BGH,
Beschl. v. 3.3.2009 - 3 StR 584/08
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
3 StR 584/08
vom
3. März 2009
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u. a.
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Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des
Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 3.
März 2009 gemäß § 349 Abs. 4 StPO
einstimmig beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Hannover vom 13. Juni 2008 - mit Ausnahme des die
Nebenklägerin K. betreffenden Adhäsionsausspruchs -
mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels und die der
Nebenklägerin N. dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an
eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen "schweren sexuellen
Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, jeweils tateinheitlich
mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, wegen sexuellen
Missbrauchs von Kindern in vier Fällen, jeweils in Tateinheit
mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, sowie wegen sexuellen
Missbrauchs von Schutzbefohlenen in fünf Fällen,
davon in einem Fall tateinheitlich mit Körperverletzung" zu
einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Der
Verurteilung liegen ausschließlich Taten zum Nachteil der
Nebenklägerin N. zugrunde. Zugunsten dieser
Nebenklägerin hat das Landgericht außerdem eine
Entscheidung im Adhäsionsverfahren getroffen;
bezüglich der Nebenklägerin K. hat es von einer
solchen abgesehen, da das Verfahren insoweit gemäß
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§ 154 Abs. 2 StPO eingestellt worden ist. Mit seiner Revision
beanstandet der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen
Rechts.
1. Sein Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge nach
§ 338 Nr. 6 StPO, § 174 Abs. 1 Satz 2 GVG Erfolg.
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Der Rüge liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:
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In der Hauptverhandlung vom 19. Mai 2008 wurde die
Öffentlichkeit für die Dauer der Vernehmung der
15-jährigen Nebenklägerin N. gemäß
§ 172 Nr. 4 GVG durch Gerichtsbeschluss ausgeschlossen. Die
Zeugin wurde sodann in nichtöffentlicher Sitzung vernommen und
im Anschluss an ihre Vernehmung im Einvernehmen sämtlicher
Verfahrensbeteiligter entlassen. Am nächsten
Hauptverhandlungstag, am 20. Mai 2008, wurde die Nebenklägerin
ein weiteres Mal unter Ausschluss der Öffentlichkeit als
Zeugin gehört.
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Der Beschwerdeführer rügt zu Recht, dass vor dieser
zweiten Vernehmung für den Ausschluss der
Öffentlichkeit ein neuer Gerichtsbeschluss
gemäß § 174 Abs. 1 Satz 2, § 172
Nr. 4 GVG erforderlich war, ein solcher jedoch nicht ergangen und
verkündet worden ist.
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Zwar gilt ein Beschluss, der die Ausschließung der
Öffentlichkeit für die Dauer der Vernehmung eines
Zeugen anordnet, grundsätzlich bis zur Beendigung des
Verfahrens und deckt auch den Öffentlichkeitsausschluss, wenn
eine Vernehmung unterbrochen und an einem anderen Verhandlungstag
fortgesetzt wird (vgl. BGH NStZ 1992, 447). Die Zeugin ist hier jedoch
im Anschluss an ihre Vernehmung am 19. Mai 2008 im Einvernehmen
sämtlicher Verfahrensbeteiligter entlassen worden. Damit ist
ihre Vernehmung abgeschlossen gewesen und ihre weitere Vernehmung am
darauffolgenden Hauptverhandlungstag in nichtöffentlicher
Sitzung hat einen neuen Gerichtsbeschluss gemäß
§ 174 Abs. 1 Satz
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2 GVG erfordert (vgl. BGH NStZ 1992, 447 und 2008, 476; Senatsbeschluss
vom 9. Dezember 2008 - 3 StR 443/08). Ein solcher ist ausweislich des
Hauptverhandlungsprotokolls vor der Vernehmung der Zeugin am 20. Mai
2008 nicht ergangen und nicht verkündet worden. In der
Sitzungsniederschrift ist lediglich vermerkt, dass die
Öffentlichkeit "zur Fortsetzung der Vernehmung der Zeugin N.
gemäß dem entsprechenden Beschluss vom 19.05.08
erneut ausgeschlossen wurde." Entgegen der Auffassung des
Generalbundesanwalts ist das Protokoll in diesem Punkt weder
lückenhaft noch widersprüchlich, so dass die
Aufklärung des Verfahrensgeschehens nicht dem Freibeweis
zugänglich ist. Vielmehr ist durch das Protokoll bewiesen
(§ 274 Satz 1 StPO), dass vor der Vernehmung der Zeugin am 20.
Mai 2008 der infolge ihrer am Vortag angeordneten Entlassung zwingend
vorgeschriebene Beschluss des Gerichts nach § 174 Abs. 1 Satz
2 GVG nicht ergangen, jedenfalls aber nicht verkündet worden
ist.
Es liegt auch nicht die von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
anerkannte Ausnahme von der Notwendigkeit eines erneuten
Gerichtsbeschlusses vor (vgl. BGH NStZ 1992, 447). Danach kann ein
solcher entbehrlich sein, wenn dem Protokoll zu entnehmen ist, dass die
Entlassung des Zeugen sofort zurückgenommen wurde und die
für den Ausschließungsbeschluss
maßgebliche Interessenlage fortbestand, so dass sich die
zusätzliche Anhörung zusammen mit der
vorausgegangenen als eine einheitliche Vernehmung darstellt.
Hierfür enthält das Protokoll keine Anhaltspunkte.
Nach der Entlassung der Zeugin am 19. Mai 2008 sind vielmehr nach
Wiederherstellung der Öffentlichkeit weitere Zeugen
gehört worden. Es ist deshalb nicht auszuschließen,
dass sich erst in dem weiteren Fortgang der Hauptverhandlung die
Notwendigkeit einer erneuten Vernehmung der Zeugin ergeben hat.
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2. Zwar führt bereits der absolute Revisionsgrund des
§ 338 Nr. 6 StPO zur Aufhebung des Urteils insgesamt. Jedoch
weist der Senat ergänzend darauf hin, dass das Urteil in
sachlichrechtlicher Hinsicht zum Gesamtstrafenausspruch ebenfalls
durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet. In Anbetracht der
Höhe der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe ist zu
besorgen, dass sich das Landgericht bei ihrer Bemessung zu sehr von der
Gesamtzahl der Einzeltaten und der Summe der Einzelstrafen hat leiten
lassen (vgl. BGHR StGB § 54 I Bemessung 8 m. w. N.). Es hat
die Einsatzstrafe von zwei Jahren und drei Monaten auf die
dreieinhalbfache Dauer erhöht, ohne, wie hier geboten, zu
berücksichtigen, dass der Angeklagte die Tatserie zum Nachteil
desselben Tatopfers in einem engen situativen Zusammenhang beging.
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3. Sollte der neue Tatrichter die letzte Tat (Übergriff im
Zeitraum zwischen Sommer - und Herbstferien 2007) erneut -
tateinheitlich - als vorsätzliche Körperverletzung
würdigen, wird er Gelegenheit haben, zu prüfen, ob
der erforderliche Strafantrag rechtzeitig und wirksam (§ 77
Abs. 3 StGB) gestellt wurde. Die Staatsanwaltschaft hat insoweit
bislang nicht das Vorliegen eines besonderen öffentlichen
Interesses an der Strafverfolgung bejaht (§ 230 Abs. 1 StGB).
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Becker Miebach von Lienen
Sost-Scheible Schäfer |