie den im
Anfragebeschluß bezeichneten Rechtssätzen
zustimmen und eigene Rechtsprechung nicht entgegensteht
(4. Strafsenat) bzw. aufgegeben wird (5. Strafsenat).
Der 1. Strafsenat (Beschl. vom 26. November 2003 - 1 ARs 27/03 =
NStZ 2004, 164) und der 2. Strafsenat (Beschl. vom 28. Januar 2004 - 2
ARs
330/03 = NJW 2004, 1336) halten hingegen an ihrer entgegenstehenden
Rechtsprechung zur Wirksamkeit eines (unzulässigerweise)
vereinbarten
Rechtsmittelverzichts fest. Der 2. Strafsenat hat zudem die bisherige
Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofs zur Unzulässigkeit der Vereinbarung
eines
Rechtsmittelverzichts im Rahmen einer Urteilsabsprache in Zweifel
gezogen.
- 8 -
Der 1., 2. und 4. Strafsenat haben darüber hinaus angeregt,
den Großen
Senat für Strafsachen auch wegen der grundsätzlichen
Bedeutung der aufgeworfenen
Rechtsfragen anzurufen.
IV. Daraufhin hat der 3. Strafsenat - wegen beabsichtigter Abweichung
und wegen grundsätzlicher Bedeutung - dem Großen
Senat für Strafsachen
gemäß §§ 132 Abs. 2 und 4 GVG mit
Beschluß vom 15. Juni 2004 (NJW 2004,
2536) folgende Rechtsfragen zur Entscheidung vorgelegt:
1. Ist es zulässig, im Rahmen einer Urteilsabsprache zu
vereinbaren, daß auf ein Rechtsmittel verzichtet wird?
2. Ist es zulässig, daß das Gericht im Rahmen einer
Urteilsabsprache
darauf hinwirkt, daß ein Rechtsmittelverzicht
erklärt wird, indem es diesen ausdrücklich anspricht
oder befürwortet?
3. Ist die Erklärung des Angeklagten, auf Rechtsmittel zu
verzichten, wirksam, wenn ihr eine Urteilsabsprache vorausgegangen
ist, in der unzulässigerweise ein Rechtsmittelverzicht
versprochen worden ist oder bei der das
Gericht, ohne sich ihn im Rahmen der Absprache
unzulässigerweise
versprechen zu lassen, lediglich auf diesen
hingewirkt hat?
V. Der Generalbundesanwalt hält die Vorlegungsfragen
für zu weit gefaßt,
soweit sie den Rechtsmittelverzicht auch des unverteidigten Angeklagten
zum Gegenstand haben. Im übrigen sieht er die Vorlegung als
zulässig an.
- 9 -
Nach seiner Ansicht ist die Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts nur
dann prozeßordnungswidrig, wenn das Gericht - was allerdings
nur selten vorkomme
- das Versprechen des Rechtsmittelverzichts als Gegenleistung
für
eine Strafmilderung verlange. Fehle ein solches
Gegenseitigkeitsverhältnis,
bestünden gegen die Verabredung des Rechtsmittelverzichts im
Rahmen der
Verständigungsgespräche keine Bedenken. Entgegen der
Auffassung des vorlegenden
Senats sei es dem Gericht auch nicht untersagt, bei der
Verständigung
auf die spätere Erklärung des Rechtsmittelverzichts
hinzuwirken. Wenn
das Gericht sich einen Rechtsmittelverzicht versprechen lasse oder auf
ihn
hinwirke, habe dies nicht zur Folge, daß der nach der
Urteilsverkündung erklärte
Rechtsmittelverzicht unwirksam sei.
Der Generalbundesanwalt hat beantragt zu beschließen:
1. Es ist grundsätzlich zulässig, im Rahmen einer
Urteilsabsprache
mit einem verteidigten Angeklagten zu vereinbaren,
daß auf Rechtsmittel verzichtet wird.
2. Das Gericht darf im Rahmen einer Urteilsabsprache auf
einen Rechtsmittelverzicht des verteidigten Angeklagten
hinwirken.
3. Die Erklärung des verteidigten Angeklagten, auf
Rechtsmittel zu verzichten, ist nicht schon deshalb unwirksam,
weil ihr eine Urteilsabsprache vorausgegangen
ist, in der ein Rechtsmittelverzicht versprochen worden
ist oder bei der das Gericht lediglich auf diesen hingewirkt
hat.
- 10 -
- 11 -
B.
Die Vorlegungsvoraussetzungen sind gegeben.
Der Große Senat für Strafsachen beantwortet die
vorgelegten Fragen
wie aus der Entscheidungsformel ersichtlich.
I.
Die Beantwortung der Vorlegungsfragen macht vorab eine Entscheidung
über die Zulässigkeit von Urteilsabsprachen
erforderlich. Gegenstand der Vorlegung
sind zwar unmittelbar lediglich Fragen des Rechtsmittelverzichts im
Rahmen einer solchen Absprache. Diese Fragen lassen sich indes sinnvoll
nur
beantworten, wenn Urteilsabsprachen nicht von vornherein
unzulässig sind.
1. Die Strafprozeßordnung kennt die Verständigung
über das Ergebnis
einer Hauptverhandlung als Erledigungsart und verbindliche Zusagen
über das
Verfahrensergebnis nicht. Trotz Fehlens gesetzlicher Regelungen hat
sich in
der Strafrechtspflege eine Praxis dahin entwickelt, daß sich
die Verfahrensbeteiligten
nicht nur über den Stand und die Aussichten des Verfahrens
verständigen
- wogegen keine Bedenken bestehen (vgl. hierzu BVerfG - Kammer -
NJW 1987, 2662) -, sondern zunehmend auch dessen Ergebnis vereinbaren
oder zu vereinbaren versuchen. In nicht wenigen Fällen ist
dabei auch die
Inaussichtstellung des Rechtsmittelverzichts Gegenstand einer solchen
Absprache.
- 12 -
2. Der Bundesgerichtshof hat sich in den letzten Jahren mehrfach mit
Rechtsfragen befaßt, die sich aus dieser Rechtspraxis ergaben.
a) Er hatte zunächst einzelne, dafür typische
Verfahrensvorgänge unter
verschiedenen rechtlichen Gesichtspunkten zu
überprüfen. So waren Gegenstand
der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs die Besorgnis richterlicher
Befangenheit, die nach § 136 a StPO unzulässige
Willensbeeinflussung, die
Verletzung des fairen Verfahrens, die Nichtgewährung
rechtlichen Gehörs und
die Verletzung des Beweisantragsrechts (vgl. die Nachweise im
Vorlagebeschluß
des 3. Strafsenats, NJW 2004, 2536).
b) Mit der Entscheidung BGHSt 43, 195 hat der 4. Strafsenat des
Bundesgerichtshofs
schließlich die Verständigung im Strafverfahren
insgesamt unter
den Aspekten der Rechtsstaatlichkeit, der Idee der Gerechtigkeit sowie
der
Notwendigkeit einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege
beurteilt. Er hat daraus
Regeln abgeleitet, bei deren Einhaltung durch den Tatrichter die so
„institutionalisierte“
Verständigung mit der geltenden Rechtsordnung (noch) in
Einklang
zu bringen sei.
Danach bestehen folgende Mindestbedingungen für die
Zulässigkeit einer
Verständigung: Es darf keine Absprache über den
Schuldspruch geben;
das Geständnis ist auf seine Glaubhaftigkeit zu
überprüfen; alle Verfahrensbeteiligten
sind einzubeziehen; das Ergebnis der Absprache ist offenzulegen und
zu protokollieren; es darf nur eine Strafobergrenze zugesagt werden;
von dieser
darf nur abgewichen werden, wenn sich neue schwerwiegende
Umstände
zu Lasten des Angeklagten ergeben haben; die beabsichtigte Abweichung
ist
in der Hauptverhandlung mitzuteilen; schließlich
muß die Strafe schuldangemessen
sein. Nicht zulässig ist es, den Angeklagten durch die
Androhung einer
- 13 -
überhöhten Strafe oder durch Versprechen eines
gesetzlich nicht vorgesehenen
Vorteils zu einem Geständnis zu drängen, ihm eine
mildere Strafe für das
Versprechen des Rechtsmittelverzichts zuzusagen und (insofern in BGHSt
43,
195 nicht tragend ausgeführt) einen Rechtsmittelverzicht
überhaupt zu vereinbaren.
c) Alle Strafsenate des Bundesgerichtshofs haben in der Folgezeit in
einer
Reihe von Entscheidungen die Zulässigkeit von
Urteilsabsprachen anhand
der Mindestbedingungen von BGHSt 43, 195 beurteilt (vgl. nur BGHSt 48,
161;
49, 84; BGH StV 2004, 417, 470, 639; vgl. auch BVerfG - Kammer - StV
2000,
3).
3. Der Große Senat für Strafsachen hält
Urteilsabsprachen grundsätzlich
für zulässig und für vereinbar mit der
geltenden Strafprozeßordnung. Er sieht
aber Anlaß, die der Absprachepraxis durch Verfassung und
Strafprozeßordnung
gesetzten, bereits in der Entscheidung BGHSt 43, 195 zusammengestellten
Grenzen hervorzuheben und zu präzisieren.
a) Verfassungsrechtliche Grenzen ergeben sich für die
Urteilsabsprache
insbesondere aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens und dem
Schuldprinzip.
Der Angeklagte hat einen Anspruch auf ein faires, rechtsstaatliches
Verfahren
(Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG). Die Handhabung der
richterlichen
Aufklärungspflicht, die rechtliche Subsumtion und die
Grundsätze der
Strafzumessung dürfen nicht im Belieben oder zur freien
Disposition der Verfahrensbeteiligten
und des Gerichts stehen. Deshalb ist es dem Gericht und
- 14 -
der Staatsanwaltschaft untersagt, sich auf einen
„Vergleich“ im Gewande des
Urteils, auf einen „Handel mit der Gerechtigkeit“
einzulassen. Der Strafprozeß
darf darüber hinaus nicht auf eine Weise geführt
werden, daß der Beschuldigte
zum bloßen Objekt des Verfahrens wird. Der Beschuldigte
muß im Rahmen der
von der Strafprozeßordnung aufgestellten Regeln nicht nur
theoretisch, sondern
auch praktisch die Möglichkeit erhalten, zur Wahrung seiner
Rechte aktiv
auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluß zu
nehmen (BVerfG -
Kammer - NJW 1987, 2662; vgl. auch BVerfGE 57, 250, 275 f.).
Ein zentrales Ziel des rechtsstaatlich geordneten Strafverfahrens ist
die
Ermittlung des wahren Sachverhalts als der notwendigen Grundlage eines
gerechten
Urteils. Die Ermittlung des Sachverhalts durch den Tatrichter untersteht
dem aus § 244 Abs. 2 StPO abzuleitenden und den
verfassungsrechtlichen
Anforderungen entsprechenden „Gebot bestmöglicher
Sachaufklärung“
(vgl. BVerfGE 57, 250, 275; 63, 45, 61; BVerfG - Kammer - NJW 2003, 2444
und Beschluß vom 17. September 2004 - 2 BvR 2122/03). Dabei
ist die Feststellung
des Ergebnisses der Beweisaufnahme grundsätzlich der
Urteilsberatung
vorbehalten, denn die für das Urteil maßgeblichen
Feststellungen muß der
Tatrichter nach § 261 StPO aus dem Inbegriff der
Hauptverhandlung gewinnen
(BGHSt 43, 360).
Die Strafe muß schuldangemessen sein. Der Grundsatz der
Schuldangemessenheit
des Strafens hat Verfassungsrang. Er folgt aus Art. 1 Abs. 1 und
Art. 2 Abs. 1 GG sowie aus dem Rechtsstaatsprinzip. § 46 Abs.
1 Satz 1 StGB
ist Ausdruck dieses Prinzips (BVerfGE 86, 288, 313; 95, 96, 140). Die
Strafe
darf sich nicht - auch nicht nach unten - von ihrer Bestimmung als
gerechter
Schuldausgleich lösen. Sie muß in einem angemessenen
Verhältnis zum Maß
- 15 -
der persönlichen Schuld, zum Unrechtsgehalt und zur
Gefährlichkeit der Tat
stehen und muß sich auch im Rahmen des für
vergleichbare Fälle Üblichen
halten (BGHR StGB § 46 Abs. 1 Strafhöhe 9; BtMG
§ 30 Strafzumessung 1).
b) Mit Blick auf diese verfassungsrechtlichen Vorgaben und ihre
Ausgestaltung
durch die Regelungen der geltenden Strafprozeßordnung ergeben
sich - jenseits der durch die Vorlegung aufgeworfenen Fragen des
Rechtsmittelverzichts
(dazu unter II.) - für eine zulässige
Urteilsabsprache insbesondere
folgende, im wesentlichen schon in der Entscheidung BGHSt 43, 195
zusammengestellte
Mindestbedingungen:
Das Gericht darf nicht vorschnell auf eine Urteilsabsprache ausweichen,
ohne zuvor pflichtgemäß die Anklage
tatsächlich anhand der Akten und insbesondere
auch rechtlich überprüft zu haben (vgl. BGHR StPO
§ 302 Abs. 1
Satz 1 Rechtsmittelverzicht 25; BGH NStZ 2004, 577, 578).
Das bei einer Urteilsabsprache in der Regel abgelegte
Geständnis muß
auf seine Zuverlässigkeit überprüft werden.
Das Gericht muß von seiner Richtigkeit
überzeugt sein. Dazu muß das selbstbelastende,
keinen besonderen
Zweifeln im Einzelfall unterliegende Geständnis wenigstens so
konkret sein,
daß geprüft werden kann, ob es derart im Einklang
mit der Aktenlage steht,
daß sich hiernach keine weitergehende Sachaufklärung
aufdrängt. Ein bloßes
inhaltsleeres Formalgeständnis reicht hingegen nicht aus (vgl.
BGHR StPO
§ 302 Abs. 1 Satz 1 Rechtsmittelverzicht 25). Zum
Geständnis „zu Lasten Dritter“
verweist der Große Senat für Strafsachen auf BGHSt
48, 161.
Der Schuldspruch kann - allerdings abgesehen von den in
Einzelfällen
- 16 -
nicht unnötig restriktiv zu handhabenden
Möglichkeiten, welche die verfahrensökonomischen
Regelungen aus §§ 154, 154 a StPO gestatten - nicht
Gegenstand
einer Urteilsabsprache sein.
Die Differenz zwischen der absprachegemäßen und der
bei einem „streitigen
Verfahren“ zu erwartenden Sanktion darf nicht so
groß sein („Sanktionsschere“),
daß sie strafzumessungsrechtlich unvertretbar und mit einer
angemessenen
Strafmilderung wegen eines Geständnisses nicht mehr
erklärbar ist.
Dies gilt sowohl für den Fall, daß die ohne
Absprache in Aussicht gestellte
Sanktion das vertretbare Maß überschreitet, so
daß der Angeklagte inakzeptablem
Druck ausgesetzt wird (vgl. BGH StV 2004, 470), als auch für
den Fall,
daß das Ergebnis des Strafnachlasses unterhalb der Grenze
dessen liegt, was
noch als schuldangemessene Sanktion hingenommen werden kann.
Das Gericht darf über BGHSt 43, 195 (Leitsatz 2) hinaus nicht
nur wegen
neuer Erkenntnisse von seiner Zusage abweichen, sondern - nach
entsprechendem
Hinweis - auch dann, wenn schon bei der Urteilsabsprache vorhandene
relevante tatsächliche oder rechtliche Aspekte
übersehen wurden
(vgl. BGH NStZ 2004, 493; 2005, 115). Es wäre unvertretbar,
das Gericht bei
der Urteilsfindung entgegen § 261 StPO an einen
maßgeblichen Irrtum allein
aufgrund des im Rahmen einer Verständigung gesetzten
Vertrauenstatbestandes
zu binden, den es freilich auch und gerade in diesen Fällen
durch entsprechende
Hinweise beseitigen muß.
4. Der Große Senat für Strafsachen verkennt nicht,
daß die Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofs zur grundsätzlichen
Zulässigkeit von Urteilsabsprachen
bei Einhaltung der in der Entscheidung BGHSt 43, 195 zusammen-
17 -
gestellten Mindestbedingungen im Schrifttum auf Kritik
gestoßen ist. Von Zweifeln
abgesehen, ob sie ihr Ziel, der Verständigungspraxis einen
Rahmen zu
geben, erreicht hat und überhaupt erreichen konnte (vgl. die
Nachweise im
Vorlagebeschluß des 3. Strafsenats, NJW 2004, 2536), wird ihr
vor allem entgegengehalten,
daß der Bundesgerichtshof mit der Einführung eines
institutionalisierten
Abspracheverfahrens die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung
überschritten habe. Diese Bedenken teilt der Große
Senat für Strafsachen
nicht.
a) Allerdings enthält die Strafprozeßordnung keine
Regelungen über die
Urteilsabsprache. Sie ist sogar im Grundsatz vergleichsfeindlich
ausgestaltet.
Richtig ist ferner, daß die Anerkennung der Verbindlichkeit
von Zusagen zur
Strafhöhe, auch wenn diese - entsprechend den Vorgaben der
Entscheidung
BGHSt 43, 195 - lediglich die Strafobergrenze zum Gegenstand haben
dürfen,
mit § 261 StPO nur schwer in Einklang zu bringen ist. Sodann
ist nicht zu übersehen,
daß Abspracheverfahren in der Praxis eher als Verfahren, die
streng
nach der Strafprozeßordnung geführt werden, Gefahr
laufen, dem gesetzlich
verankerten Aufklärungsgrundsatz (§ 244 Abs. 2 StPO)
nur eingeschränkt
Rechnung zu tragen.
Schließlich kommt hinzu, daß ein
Verständigungsverfahren, dessen
Kern die Abgabe eines Geständnisses als Gegenleistung
für eine verbindliche
Zusage zur Strafhöhe ist, in vielfältiger Hinsicht
näherer Ausgestaltung und
weiterer Festlegungen bedarf als durch die Entscheidung BGHSt 43, 195
vorgenommen.
Der Regelung bedarf namentlich die Frage, wen die Zusage bindet:
nur das Tatgericht, das sie erteilt oder etwa auch das
Rechtsmittelgericht,
schließlich gar das Gericht, an das die Sache nach einer
erfolgreichen Revision
zurückverwiesen wird. Unabweislich sind Festlegungen dazu, ob
und unter
- 18 -
welchen Voraussetzungen die Bindungswirkung entfällt (s. oben
zu 3. b). Gerade
auch im Hinblick darauf, daß die Bindung nicht nur beim
Auftreten neuer
Erkenntnisse, sondern auch dann entfällt wenn für die
Urteilsfindung maßgebliche
Aspekte ursprünglich übersehen wurden, stellt sich
die Frage, ob - gegebenenfalls
mit welchen Einschränkungen - das
„vorgeleistete“ Geständnis bei
Fortfall der Bindung noch zu Beweiszwecken verwertet werden darf und
welche
Anforderungen gegebenenfalls bei seiner Würdigung zu beachten
sind. Geregelt
werden muß ferner, ob die gerichtliche Zusage auch dann
verbindlich ist,
wenn im Rahmen der Verständigungsgespräche gebotene
Beteiligungen oder
Anhörungen unterblieben sind, insbesondere wenn die
Staatsanwaltschaft an
den Verständigungsgesprächen nicht beteiligt war oder
dem Ergebnis nicht
zustimmen konnte. Die Frage der Verbindlichkeit der Zusage stellt sich
auch
für den Fall, daß das Ergebnis der in
Vorgesprächen erzielten Verständigung -
entgegen den Vorgaben von BGHSt 43, 195 - nicht in die Hauptverhandlung
eingeführt und protokolliert worden ist. Mit Blick auf das
Rechtsmittelverfahren
stellen sich nicht nur die von der Vorlage aufgeworfenen Fragen des
Rechtsmittelverzichts;
zu beantworten ist etwa auch, ob und in welchem Maße im
Revisionsverfahren
- mit Blick auf die Besonderheiten des Abspracheverfahrens,
etwa unter dem Gesichtspunkt widersprüchlichen Verhaltens -
bestimmte Verfahrensrügen,
namentlich Aufklärungsrügen ausgeschlossen sein
können.
b) Die notwendige Beantwortung all dieser Fragen - und weiterer, die
sich auch je nach der gegebenen Antwort stellen werden - erweist sich
insbesondere
deswegen als schwierig, weil die Strafprozeßordnung kein
konsensuales
Urteilsverfahren kennt und ihr deshalb für die Ausgestaltung
eines solchen
Verfahrens auch keine Maßstäbe entnommen werden
können. Damit gerät die
Einführung eines Verständigungsverfahrens in das
streng formalisiert ausge-
19 -
staltete Strafverfahren durch die Rechtsprechung nahe an die Grenzen,
die
das Grundgesetz mit der Verteilung der Aufgaben auf Gesetzgebung und
Rechtsprechung der richterlichen Rechtsfortbildung setzt. Diese Grenzen
sind
indes nicht überschritten:
aa) Das Grundgesetz lehnt einen engen Gesetzespositivismus ab, wie
sich bereits aus der Bindung des Richters an „Gesetz und
Recht“ nach Art. 20
Abs. 3 GG ergibt (BVerfGE 34, 269, 286 ff., auch zum folgenden).
Richterliche
Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von
Entscheidungen
des Gesetzgebers. Vielmehr ist dem Richter eine
„schöpferische Rechtsfindung“,
der auch willenhafte Elemente eigen sind, nicht grundsätzlich
verwehrt.
Insbesondere die obersten Gerichtshöfe haben diese Befugnis
von Anfang an
- mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts - für sich in
Anspruch genommen
(BVerfG aaO, S. 288). Sie steht, wie das Bundesverfassungsgericht
ausdrücklich
hervorhebt, besonders dem Großen Senat zu, dem namentlich
durch
§ 132 Abs. 4 GVG die Fortbildung des Rechts zur Aufgabe
gemacht ist.
Der Richter ist zu „freierer Handhabung der
Rechtsnormen“ (BVerfG,
aaO, S. 289) berechtigt, wenn das geschriebene Gesetz bei einer am
Wortlaut
haftenden Auslegung seine Funktion nicht mehr erfüllt. Die
Auslegung einer
Gesetzesnorm kann nicht immer auf Dauer bei dem ihr zu ihrer
Entstehungszeit
beigelegten Sinn stehen bleiben. Es ist zu berücksichtigen,
welche vernünftige
Funktion sie im Zeitpunkt der Anwendung haben kann. „Die Norm
steht ständig im Kontext der sozialen Verhältnisse
und der gesellschaftlichpolitischen
Anschauungen, auf die sie wirken soll; ihr Inhalt kann und
muß sich
unter Umständen mit ihnen wandeln“ (BVerfG, aaO, S.
288). Die tatsächliche
oder rechtliche Entwicklung kann eine bis dahin eindeutige und
vollständige
- 20 -
Regelung lückenhaft, ergänzungsbedürftig und
zugleich ergänzungsfähig werden
lassen, da Gesetze in einem Umfeld sozialer Verhältnisse und
gesellschaftspolitischer
Anschauungen stehen, mit deren Wandel sich auch der
Norminhalt ändern kann (BVerfGE 82, 6, 12). Ändern
sich die Bedürfnisse des
Rechtsverkehrs, so folgt aus dem Gesagten die Zulässigkeit
einer richterrechtlichen
Anpassung des Rechts an diese Bedürfnisse.
- 21 -
bb) Bei Anlegung dieser Maßstäbe sind die
Voraussetzungen einer richterrechtlichen
Fortbildung der Strafprozeßordnung durch Zulassung von
Urteilsabsprachen,
die die dargestellten Mindestanforderungen erfüllen,
insbesondere
wegen der unabweislichen Bedürfnisse einer
ordnungsgemäßen Strafrechtspflege
gegeben.
Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, die Pflicht des Staates, die
Sicherheit
seiner Bürger und deren Vertrauen in die
Funktionstüchtigkeit der staatlichen
Institutionen zu schützen, und nicht zuletzt das Gebot der
Gleichbehandlung
aller in Strafverfahren Beschuldigten geben es den zuständigen
staatlichen
Stellen und insbesondere den Organen der Strafrechtspflege auf,
dafür
Sorge zu tragen, daß der staatliche Strafanspruch insgesamt -
mit Blick auf
alle einzuleitenden Strafverfahren - so gut wie möglich
durchgesetzt werden
kann. Auf seine Durchsetzung darf weder nach Belieben noch aus
vermeidbaren
Gründen generell, partiell oder im Einzelfall verzichtet
werden. Der Rechtsstaat
kann sich nur verwirklichen, wenn sichergestellt ist, daß
Straftäter im
Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten
Bestrafung
zugeführt werden (vgl. BVerfG - Kammer - NJW 1987, 2662).
Diesen Anforderungen könnten die Organe der Strafrechtsjustiz
unter
den gegebenen - rechtlichen wie tatsächlichen - Bedingungen
der Strafrechtspflege
ohne die Zulassung von Urteilsabsprachen durch richterrechtliche
Rechtsfortbildung nicht mehr gerecht werden. Vor allem mit Blick auf
die knappen
Ressourcen der Justiz (vgl. dazu den Beschluß der Konferenz
der Justizministerinnen
und Justizminister vom 17./18. Juni 2004: „Die
Justizministerinnen
und Justizminister weisen erneut darauf hin, daß die
Strafjustiz am Rande
ihrer Belastbarkeit arbeitet.“) könnte die
Funktionstüchtigkeit der Strafjustiz
- 22 -
nicht gewährleistet werden, wenn es den Gerichten generell
untersagt wäre,
sich über den Inhalt des zu verkündenden Urteils mit
den Beteiligten abzusprechen.
Jedenfalls soweit sie den dargestellten Mindestanforderungen
entsprechen,
ermöglichen es Urteilsabsprachen, den mitunter
gegenläufigen Anforderungen
für ein ordnungsgemäßes Funktionieren der
Strafjustiz in ihrer Gesamtheit
Rechnung zu tragen.
Das gilt zumal unter Berücksichtigung des
Beschleunigungsgrundsatzes,
der ein Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips ist, und des Grundsatzes
der Prozeßökonomie.
Beide Grundsätze können den Umfang der im Einzelfall
gebotenen
Aufklärungsbemühungen bestimmen. Das Gewicht der
Strafsache sowie
die Bedeutung und der Beweiswert weiterer Beweismittel sind
gegenüber den
Nachteilen der Verfahrensverzögerungen abzuwägen (BGH
NJW 2001, 695).
Die Rücksichtnahme auf die Belange der
Verfahrensökonomie, namentlich bei
drohender Verfahrensverzögerung, ist der
Strafprozeßordnung - wie jeder anderen
Verfahrensordnung - durchaus nicht fremd (vgl. BGH NStZ 2004, 638;
BGH wistra 2004, 475). So ist nach ausdrücklicher gesetzlicher
Regelung eine
Teileinstellung nach § 154 Abs. 1 Nr. 2 StPO möglich,
„wenn ein Urteil wegen
dieser Tat in angemessener Frist nicht zu erwarten ist“.
Unter den gleichen
Voraussetzungen können einzelne abtrennbare Teile einer Tat
oder einzelne
von mehreren Gesetzesverletzungen von der Verfolgung ausgenommen werden
(§ 154 a Abs. 1 Satz 2 StPO); diese Beschränkung der
Strafverfolgung
gestattet eine Reduzierung des Schuldspruchs (vgl. nur BGH NJW 2004,
2990,
2991). Von der Einziehung oder dem Verfall kann ferner nach
§§ 430, 442
StPO abgesehen werden, wenn das Verfahren „einen
unangemessenen Aufwand
erfordern“ würde. Hinzu kommt, daß
Verfahrensverzögerungen, selbst
wenn diese auf einer Überlastung des Gerichts beruhen, nicht
selten dazu füh-
23 -
ren, daß die schuldangemessene Strafe unterschritten werden
muß (BVerfG -
Kammer - NJW 1995, 1277; 2003, 2225; NStZ 2004, 335; BGH NStZ 1999,
181; BGHSt 45, 321, 339; BGH, Beschluß vom 23. Juni 2004 - 1
ARs 5/04).
Die mit der richterrechtlichen Zulassung der Urteilsabsprache verbundene
Fortbildung des Strafprozeßrechts ist schließlich
auch im Hinblick darauf
verfassungsrechtlich vertretbar, daß das Recht auf ein faires
Verfahren auch
den Zeugen, namentlich den Opfer-Zeugen, davor schützt, zum
bloßen Objekt
eines rechtsstaatlich geordneten Verfahrens gemacht zu werden (BVerfGE
38,
105, 114 f.). Nach der Auffassung des Gesetzgebers ist Aufgabe eines
sozialen
Rechtsstaates nicht nur, darauf zu achten, daß die Straftat
aufgeklärt und
Schuld oder Unschuld des Beschuldigten in einem rechtsstaatlichen
Verfahren
festgestellt, sondern auch, daß die Belange des Opfers
gewahrt werden (so die
Begründung der Bundesregierung im Entwurf zum
Opferrechtsreformgesetz
vom 24. Juni 2004, BGBl I 1354, BT-Drucks. 15/2536). Der Zeugen- und
Opferschutz
kann deshalb Anlaß sein, von einer weitergehenden - den
Schuldumfang
möglicherweise erhöhenden - Sachaufklärung
abzusehen, namentlich
unter Anwendung von §§ 154, 154 a StPO. Die
Revisionsgerichte knüpfen an
dieses Anliegen auch bei der Frage der Notwendigkeit der Aufhebung und
Zurückweisung
an (vgl. BGHR StPO § 267 Abs. 1 Satz 1 Mindestfeststellungen 7;
§ 354 Abs. 1 Sachentscheidung 5; zur verfassungskonformen
Auslegung unter
Opferschutzgesichtspunkten siehe auch BVerfG - Kammer -,
Beschluß vom
27. Februar 2000 - 2 BvL 4/98).
cc) Der Große Senat für Strafsachen würde
sich an der nach allem
durch die Änderung der Verhältnisse
veranlaßten, zur Sicherstellung der
Funktionstüchtigkeit
der Strafrechtspflege gebotenen Rechtsfortbildung durch Zu-
24 -
lassung der Urteilsabsprache (in den dargestellten engen Grenzen)
allerdings
gehindert sehen, wenn eine einschlägige Regelung des
Gesetzgebers zu erwarten
wäre (vgl. BVerfGE 34, 269, 291). Indes ist trotz
drängenden Regelungsbedarfs
ein Tätigwerden des Gesetzgebers konkret nicht abzusehen.
II.
Ausgehend davon, daß Urteilsabsprachen bei Wahrung der
dargestellten
Anforderungen zulässig sind, hält der Große
Senat für Strafsachen in Beantwortung
der Vorlegungsfragen 1 und 2 es mit BGHSt 43, 195 für
unzulässig,
daß das Gericht mit den Verfahrensbeteiligten vor
Urteilsverkündung einen
Rechtsmittelverzicht vereinbart. Darüber hinausgehend ist
jedwedes Mitwirken
des Gerichts an einem Rechtsmittelverzicht unzulässig.
Außer Frage steht der Extremfall einer Verknüpfung
von Strafhöhe mit
versprochenem Rechtsmittelverzicht, der einen grundlegenden
Verstoß gegen
das Prinzip schuldangemessenen Strafens darstellt (BGHSt aaO S. 204 f.).
Darüber hinaus darf die Urteilsabsprache zudem nicht gleichsam
als eigenständiges,
informelles Verfahren neben der eigentlichen Hauptverhandlung
geführt werden, sie darf nicht unter dem Deckmantel der
Unkontrollierbarkeit
stattfinden, ihr Inhalt muß auch für das
Revisionsgericht überprüfbar sein
(BGHSt aaO S. 206). Wie der vorlegende Senat zutreffend dargelegt hat,
bestehen
an einer Zulassung der Möglichkeit, einen Rechtsmittelverzicht
im
Rahmen einer Urteilsabsprache zu vereinbaren, keine legitimen
Interessen.
Zudem könnten hieraus nachhaltige Gefahren nicht nur
für die Rechtskultur,
sondern darüber hinaus für eine effektive Wahrung
unverzichtbarer Anliegen
eines rechtsstaatlich geführten Strafverfahrens erwachsen.
- 25 -
Auch für diese Fälle muß eine effektive
Möglichkeit der Kontrolle gerichtlicher
Entscheidungen durch das Revisionsgericht erhalten werden. Beteiligt
sich hingegen das Gericht im Rahmen einer Urteilsabsprache an der
Vereinbarung
eines Rechtsmittelverzichts oder drängt es gar die
Rechtsmittelberechtigten
hierzu, so läßt es erkennen, daß sein
Urteil keiner revisionsgerichtlichen
Kontrolle unterzogen werden soll. Das verletzt nicht nur die
Würde des Gerichts
und schadet seiner Autorität. Eine solche Verfahrensweise
läßt vor allem
ernsthaft besorgen, daß das Gericht es in der Erwartung,
seine Entscheidung
werde nicht mehr überprüft, bei der Urteilsfindung an
der auch in diesem Verfahren
notwendigen Sorgfalt bei der
prozeßordnungsgemäßen Ermittlung des
Sachverhalts, bei seiner Subsumtion unter das materielle Strafrecht und
bei
der Bestimmung der schuldangemessenen Strafe fehlen lassen werde.
Aus diesen Gründen muß es dem Gericht untersagt
sein, an jedwedem
Zustandekommen einer Urteilsabsprache mitzuwirken, soweit ihr Gegenstand
auch der Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels ist. Den
Rechtsmittelberechtigten
selbst bleibt es zwar unbenommen, bei einer Urteilsabsprache
auch schon vor Urteilsverkündung ohne Beteiligung des Gerichts
Gespräche
über die Einlegung des Rechtsmittels zu führen. Das
Gericht darf sich aber an
Gesprächen nicht aktiv beteiligen, soweit diese -
über die Urteilsabsprache
hinaus - auch einen etwaigen Rechtsmittelverzicht zum Gegenstand haben,
sei es, daß das Gericht hierbei die Frage eines
Rechtsmittelverzichts von sich
aus anspricht, befürwortet oder gar verlangt. Es hat bei einer
Urteilsabsprache
- vor der Urteilsverkündung - Äußerungen zu
vermeiden, die objektiv dahin
verstanden werden können, daß ihm an einem
Rechtsmittelverzicht gelegen
sein könnte oder daß dieser für den
Angeklagten vorteilhaft sei.
- 26 -
Der Große Senat für Strafsachen verkennt dabei
nicht, daß ein Bedürfnis
der Prozeßbeteiligten nach revisionsgerichtlicher
Überprüfung im Anschluß
an eine unter fairen Bedingungen zustandegekommene Urteilsabsprache in
der
Praxis nicht häufig gegeben sein wird. Gleichwohl ist es
unerläßlich, die Möglichkeit
zu erhalten, das Urteil in dem durch das jeweils zulässige
Rechtsmittel
gesetzten Rahmen zur Nachprüfung zu stellen und damit auch die
Einhaltung
der Grenzen einer zulässigen Urteilsabsprache
überprüfen zu lassen.
III.
Für die Frage nach der Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts,
der nach
einem Urteil erklärt wurde, dem eine Absprache zugrunde liegt,
gilt folgendes:
1. Das Gesetz geht von der grundsätzlichen Wirksamkeit des
Rechtsmittelverzichts
aus.
a) Nach § 302 Abs. 1 Satz 1 StPO (vgl. auch § 410
StPO und § 67
OWiG) kann der Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels schon vor
Ablauf
der Frist zu seiner Einlegung - also auch im Anschluß an die
Urteilsverkündung
(vgl. dazu aber auch Nr. 142 Abs. 2 RiStBV) - wirksam erfolgen. An
den allseitig erklärten Rechtsmittelverzicht hat der
Gesetzgeber - praktisch
besonders bedeutsam für den im Anschluß an die
Urteilsverkündung abgegebenen
Rechtsmittelverzicht - in mehreren Gesetzesnovellen
Entlastungsregelungen
geknüpft (§ 267 Abs. 4 Satz 1, § 267 Abs. 5
Satz 2 und § 273 Abs. 2
StPO).
- 27 -
b) Der nach Urteilserlaß erklärte
Rechtsmittelverzicht führt - in Verbindung
mit dem Rechtsmittelverzicht der anderen rechtsmittelberechtigten
Verfahrensbeteiligten
- die Rechtskraft unmittelbar herbei. Damit wirkt der
Rechtsmittelverzicht rechtsgestaltend (vgl. nur § 56 a Abs. 2
Satz 1 StGB, § 22
Abs. 2 Satz 1, § 28 Abs. 2 Satz 1 JGG:
Bewährungszeit; § 68 c Abs. 3 Satz 1
StGB: Führungsaufsicht; § 44 Abs. 2 StGB: Fahrverbot;
§ 69 Abs. 3 Satz 1,
§ 69 a Abs. 5 Satz 1 StGB: Fahrerlaubnis; § 45 a Abs.
1, § 70 Abs. 4 Satz 1
StGB: Amtsfähigkeit und Berufsverbot; § 73 e Abs. 1
Satz 1, § 74 e Abs. 1
StGB: Verfall und Einziehung; § 79 Abs. 6 StGB:
Vollstreckungsverjährung).
c) Weitere Rechtsfolgen sind mit der Rechtskraft verbunden. Diese
führt
zum Übergang vom Erkenntnis- in das Vollstreckungsverfahren
und damit von
Untersuchungshaft in Strafhaft. Sichergestellte Sachen sind dem
Verletzten
alsbald herauszugeben (§ 111 k StPO). Aus einer
Telekommunikationsüberwachung,
Telekommunikationsauskunft und dem Einsatz technischer Mittel erlangte
Unterlagen sind unverzüglich zu vernichten (§ 100 b
Abs. 6 Satz 1,
§ 100 h Abs. 1 Satz 3, § 100 d Abs. 1 Satz 2 StPO).
d) Als Prozeßhandlung, die die Rechtskraft (mit den genannten
Folgen)
herbeiführt, kann der wirksam erklärte
Rechtsmittelverzicht nach ständiger
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs grundsätzlich weder
widerrufen noch
angefochten oder sonst zurückgenommen werden.
Nur in besonderen Ausnahmefällen versagt der Bundesgerichtshof
dem
Rechtsmittelverzicht (und der Rechtsmittelrücknahme) die
Wirksamkeit, so in
Fällen schwerwiegender Willensmängel bei der
Erklärung des Rechtsmittelverzichts
oder wegen der Art und Weise seines Zustandekommens (vgl.
- 28 -
BGHSt 18, 257; 19, 101; 45, 51; 46, 257; 47, 238; BGHR StPO §
302 Abs. 1
Satz 1 Rechtsmittelverzicht 14, 25, 26; BGH StV 2001, 556; NStZ 2004,
636).
Ob und unter welchen Voraussetzungen ein Rechtsmittelverzicht auch dann
unwirksam ist, wenn er Bestandteil der Urteilsabsprache war, hat der
Bundesgerichtshof
bislang nicht tragend entschieden (die Entscheidung BGHSt 45,
227 betraf eine besondere Fallgestaltung).
2. Die Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts folgt nicht
zwangsläufig
aus seiner unzulässigen Vereinbarung im Rahmen einer
Urteilsabsprache.
a) Urteilsabsprache und Rechtsmittelverzicht betreffen nämlich
verschiedene
Verfahrensabschnitte: die Urteilsabsprache einschließlich des
Verfahrens bis zur Urteilsverkündung (erster Abschnitt) und
die danach von
den Rechtsmittelberechtigten getroffene Entscheidung (zweiter
Abschnitt). Den
jeweiligen Abschnitten liegen unterschiedliche
Prozeßhandlungen zugrunde.
Bestandteil der Absprache sind die gegenseitigen
„Versprechen“, in einer
bestimmten Weise zu verfahren. Das zusätzliche
„Versprechen“, kein
Rechtsmittel einlegen zu werden, kann die Rechtsmittelberechtigten
rechtlich
nicht binden. „Versprechen“ kann deshalb nicht mehr
bedeuten als die unverbindliche
Ankündigung, nach Urteilserlaß den
Rechtsmittelverzicht erklären zu
wollen.
Der Rechtsmittelverzicht ist eine selbständige
Prozeßhandlung im zweiten
Verfahrensabschnitt. Die Urteilsverkündung bildet eine
zeitliche Zäsur,
nach der der Rechtsmittelberechtigte ohne rechtliche Bindung an seine
zuvor
geäußerte Ankündigung über den
Rechtsmittelverzicht entscheiden kann.
- 29 -
Das Gesetz sieht in diesem Verfahrensabschnitt Korrektive vor, die vor
übereilten Entscheidungen schützen sollen. Vor der
Erklärung des Rechtsmittelverzichts
ist die Rechtsmittelbelehrung vorgeschrieben (§ 35 a StPO).
Nach
der Erklärung des Rechtsmittelverzichts noch vor
Abschluß der Hauptverhandlung
erfolgt in Anwendung des § 273 Abs. 3 Satz 3 StPO die
protokollierte Genehmigung
der Verzichtserklärung nach Verlesung.
b) Diese Korrektive sind jedoch für sich allein nicht ohne
weiteres geeignet,
dem Rechtsmittelberechtigten seine unvermindert fortbestehende
Rechtsmittelbefugnis
ungeachtet der Tatsache zu verdeutlichen, daß das Gericht an
einer Absprache mitgewirkt hat, die - unzulässigerweise - den
vorzeitigen Verzicht
auf diese Befugnis zum Gegenstand hatte. Der Große Senat
für Strafsachen
verkennt auch nicht, daß es dem Rechtsmittelberechtigten -
namentlich
dem Angeklagten - schwerfallen mag, von einer Ankündigung, bei
einem bestimmten
Urteilsergebnis kein Rechtsmittel einlegen zu wollen, wieder
abzurücken.
Für den Angeklagten entsteht ein
„Zugzwang“ nicht zuletzt dann, wenn
er einer solchen Urteilsabsprache aufgrund der Empfehlung seines
Verteidigers zugestimmt und unter dieser, rechtlich freilich
unverbindlichen
Voraussetzung sein Geständnis - insoweit hat er seinerseits
eine „Vorleistung“
von erheblichem Gewicht erbracht - abgelegt hat. Häufig wird
ihm auch sein
Verteidiger zum Rechtsmittelverzicht raten, zumal wenn er ohnehin - als
derjenige, der das regelmäßig am besten beurteilen
kann - zu der
Einschätzung gelangt, daß das Ergebnis dem
wohlverstandenen Interesse des
Angeklagten entspricht. Dabei kann der Verteidiger zudem in ein Dilemma
geraten, wenn er dem Angeklagten ein Rechtsmittel selbst dann empfehlen
soll, wenn die Beteiligten den Rechtsmittelverzicht vor dem Urteil
abgesprochen haben („Gleichklang der Interessen“,
vgl. Terhorst GA 2002,
- 30 -
sen“, vgl. Terhorst GA 2002, 600, 606; Weider StV 1991, 241;
Kölbel NStZ
2003, 232; Salditt StraFo 2004, 60).
3. Im Hinblick auf die hier erörterten rechtlichen
Gesichtspunkte und
praktischen Gegebenheiten gelangt der Große Senat
für Strafsachen zu folgendem
Ergebnis:
a) Um den Anliegen, die mit der Annahme der Unzulässigkeit
einer gerichtlichen
Mitwirkung an Absprachen über einen Verzicht auf die
Rechtsmitteleinlegung
verfolgt werden, zu effektiver Durchsetzung zu verhelfen, hält
der
Große Senat für Strafsachen es für
unerläßlich, daß der Verzicht auf die
Einlegung
des Rechtsmittels, der nach einer derart unzulässig
zustandegekommenen
Urteilsabsprache erklärt wurde, unwirksam ist. Das gilt sowohl
für den am
Ende der Hauptverhandlung - unmittelbar nach Urteilsverkündung
- als auch
für den nach Abschluß der Hauptverhandlung, am
selben Tag oder später, erklärten
Verzicht. Der Betroffene kann dann trotz des erklärten
Verzichts noch
Rechtsmittel einlegen.
b) In Abwägung zwischen dem Anliegen des fairen Verfahrens
einerseits,
der Rechtssicherheit andererseits erstreckt der Große Senat
für Strafsachen
die Folge der Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts auf alle
Fälle, in
denen überhaupt eine Urteilsabsprache erfolgt ist. Dies ist
auch angezeigt, um
Beweisschwierigkeiten zu vermeiden, die sich namentlich in
Fällen ergeben
können, in denen die unzulässige Absprache eines
Rechtsmittelverzichts nicht
offengelegt wird.
- 31 -
c) Um jedoch die Interessen der Rechtssicherheit nicht zu weitgehend zu
berühren, gilt das Verdikt der Unwirksamkeit des
Rechtsmittelverzichts nicht
absolut. Es entfällt vielmehr, wenn dem
Rechtsmittelberechtigten über die Freiheit,
unbeschadet der Absprache Rechtsmittel einlegen zu können,
eine von
der eigentlichen Rechtsmittelbelehrung abgehobene, qualifizierte
Belehrung
erteilt worden ist. Hierzu gilt folgendes:
Bei jeder Urteilsabsprache - mit Gesprächen über den
Rechtsmittelverzicht
oder auch ohne diese, mit oder ohne Aufnahme in das
Hauptverhandlungsprotokoll
- ist dem Betroffenen, der nach § 35 a Satz 1 StPO
über ein
Rechtsmittel zu belehren ist, über die hier unverzichtbare
Rechtsmittelbelehrung
hinaus stets auch eine qualifizierte Belehrung über seine
fortbestehende
Rechtsmittelbefugnis zu erteilen. Diese ist als wesentliche
Förmlichkeit zu protokollieren
(§ 273 Abs. 1 StPO) und nimmt an der Beweiskraft des Protokolls
nach § 274 StPO teil.
Qualifizierte Belehrung bedeutet, daß der Betroffene vom
Gericht ausdrücklich
dahin zu belehren ist, daß er ungeachtet der Urteilsabsprache
und
ungeachtet der Empfehlung der übrigen Verfahrensbeteiligten,
auch seines
Verteidigers, in seiner Entscheidung frei ist, Rechtsmittel einzulegen.
Er ist darauf
hinzuweisen, daß ihn eine - etwa im Rahmen einer
Urteilsabsprache abgegebene
- Ankündigung, kein Rechtsmittel einzulegen, weder rechtlich
noch
auch sonst bindet, daß er also nach wie vor frei ist,
gleichwohl Rechtsmittel
einzulegen. Ferner kann es sich empfehlen, dem Angeklagten Gelegenheit
zu
einem ausführlichen Beratungsgespräch mit seinem
Verteidiger zu geben und
auch diesen Vorgang zu protokollieren (vgl. BGH, Beschluß vom
30. März
2004 - 1 StR 1/04, insoweit in NStZ-RR 2004, 214 nicht abgedruckt).
- 32 -
Es wird in der Verantwortung der Tatrichter stehen, daß
dieses Korrektiv
der qualifizierten Belehrung nicht etwa als nur formelhafte,
tatsächlich nicht
ernstgemeinte Prozeßhandlung ausgestaltet wird.
Der Große Senat für Strafsachen hält danach
eine solche qualifizierte
Belehrung für eine notwendige, aber auch ausreichende
Sicherung gegen
mögliche Willensbeeinträchtigungen bei der nach einer
Urteilsabsprache abgegebenen
Erklärung über den Verzicht auf die
Rechtsmitteleinlegung. Die
Erklärung des qualifiziert belehrten Betroffenen, auf ein
Rechtsmittel zu verzichten,
ist wirksam und unwiderruflich, weil sie in voller Kenntnis von
Bedeutung
und Tragweite des Verzichts abgegeben worden ist.
d) Ist die gebotene qualifizierte Belehrung unterblieben und ist deshalb
der Rechtsmittelverzicht des Betroffenen nicht wirksam erfolgt, kann
der Betroffene
noch Rechtsmittel einlegen, allerdings nur innerhalb der
Rechtsmitteleinlegungsfrist.
Einer unbefristeten Möglichkeit zur Rechtsmitteleinlegung steht
entgegen, daß die Frage der Rechtskraft wegen der mit ihr
verbundenen weitreichenden
Folgen durch eine klare Fristenregelung eindeutig geklärt sein
muß
und durch die Rechtsmitteleinlegungsfrist geklärt ist. Der
Rechtsmittelberechtigte,
der auf Rechtsmittel verzichtet hat, nachdem ihm die
Rechtsmittelbelehrung
ohne qualifizierte Belehrung erteilt worden ist, darf zudem insoweit
nicht
besser stehen als derjenige, der keinen Rechtsmittelverzicht
erklärt hat.
e) Bei erfolgter Rechtsmittelbelehrung, aber ohne qualifizierte
Belehrung
gilt für die Wiedereinsetzung gegen die Versäumung
der Frist zur Rechtsmitteleinlegung:
Die gesetzliche Vermutung des § 44 Satz 2 StPO kommt
für die
unterbliebene qualifizierte Belehrung nicht zur Anwendung. Die
Vermutung gilt
- 33 -
nur für die unterbliebene Rechtsmittelbelehrung nach
§ 35 a Satz 1 StPO, welcher
die notwendige Kenntnis des Rechtsmittelberechtigten von der zu
wahrenden
Rechtsmittelfrist effektiv absichern soll. Sie etwa auf die durch
Richterrecht
geschaffene weitere qualifizierte Belehrung zu erstrecken, ist nach
Abwägung
der widerstreitenden Interessen nicht geboten. Denn der
Rechtsmittelverzicht
eines Betroffenen nach einer Urteilsabsprache wird - und zwar selbst
wenn diese unzulässigerweise die Frage eines
Rechtsmittelverzichts einbezogen
hatte - häufig darauf beruhen, daß der Betroffene
das Ergebnis der gefundenen
Verständigung als dauerhaft akzeptiert und eine
Rechtsmittelüberprüfung
gar nicht wünscht. Eine abweichende Lösung
würde die im Interesse der
Rechtssicherheit nicht hinnehmbare Gefahr bergen,
Rechtsmittelmöglichkeiten
ohne gebotene Fristgrenzen allzu leicht auch nach bloßem
späterem Motivwechsel
hinsichtlich der Rechtsmitteldurchführung zu eröffnen.
Nur demjenigen, der ohne gesetzliche Vermutung glaubhaft machen
kann (§ 45 Abs. 2 StPO), aufgrund unstatthafter Einwirkungen -
etwa weil er
entgegen bestehender Informationspflichten, gar wider besseres Wissen,
zumal
vom Gericht, vom Beschreiten eines vorhandenen, von ihm
gewünschten
Rechtsweges abgebracht worden ist (vgl. dazu BGHSt 45, 227; 47, 238) -
auf
Rechtsmittel verzichtet und das Rechtsmittel folglich nicht
fristgerecht eingereicht
zu haben, weil er sich unverschuldet zu Unrecht daran gebunden hielt,
kann nach § 44 Satz 1 StPO Wiedereinsetzung zu
gewähren sein. Die Glaubhaftmachung
wird in Fällen dieser Art aus den genannten Gründen
nicht selbstverständlich
gelingen. Insbesondere liegt in der Unkenntnis des Angeklagten
oder seines Verteidigers von bisheriger Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs
oder von der vorliegenden Entscheidung keine Verhinderung im Sinne des
§ 44 Satz 1 StPO (vgl. BGH bei Becker NStZ-RR 2002, 66; BGH
NStZ 2004,
162).
- 34 -
C.
An den dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung unterbreiteten
Fällen
wird deutlich, daß sich die Verständigung zwischen
den Prozeßbeteiligten zunehmend
von einem mit der Strafprozeßordnung problemlos zu
vereinbarenden
„offenen Verhandeln“ des Gerichts in Form der
Bekanntgabe einer dem
jeweiligen Verfahrensstand entsprechenden Prognose entfernt. Die
Urteilsabsprache
bewegt sich hingegen in die Richtung einer quasivertraglichen
Vereinbarung
zwischen dem Gericht und den übrigen Verfahrensbeteiligten. Die
Strafprozeßordnung in ihrer geltenden Form ist jedoch am
Leitbild der materiellen
Wahrheit orientiert, die vom Gericht in der Hauptverhandlung von Amts
wegen
zu ermitteln und der Disposition der Verfahrensbeteiligten weitgehend
entzogen
ist, Versuche der obergerichtlichen Rechtsprechung, Urteilsabsprachen,
wie sie in der Praxis inzwischen in großem Umfang
üblich sind, im Wege systemimmanenter
Korrektur von Fehlentwicklungen zu strukturieren oder - wie
die vorstehende Lösung zeigt - unter Schaffung neuer, nicht
kodifizierter Instrumentarien
ohne Bruch in das gegenwärtige System einzupassen,
können
daher nur unvollkommen gelingen und führen stets von neuem an
die Grenzen
zulässiger Rechtsfortbildung.
Der Große Senat für Strafsachen appelliert an den
Gesetzgeber, die Zulässigkeit
und, bejahendenfalls, die wesentlichen rechtlichen Voraussetzungen
und Begrenzungen von Urteilsabsprachen gesetzlich zu regeln. Es ist
primär
Aufgabe des Gesetzgebers, die grundsätzlichen Fragen der
Gestaltung des
Strafverfahrens und damit auch die Rechtsregeln, denen die
Urteilsabsprache
- 35 -
unterworfen sein soll, festzulegen. Dabei kommt ihm - auch von
Verfassungs
wegen - ein beachtlicher Spielraum zu (BVerfGE 57, 250, 275 f.).
Hirsch Tepperwien Tolksdorf Nack
Rissing-van Saan Detter Häger
Maatz Basdorf Winkler Wahl
BGHSt: ja
BGHR: ja
Veröffentlichung: ja
GG Art. 20 Abs. 3; StPO vor § 1 (faires Verfahren), §
302 Abs. 1 Satz 1
1. Das Gericht darf im Rahmen einer Urteilsabsprache an der
Erörterung eines
Rechtsmittelverzichts nicht mitwirken und auf einen solchen Verzicht
auch
nicht hinwirken.
2. Nach jedem Urteil, dem eine Urteilsabsprache zugrunde liegt, ist der
Rechtsmittelberechtigte, der nach § 35 a Satz 1 StPO
über ein Rechtsmittel
zu belehren ist, stets auch darüber zu belehren, daß
er ungeachtet der Absprache
in seiner Entscheidung frei ist, Rechtsmittel einzulegen (qualifizierte
- 36 -
Belehrung). Das gilt auch dann, wenn die Absprache einen
Rechtsmittelverzicht
nicht zum Gegenstand hatte.
3. Der nach einer Urteilsabsprache erklärte Verzicht auf die
Einlegung eines
Rechtsmittels ist unwirksam, wenn der ihn erklärende
Rechtsmittelberechtigte
nicht qualifiziert belehrt worden ist.
BGH, Beschluß vom 3.03.2005 - GSSt 1/04 - Landgericht
Lüneburg
- Landgericht Duisburg |