BGH,
Beschl. v. 30.1.2001 - 3 StR 527/00
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
3 StR 527/00
vom
30. Januar 2001
in der Strafsache gegen
wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern u.a.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des
Beschwerdeführers und des Generalbundesanwalts - zu 3. auf
dessen Antrag - am 30. Januar 2001 gemäß
§§ 44, 349 Abs. 2 und 4 StPO einstimmig beschlossen:
1. Der Angeklagte wird auf seinen Antrag gegen die Versäumung
der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des
Landgerichts Verden vom 7. Juni 2000 in den vorigen Stand
wiedereingesetzt.
Die Kosten der Wiedereinsetzung trägt der Angeklagte.
Damit ist der Beschluß des Landgerichts Verden vom 23. August
2000, mit dem die Revision verworfen worden ist, gegenstandslos.
2. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Verden vom 7. Juni 2000 im Maßregelausspruch mit den
zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine
andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen
Mißbrauchs von Kindern in zwei Fällen, davon in
einem Fall in Tateinheit mit versuchtem sexuellen Mißbrauch
von Kindern sowie wegen der unerlaubten Abgabe von
Betäubungsmitteln an eine Person unter 18 Jahren in zwei
Fällen unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus einem
gesamtstrafenfähigen Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von
drei Jahren und neun Monaten verurteilt und seine Unterbringung in
einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Mit Beschluß
vom 23. August 2000 hat das Landgericht die Revision des Angeklagten
wegen Versäumung der Revisionsbegründungsfrist als
unzulässig verworfen.
Dem Angeklagten war auf seinen Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand gegen die von ihm nicht verschuldete Versäumung der
Frist zur Begründung der Revision zu bewilligen
(§§ 44, 45, 46 StPO). Seine Revision, mit der er die
Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, hat allein
zum Maßregelausspruch Erfolg, im übrigen ist sie
unbegründet.
1. Die Überprüfung des Schuldspruchs und des
Strafausspruchs hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten
ergeben. Zur Begründung verweist der Senat auf die
zutreffenden Ausführungen des Generalbundesanwalts in dessen
Antragsschrift vom 15. November 2000. Insbesondere hat die Strafkammer
im Fall zum Nachteil des Kindes Andrea M. mit einer rechtsfehlerfreien
Begründung einen minder schweren Fall des Mißbrauchs
eines Kindes verneint. Durch die fehlerhafte, den rechtlichen
Anforderungen nicht genügende Annahme erheblich verminderter
Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB und die
hierauf beruhenden Strafrahmenmilderungen ist der Angeklagte im
Strafausspruch nicht beschwert.
2. Dagegen kann die Unterbringung des Angeklagten in einem psychia-
trischen Krankenhaus keinen Bestand haben.
a) Zur Begründung der Maßregelanordnung hat sich das
Landgericht im wesentlichen auf das Gutachten des
Sachverständigen Dr. W. - Facharzt für Psychiatrie,
Neurologie und Psychotherapie - gestützt. Nach dessen
Darlegungen sei die Fähigkeit des Angeklagten, das Unrecht
seines Tuns in vollem Umfang einzusehen und nach dieser Einsicht zu
handeln, zum Zeitpunkt aller Taten wegen einer schweren anderen
seelischen Abartigkeit derart eingeschränkt gewesen,
daß eine verminderte Schuldfähigkeit im Sinne des
§ 21 StGB vorgelegen habe. Beim Angeklagten liege eine
narzißtische Persönlichkeitsstörung mit
massiven Selbstwertzweifeln und Versagensängsten verbunden mit
einer Neigung zu kriminellen Handlungsweisen vor. Es bestünde
eine psychosexuelle Fehlentwicklung mit einer Fixierung auf der
prägenitalen Entwicklungsstufe, mit Bedürfnissen und
Wünschen nach Nähe und Zärtlichkeit sowie
mit seit 1996 verstärkten pädophilen Neigungen.
Beziehungswünschen zu erwachsenen Frauen auf einer
ebenbürtigen, harmonischen Ebene weiche der Angeklagte aus
Angst vor den als übermächtig erlebten Frauen und vor
seinen Unterlegenheitsgefühlen und Versagensängsten
als Mann aus. In seinem bisherigen Leben sei es ihm nicht gelungen,
eine erwachsene, selbstvertrauende, durchsetzungsfähige und
verantwortungsbewußte männliche Identität
zu entwickeln. Er projiziere sein Scheitern und die Verantwortung
für sein Handeln ständig auf andere. Dies deute auf
eine ungenügend entwickelte Gewissensinstanz als Ausdruck
einer gravierenden psychischen Entwicklungs- und Reifestörung
hin. Hierbei werde die Befriedigung eigener Bedürfnisse und
Wünsche als vorrangig vor denen anderer behandelt. Es bestehe
beim Angeklagten ein Mangel an verläßlichen
moralischen Wertvorstellungen als Richtlinien für die
Gestaltung und Regulierung zwischenmenschlichen Zusammenlebens. Die
Gefahr der Wiederholung von sexuellen Übergriffen ergebe sich
aus der Persönlichkeitsstruktur des Angeklagten.
b) Bereits der Ausgangspunkt des Landgerichts, daß beim
Angeklagten sowohl die Einsichts- als auch die
Steuerungsfähigkeit erheblich im Sinne des § 21 StGB
beeinträchtigt gewesen seien, hält
revisionsrechtlicher Überprüfung nicht Stand. Beide
Alternativen des § 21 StGB können nicht gleichzeitig
angewandt werden (st. Rspr., vgl. BGHSt 40, 341, 349;
Tröndle/Fischer, StGB 50. Aufl. § 21 Rdn. 3). Eine
verminderte Einsichtsfähigkeit ist strafrechtlich erst dann
von Bedeutung, wenn sie das Fehlen der Einsichtsfähigkeit zur
Folge hat, während die Schuld des Angeklagten nicht gemindert
wird, wenn er ungeachtet seiner erheblich verminderten
Einsichtsfähigkeit - wie hier - das Unrecht seines Tuns zum
Tatzeitpunkt tatsächlich eingesehen hat (BGHSt 40, 341, 349;
BGHR StGB § 21 Einsichtsfähigkeit 6 m.w.Nachw.).
c) Weiterhin sind die Feststellungen und Wertungen des Landgerichts
nicht geeignet, die Anordnung der Unterbringung
gemäß § 63 StGB zu rechtfertigen. Diese
setzt die positive Feststellung eines länger andauernden,
nicht nur vorübergehenden Defekts voraus, der zumindest eine
erhebliche Einschränkung der Schuldfähigkeit zur
Tatzeit im Sinne des § 21 StGB begründet. In diesem
Zustand muß der Angeklagte eine rechtswidrige Tat begangen
haben, die auf den die Annahme der §§ 20, 21 StGB
rechtfertigenden dauerhaften Defekt zurückzuführen
ist, d. h. mit diesem in einem kausalen symptomatischen Zusammenhang
steht (BGH NStZ 1999, 128, 129 m.w.Nachw.). Dabei können nicht
pathologisch bedingte Störungen nur dann Anlaß
für eine Unterbringung gemäß § 63
StGB sein, wenn sie in ihrem Gewicht den krankhaften seelischen
Störungen entsprechen. Es bedarf einer Gesamtschau der
Täterpersönlichkeit und ihrer Entwicklung, um
feststellen zu können, ob die Störungen des
Täters sein Leben vergleichbar schwer und mit
ähnlichen Folgen wie krankhafte seelische Störungen
stören, belasten oder einengen (vgl. BGHSt 34, 22, 28; BGH
NStZ 1999, 612, 613). In diesem Zusammenhang ist insbesondere zu
untersuchen, ob in der Person des Angeklagten letztlich nicht nur
Eigenschaften und Verhaltensweisen hervortreten, die sich im Rahmen
dessen halten, was bei schuldfähigen Menschen anzutreffen und
übliche Ursache für strafbares Verhalten ist (vgl.
BGH NStZ 1997, 383; BGHR StGB § 63 Zustand 26).
Diesen Anforderungen genügen die Urteilsgründe nicht.
Sie belegen eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit im
Sinne des § 21 StGB nicht, da die erforderliche
Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Angeklagten
sowie ihrer Entwicklung und des Gewichts der Störungen fehlt.
Aufgrund der beschriebenen Persönlichkeitsstörungen
läßt sich nicht zuverlässig beurteilen, ob
sie in ihrem Gewicht den krankhaften seelischen Störungen -
mit Ausnahme der weniger gewichtigen - entsprechen und als
länger dauernde Umstände den Zustand des
Täters wiederspiegeln. Die Ausführungen des
Landgerichts beschränken sich weitgehend darauf, das vom
Sachverständigen gewonnene Ergebnis der ärztlichen
Begutachtung zu referieren und sich diesem "aus eigener
Überzeugung" anzuschließen, ohne weitere
maßgebliche Umstände in die Betrachtung
einzubeziehen. So setzt sich die Kammer nicht damit auseinander,
daß der vielfach vorbestrafte Angeklagte nur einmal wegen
einer Sexualstraftat, nämlich im Jahre 1991 wegen
exhibitionistischer Handlungen, verurteilt worden ist. Sie
befaßt sich auch nicht ausreichend mit der Frage, ob zwischen
den abgeurteilten Sexualstraftaten und den
Persönlichkeitsstörungen ein kausaler,
symptomatischer Zusammenhang besteht oder ob die sexuellen
Übergriffe nicht Ausdruck einer vorübergehenden
Lebenskrise sind. Das Fehlen der gebotenen Gesamtwürdigung der
Persönlichkeit des Angeklagten führt des weiteren
dazu, daß es für die vom Landgericht im Rahmen des
§ 63 StGB angestellte Gefährlichkeitsprognose
hinsichtlich weiterer Sexualstraftaten an einer tragfähigen
Grundlage mangelt (vgl. BGHSt 27, 246, 248; BGH NJW 1983, 350; BGHR
StGB § 63 Gefährlichkeit 2 und 3).
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