BGH,
Beschl. v. 4.6.2002 - 4 StR 160/02
4 StR 160/02
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom
4. Juni 2002
in der Strafsache gegen
wegen vorsätzlichen Vollrausches
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat nach Anhörung
des Generalbundesanwalts und der Beschwerdeführerin am 4. Juni
2002 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO
beschlossen:
1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Stralsund vom 3. Januar 2002 mit den Feststellungen aufgehoben
a) im Strafausspruch
b) soweit davon abgesehen worden ist, die Unterbringung der Angeklagten
in einer Entziehungsanstalt anzuordnen.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine
andere, allgemeine Strafkammer des Landgerichts
zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe:
Das Landgericht hat die Angeklagte unter Freisprechung im
übrigen wegen vorsätzlichen Vollrausches zu einer
Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Gegen die
Verurteilung wendet sich die Angeklagte mit ihrer Revision, mit der sie
die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Das
Rechtsmittel hat zum Rechtsfolgenausspruch Erfolg; im übrigen
ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der
Revisionsrechtfertigung hat zum Schuldspruch keinen die Angeklagte
benachteiligenden Rechtsfehler ergeben. Insoweit verweist der Senat auf
die zutreffenden Ausführungen in der Antragsschrift des
Generalbundesanwalts vom 25. April 2002.
2. Dagegen hält der Rechtsfolgenausspruch rechtlicher
Prüfung nicht stand.
a) Zur Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs führt in erster
Linie, daß das Landgericht mit rechtsfehlerhaften
Erwägungen davon abgesehen hat, die Unterbringung der
Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 Abs. 1 StGB)
anzuordnen.
Die Feststellungen ergeben, daß die Angeklagte seit Jahren
den Hang hat, Alkohol im Übermaß zu sich zu nehmen.
Hiervon geht auch das Landgericht aus, das der gehörten
Sachverständigen darin folgt, bei der Angeklagten bestehe ein
"Alkoholabhängigkeitssyndrom" (UA 18/19). Die Feststellungen
ergeben ferner, daß die Angeklagte im Sinne des § 64
StGB gefährlich ist. Wie ihr selbst bewußt ist,
reagiert sie unter dem Einfluß von Alkohol leicht reizbar und
aggressiv. Bereits zweimal ist sie wegen gefährlicher
Körperverletzung, jeweils begangen im Zustand erheblicher
Alkoholisierung, strafgerichtlich in Erscheinung getreten. Auch die
neuerliche Tat, bei der die Angeklagte einen "Zechkumpan" derart schlug
und trat, daß dieser an den Folgen der Verletzungen verstarb,
beging die Angeklagte nach erheblichem Alkoholgenuß, der
nicht ausschließbar zu ihrer Schuldunfähigkeit
geführt hat.
Das Landgericht hat gleichwohl von der Anordnung der Unterbringung der
Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 Abs. 1 StGB
abgesehen, weil die dafür vorausgesetzte hinreichend konkrete
Erfolgsaussicht (BVerfGE 91, 1 f.) nicht bestehe. Zur
Begründung hat es sich die Auffassung der
Sachverständigen zu eigen gemacht, einer Entziehungskur
könnten nur dann konkrete Erfolgsaussichten beigemessen
werden, wenn auch der Lebenspartner abstinent sei. Dies sei bei der
Angeklagten nicht gewährleistet, denn ihr Ehemann, von dem sie
sich nicht trennen wolle, leide unter chronischem Alkoholismus und es
sei nicht zu erkennen, daß er bereit sei, sich in eine
Entziehungsbehandlung zu begeben.
Diese Begründung trägt die getroffene Entscheidung,
von der Anordnung der Unterbringung der Angeklagten in einer
Entziehungsanstalt abzusehen, nicht. Der Auffassung des Landgerichts
kann schon im Ansatz nicht gefolgt werden, denn sie liefe im Ergebnis
darauf hinaus, von vornherein auch diejenigen aufgrund ihrer
Rauschmittelabhängigkeit gefährlichen
Straftäter, die therapiewillig und grundsätzlich auch
therapiegeeignet sind, die aber in enger sozialer und
persönlicher Beziehung mit ebenfalls
rauschmittelabhängigen Personen leben, von der erforderlichen
Entziehungsbehandlung auszuschließen. Damit aber
würde in weitem Umfang sowohl der auf individuelle Heilung des
Straftäters von seiner Sucht gerichtete Zweck der
Maßregel als auch der damit verbundene
Präventionszweck der Maßregel verfehlt.
Der Auffassung des Landgerichts kann aber auch deshalb nicht gefolgt
werden, weil ihr ein nicht zutreffender Bezugspunkt, nämlich
allein die Situation nach Entlassung in die Freiheit, zugrunde liegt.
Sinn der Maßregelanordnung nach § 64 StGB ist es
aber, möglichst umgehend mit der Behandlung zu beginnen, weil
dies am ehesten einen dauerhaften Erfolg verspricht. Deshalb ist die
Erfolgsaussicht einer Entziehungsbehandlung schon für die
voraussichtliche Dauer der Inhaftierung zu prüfen, zumal es
auch darum geht, den Betroffenen durch die Behandlung in die Lage zu
versetzen, an der Verwirklichung des Vollzugsziels mitzuarbeiten (vgl.
BGHR StGB § 67 Abs. 2 Vorwegvollzug 7 m.w.N.). Auch wenn
vieles dafür sprechen mag, daß die Rückkehr
eines (ehemals) abhängigen Straftäters in sein
"Milieu" nach Entlassung aus der Haft trotz Entziehungsbehandlung die
Gefahr des Rückfalls in frühere Verhaltensweisen
begründet, kann dies deshalb für sich kein Grund
sein, die Anordnung der Maßregel abzulehnen. Zwar mag ein
solcher Umstand einen dauerhaften Erfolg der Entziehungsbehandlung in
Frage stellen. Doch verlangt § 64 Abs. 1 StGB nach der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes BVerfGE 91, 1 f. (= NStZ
1994, 578) nicht unbedingt die Aussicht auf eine vollständige
Heilung von der Sucht; vielmehr genügt danach die konkrete
Aussicht, "den Süchtigen über eine gewisse Zeitspanne
vor dem Rückfall in die akute Sucht zu bewahren".
Ob auch eine solche zumindest vorläufige Heilung der
Angeklagten von ihrer Alkoholabhängigkeit durch eine gezielte
Entwöhnungsbehandlung nicht zu erreichen ist, hat das
Landgericht nicht geprüft. Es versteht sich auch nicht von
selbst. Die Angeklagte hat sich nicht grundsätzlich gegen eine
Therapie ausgesprochen. Abgesehen davon hängt die
Erfolgsaussicht nicht unbedingt von der in der Hauptverhandlung
geäußerten Einstellung zur Therapie ab; vielmehr ist
es gerade Aufgabe des Maßregelvollzugs, den Untergebrachten
für die Therapie zu motivieren (vgl. BVerfG aaO). Die
Angeklagte hat sich bislang keiner Entwöhnungsbehandlung
unterzogen, so daß auch nicht etwa erfolglose
Therapieversuche der Annahme hinreichend konkreter Erfolgsaussicht
entgegenstehen.
Über die Frage der Unterbringung ist deshalb neu zu
entscheiden. Das Verschlechterungsverbot steht der Anordnung der
Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nicht entgegen (§
358 Abs. 2 StPO). Die Angeklagte hat die Nichtanwendung des §
64 StGB auch nicht wirksam von ihrem Rechtsmittelangriff ausgenommen.
b) Der Senat hebt wegen des inneren Zusammenhangs auch den
Strafausspruch auf. Denn er kann nicht ausschließen,
daß das Landgericht im Fall einer Unterbringung der
Angeklagten gemäß § 64 StGB auf eine
niedrigere Freiheitsstrafe erkannt hätte. Für das
weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, daß der neue
Tatrichter auch zu prüfen haben wird, ob die
alkoholabhängige Angeklagte in ihrer Fähigkeit, der
Versuchung des Sichberauschens zu widerstehen, im Sinne von §
21 StGB erheblich vermindert war (vgl. BGHR StGB § 323 a Abs.
2 Strafzumessung 7). Ausdrücklich hat das Landgericht bislang
nur ausgeschlossen, daß ihre Alkoholabhängigkeit es
ihr "unmöglich" machte, die Herbeiführung eines
Rausches zu verhindern (UA 20). Damit ist - rechtsfehlerfrei - aber nur
der Ausschluß völliger Aufhebung der
Schuldfähigkeit (§ 20 StGB) in Bezug auf das
Sichberauschen belegt. Dies erübrigt die Prüfung der
Voraussetzungen des § 21 StGB nicht, zumal das Landgericht die
Frage der Schuldfähigkeit des Sichberauschens nur unter dem
Gesichtspunkt einer krankhaften seelischen Störung, nicht aber
auch einer schweren anderen seelischen Abartigkeit erörtert
hat.
Es wird sich empfehlen, für das neue Verfahren einen weiteren,
mit der Sache noch nicht befaßten Sachverständigen
hinzuzuziehen.
3. Der Senat verweist die Sache an eine allgemeine Strafkammer des
Landgerichts zurück, da nach Rechtskraft des Schuldspruchs
keine die Zuständigkeit des Schwurgerichts
begründende Zuständigkeit mehr besteht.
Tepperwien Maatz Kuckein Solin-Stojanovic Ernemann
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