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BGH, Beschluss vom 31. März 2004 - 5 StR 351/03


Entscheidungstext  
 
BGH, Beschl. v. 31.3.2004 - 5 StR 351/03
5 StR 351/03
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom
31.03.2004
in der Strafsache
gegen
wegen Mordes
- 2 -
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 31.03.2004
beschlossen:
1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des
Landgerichts Berlin vom 24. Februar 2003 nach § 349
Abs. 4 StPO im Strafausspruch mit den zugehörigen
Feststellungen aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO
als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten des
Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer
des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Mordes zu einer lebenslangen
Freiheitsstrafe verurteilt. Die Revision der Angeklagten führt mit der
Sachrüge zur Aufhebung des Strafausspruchs; im übrigen ist das Rechtsmittel
unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Zur Frage der Schuldfähigkeit der zur Tatzeit 21 Jahre alten Angeklagten,
die nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Landgerichts
ihren zweijährigen Sohn A unversorgt und unbeaufsichtigt
in der Wohnung zurückließ, während sie sich selbst bei Bekannten aufhielt,
und dadurch innerhalb von drei Tagen den Tod des Kindes durch Verdursten
herbeiführte, hat die sachverständig beratene Strafkammer folgendes
ausgeführt:
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Zur Tatzeit habe die Angeklagte unter einer “unreifen Persönlichkeitsstörung“
gelitten, die durch die Unfähigkeit, das eigene Leben zu planen,
durch einen verzerrten Realitätsbezug, ein “schwarzweißes Weltbild“ sowie
einen ausgeprägten Selbstbezug gekennzeichnet gewesen sei. Die Störung
habe aber nicht den Schweregrad erreicht, der für die Eingangsvoraussetzungen
der §§ 20, 21 StGB erforderlich sei. Letzteres gelte auch, wenn man
mit dem psychiatrischen Sachverständigen davon ausgehe, daß bei der Angeklagten
zwischen Anfang und Mitte Oktober 2001 und dem Verlassen der
Wohnung im November 2001 eine leichte depressive Episode vorgelegen
habe. Von einer mittelgradigen oder schwerwiegenden Depression könne
auch nicht im Blick auf die vor der Tat von der Angeklagten ab Oktober 2001
herbeigeführte Vermüllung ihrer Wohnung ausgegangen werden, weil diese
nicht auf ihre depressive Verstimmung, sondern vor allem auf die für Ende
November 2001 anberaumte Zwangsräumung zurückzuführen gewesen sei;
der Zustand der Wohnung sei der Angeklagten deshalb gleichgültig gewesen.
Außerdem habe die Bewährungshelferin bei einem Besuch der Angeklagten
am 9. Oktober 2001 in der Behörde keine “Depressivität“ bemerkt.
Der Schweregrad einer Depression könne aber nicht ausgeprägt sein, wenn
es dem Betroffenen noch gelinge, diese nach außen zu verbergen.
Selbst wenn man der depressiven Episode der Angeklagten eine Relevanz
für den ersten Akt der Tatausführung, das Verlassen der Wohnung,
und für einen gewissen Zeitraum danach, etwa bis zum Kontakt der Angeklagten
zu ihren Bekannten zuschreiben wolle, sei spätestens mit dem ersten
Treffen der Angeklagten mit ihren Freunden ihre depressive Episode - welchen
Schweregrad diese auch gehabt haben möge - beendet gewesen. Dies
ergebe sich aus den Aussagen von drei Bekannten der Angeklagten, die in
der fraglichen Zeit mit ihr umgegangen seien und sie in ihrer “(positiven) Gestimmtheit“
so erlebt hätten wie früher. Diese Bewertung werde auch nicht
durch den Betäubungsmittelmißbrauch der Angeklagten nach Verlassen der
Wohnung in Frage gestellt. In dieser Zeit habe die Angeklagte täglich Haschisch
und gelegentlich auch Kokain konsumiert. Mit Haschisch habe die
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Angeklagte nach ihren eigenen Angaben ihr schlechtes Gewissen beruhigen
und die Angst vor der Situation in ihrer Wohnung verdrängen wollen. Insofern
fehle es schon an einer Kausalität zwischen dem Mißbrauch der Droge und
der Tatbegehung.
2. Diese Erwägungen halten rechtlicher Prüfung nicht stand.
Bedenklich ist bereits, den Schweregrad einer Depression in die Beurteilung
von ungeschulten medizinischen Laien zu stellen und maßgeblich
auch auf dieser Grundlage das Vorliegen einer für die Anwendung von § 21
StGB beachtlichen mittelgradigen oder schwerwiegenden Depression abzulehnen.
Die Bekannten der Angeklagten, die zu den möglichen Tatzeitpunkten
mit ihr umgegangen sind, haben sie zumeist unter dem Einfluß von Cannabis
erlebt, das sie zur Beruhigung genommen hatte. Auch war die Angeklagte
gerade bestrebt, ihrer Bedrückung durch ein vermeintlich abwechslungsreiches
und ungebundenes Leben zu entgehen, so daß sie - dies liegt
jedenfalls nahe - ihre möglicherweise erheblich depressive Grundstimmung
vor sich selbst und anderen verborgen hat. Darüber hinaus ist in der psychiatrischen
Fachwissenschaft seit langem anerkannt, daß es nicht selten Depressionen
gibt, die selbst Ärzte nicht erkennen. Dies gilt insbesondere dann,
wenn sich die Depression hinter körperlichen und/oder psychopathologischen
Phänomenen wie z.B. Gewichtsabnahme, Schlafstörungen, Verhaltensauffälligkeiten,
Aggressionszuständen, Alkoholismus oder Drogenmißbrauch
verbirgt (vgl. Kielholz, Die larvierte Depression, 1981, S. 9 und 39;
Rasch, Forensische Psychiatrie 2. Aufl. S. 247).
Die Ausführungen des Landgerichts lassen darüber hinaus die gebotene
Gesamtschau vermissen, in welche die Täterpersönlichkeit und deren
Entwicklung, die Vorgeschichte, der unmittelbare Anlaß, die Ausführung der
Tat sowie das Verhalten nach der Tat einzubeziehen sind (BGHR StGB § 21
seelische Abartigkeit 4, 9, 16, 24, 29). Hierzu bestand im vorliegenden Fall
schon deshalb Anlaß, weil dem Urteil zu entnehmen ist, daß die noch junge
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Angeklagte eine sehr belastete Kindheit durchlebt hat und daß auch ihr späterer
Lebensweg äußerst problematisch verlaufen ist (frühe Schwangerschaft
und Freigabe des Kindes zur Adoption, Prostitution und Betäubungsmittelmißbrauch,
gestörte Beziehung zu dem Vater des Tatopfers, schwierige soziale
Verhältnisse, Überforderung und Einsamkeit).
Für die Prüfung und Bewertung des Schweregrades der vom Sachverständigen
festgestellten depressiven Störung hätte insbesondere die unmittelbare
Vorgeschichte, nämlich die Entwicklung der depressiven Störung
bzw. die möglichen Anzeichen für deren progredienten Verlauf, vertieft einbezogen
werden müssen. Hierzu hat die Strafkammer ausführlich dargelegt,
daß es der Angeklagten ab März 2001 immer schwerer gelang, alltägliche
Anforderungen zu bewältigen, sie keiner sinnvollen Beschäftigung mehr
nachging, sie sich die meiste Zeit in schlechter Stimmung in ihrer Wohnung
aufhielt, häufig an Erkältungskrankheiten litt und Termine bei ihrer Bewährungshelferin
nicht mehr einhielt. Seit Juni 2001 nahm die Angeklagte auch
die Termine bei dem Sozialamt nicht mehr wahr, so daß die Mietzahlungen
für ihre Wohnung eingestellt wurden. Stattdessen arbeitete sie gelegentlich
wieder als Prostituierte. Im Juli 2001 lebte die Beziehung der Angeklagten zu
dem Vater von A wieder auf, und sie machten Pläne für eine gemeinsame
Zukunft. Nach einer Woche trennte sich der Kindsvater jedoch
wieder von der Angeklagten, was sie sehr enttäuschte. Im September 2001
erhielt die Angeklagte die Mitteilung, daß sie wegen der Mietschulden ihre
Wohnung bis zum 30. November 2001 räumen müsse. In der Folgezeit hielt
sie sich überwiegend zu Hause auf und war sehr niedergeschlagen. Sie vernachlässigte
ihre Wohnung, die zunehmend vermüllte. In jedem Zimmer stapelte
sich Unrat. Die Angeklagte wechselte ihrem Sohn zwar noch die Windeln,
entsorgte sie jedoch nicht mehr, sondern warf die gebrauchten in eine
Küchenecke. Schließlich war sie auch frustriert darüber, daß ihre Mutter, von
der sie sich nicht geliebt fühlte, mehr Interesse an A zeigte als an
ihr.
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Die Strafkammer hat in diesem Zusammenhang nicht nachvollziehbar
begründet, warum sie aus dieser auf eine nicht unerhebliche Depression hindeutenden
kontinuierlichen Abnahme von sozial gebotenen Verhaltensweisen
und persönlichem Wohlbefinden ausgerechnet das für den Schweregrad
einer depressiven Störung besonders bedeutsame Kriterium, nämlich die
Vermüllung der Wohnung, herausnimmt und dieses Phänomen nicht auf die
psychische Verfassung der Angeklagten, sondern ausschließlich darauf zurückführt,
daß die Wohnung Ende November hätte geräumt werden müssen.
Das hierfür angeführte Argument, daß sie in dieser Zeit immerhin noch die
Windeln des Kindes gewechselt habe, ist nicht aussagekräftig. Es besagt
allenfalls, daß noch Reste von Verantwortungsgefühl für den Sohn erhalten
geblieben waren. Die weitere Begründung, die Bewährungshelferin habe am
9. Oktober 2001 keine „Depressivität“ bei der Angeklagten festgestellt, ist aus
den oben bereits dargelegten Gründen nicht genügend tragfähig.
Schließlich hätte die depressive Verstimmung der Angeklagten auch
vor dem Hintergrund der vom Sachverständigen ebenfalls diagnostizierten
“unreifen Persönlichkeitsstörung“ beurteilt und erwogen werden müssen, ob
möglicherweise das Zusammenwirken beider Faktoren dazu geführt hat, daß
zur Tatzeit die Schuldfähigkeit der Angeklagten erheblich im Sinne von § 21
StGB beeinträchtigt war, dies zumindest nicht ausgeschlossen werden kann.
3. Der Senat hebt das Urteil lediglich im Strafausspruch auf. Die Voraussetzungen
des § 20 StGB liegen offensichtlich nicht vor. Sollte der neue
Tatrichter auf der Grundlage eines weiteren Sachverständigengutachtens zu
einer anderen Bewertung der Schuldfähigkeit der Angeklagten gelangen,
vermag dies das Mordmerkmal der Grausamkeit hier nicht in Zweifel zu ziehen.
Unabhängig von der Frage des Vorliegens der Voraussetzungen von
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§ 21 StGB wird die besondere psychische Befindlichkeit der Angeklagten bei
der nach § 13 Abs. 2 StGB gebotenen Ermessensentscheidung zu beachten
sein (BGHR StGB § 13 Abs. 2 Strafrahmenverschiebung 2).
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