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BGH, Beschluss vom 4. Mai 2004 - 5 StR 588/03


Entscheidungstext  
 
BGH, Beschl. v. 4.5.2004 - 5 StR 588/03
5 StR 588/03
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom
4.05.2004
in der Strafsache
gegen
wegen Steuerhinterziehung
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Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 4.05.2004
beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des
Landgerichts Düsseldorf vom 7. Mai 2003 gemäß
§ 349 Abs. 4 StPO im Rechtsfolgenausspruch dahin
abgeändert, daß von Strafe abgesehen wird.
2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2
StPO als unbegründet verworfen.
3. Der Angeklagte hat die Hälfte der Kosten des Rechtsmittelverfahrens
zu tragen; im übrigen fallen diese Kosten
der Staatskasse zur Last, die auch die Hälfe der
insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten
zu tragen hat.
G r ü n d e
Das Landgericht hat den - jetzt 69jährigen - Angeklagten wegen
Steuerhinterziehung in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun
Monaten verurteilt. Seine hiergegen gerichtete Revision führt zur Abänderung
des Rechtsfolgenausspruchs und zum Absehen von Strafe. Im übrigen
ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Das Landgericht hat eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung
im Sinne des Art. 6 Abs. 1 MRK angenommen, weil das Verfahren jedenfalls
nach Anklageerhebung sechseinhalb Jahre lang nicht gefördert wurde.
Nach den Urteilsfeststellungen befand sich der Angeklagte bereits ab
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Oktober 1992 in Untersuchungshaft. Aufgrund des im hiesigen Verfahren
ergangenen Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts (-Kammer- NStZ
1994, 553 ff.) wurde der Angeklagte durch das Oberlandesgericht Düsseldorf
am 31. August 1994 aus der Haft entlassen. Während der Inhaftierung litt er
infolge einer Retraumatisierung, die auf die Verfolgung seiner jüdischen Familie
durch das NS-Regime zurückzuführen war, unter schweren Depressionen
mit einer ausgeprägten präsuizidalen Symptomatik. Schon im Mai 1993
hatte der Angeklagte die abgeurteilten Vorwürfe weitgehend eingeräumt.
Während des Laufs des Verfahrens erlitt er zwei Schlaganfälle.
Nach Anklageerhebung im Jahr 1994 wurde das Hauptverfahren im
Jahr 1998 eröffnet und mit Urteil vom 7. Mai 2003 abgeschlossen.
2. Die zugrundeliegenden Taten sind - entgegen der Auffassung der
Verteidigung - nicht verjährt, weil weder die doppelte Verjährung nach § 78c
Abs. 3 StGB zum Zeitpunkt der Eröffnung des Hauptverfahrens abgelaufen
noch die durch § 78b Abs. 4 StGB eingeräumte Verlängerungsfrist für den
Verjährungseintritt bis zum Erlaß des Urteils verstrichen war. Bei den im Interesse
der Rechtssicherheit zwangsläufig starren Grenzen der Verjährungsregelungen
kommt es nicht darauf an, inwieweit das Verfahren innerhalb der
für die Prüfung der Verjährung erheblichen Abschnitte auch tatsächlich gefördert
wurde. Im Rahmen der insoweit maßgeblichen Höchstfristen reicht es
aus, wenn die notwendigen Unterbrechungshandlungen erfolgt sind und mithin
der Eintritt der Verjährung wirksam immer wieder unterbrochen werden
konnte. Eklatanten Verzögerungen durch die Strafverfolgungsbehörden ist
deshalb nicht dadurch Rechnung zu tragen, daß die gesetzlich festgelegten
Verjährungsvoraussetzungen - wie die Verteidigung meint - modifiziert werden
müßten. Vielmehr ist nach den von der Rechtsprechung zur sogenannten
rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung entwickelten Grundsätzen
ein Ausgleich auf der Ebene der Strafzumessung zu suchen; in ganz besonderen
Ausnahmefällen kommt auch die Einstellung des Verfahrens aufgrund
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eines dann anzunehmenden Verfahrenshindernisses in Betracht (vgl. BVerfG
NJW 2003, 2225 ff.; 2228 f. und 2897; vgl. auch BGH NJW 1993, 3254;
1992, 2472; EGMR EuGRZ 1983, 371 ff.).
3. Ob eine mit dem Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes und mit
Art. 6 Abs. 1 MRK nicht in Einklang stehende Verfahrensverzögerung vorliegt,
bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls, die in einer umfassenden
Gesamtwürdigung gegeneinander abgewogen werden müssen (vgl.
BGHSt 46, 159, 169 ff.). Solche in die Gesamtwürdigung einzubeziehenden
Gesichtspunkte sind etwa der durch die Justiz verursachte Zeitraum der
Verfahrensverlängerung, die Gesamtdauer des Verfahrens, die Schwere des
Tatvorwurfs, der Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrensgegenstands
sowie das Ausmaß der mit der Dauer des schwebenden Verfahrens für den
Betroffenen verbundenen besonderen Belastungen. Liegt eine rechtsstaatswidrige
Verfahrensverzögerung vor, dann kann dies - je nach Schweregrad -
zu einer Einstellung nach §§ 153 ff. StPO, einem Absehen von Strafe, einer
Verwarnung mit Strafvorbehalt oder lediglich zu einer Berücksichtigung bei
der Strafzumessung führen (vgl. auch BGH, Beschl. vom 13. November 2003
- 5 StR 376/03). In Ausnahmefällen kann gar die Annahme eines Verfahrenshindernisses
zu prüfen sein.
Das Landgericht hat ein Verfahrenshindernis im vorliegenden Fall zu
Recht nicht in Betracht gezogen. Ob ein solches vorliegt, ist immer auch im
Blick auf das Gewicht der Tat zu bestimmen (BGHSt 46, 159, 174). Der hier
durch den Angeklagten bewirkte steuerliche Verkürzungsumfang in Höhe von
insgesamt etwa 700.000 DM und die von hoher krimineller Energie geprägte
Tatausführung stehen der Annahme eines Verfahrenshindernisses entgegen.
Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht entsprechend den von der
Rechtsprechung entwickelten Leitlinien eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung
angenommen und den Umfang der Verzögerung mit sechsein-
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halb Jahren bestimmt. Es hat im Wege einer Kompensation die an sich verwirkten
Einzelstrafen halbiert. Obwohl bei der Bildung der Gesamtstrafe dann
nicht noch einmal ein Abschlag vorzunehmen ist (BGH NStZ 2003, 601), hat
es die - was allerdings den Angeklagten nicht beschwert - aus den reduzierten
Einzelstrafen gebildete und an sich für angemessen erachtete Gesamtstrafe
wiederum halbiert und auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von neun
Monaten erkannt.
4. Die vom Landgericht gefundenen Strafen begegnen gleichwohl
durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Das Landgericht hat bei der Frage
der Kompensation der Verfahrensverzögerung allein den zeitlichen Aspekt
berücksichtigt. Es hat in diesem Zusammenhang jedoch nicht erkennbar in
den Blick genommen, daß das Verfahren gerade auch wegen seiner Dauer
für den Angeklagten zu ganz erheblichen gesundheitlichen Einbußen geführt
hat. Die mit der Dauer des Verfahrens verbundenen besonderen Belastungen
des Beschuldigten sind ein ganz wesentlicher Gesichtspunkt im Rahmen
der kompensatorischen Strafzumessung (vgl. BVerfG NJW 2003, 2225,
2226). Neben seiner präsuizidalen Retraumatisierung erlitt der Angeklagte in
der Haft auch einen Schlaganfall und während des gerichtlichen Verfahrens
einen weiteren. Dabei hätte das Verfahren - soweit es die dann tatsächlich
abgeurteilten Vorwürfe betraf - bereits nach seinem sehr weitgehenden Geständnis
im Mai 1993 zeitnah abgeschlossen werden können. Da sich der
Angeklagte zu diesem Zeitpunkt noch in Haft befand, wäre dies auch dringend
geboten gewesen. Neben der ganz eklatanten zeitlichen Verzögerung
durch die Untätigkeit der Strafverfolgungsbehörden hätte den ersichtlich
verfahrensbedingten gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Rahmen der
kompensatorischen Strafzumessung entscheidendes Gewicht zukommen
müssen. Der gesamte Strafausspruch kann deshalb keinen Bestand haben.
5. Dies führt im vorliegenden Fall nicht zu einer Zurückverweisung
der Sache. Eine solche würde das Verfahren noch weiter verlängern und für
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den Angeklagten eine zusätzliche Belastung darstellen. Der Senat entscheidet
hier selbst und sieht nach § 60 StGB von Strafe ab. Die schweren psychischen
und körperlichen Beeinträchtigungen im Gefolge der Tat rechtfertigen
diese Entscheidung im vorliegenden Fall, weil sie den Angeklagten massiv
getroffen haben. Solche mittelbaren (hier erst durch die Strafverfolgung
bewirkten) Folgen der Tat können die Anwendung des § 60 StGB begründen
(vgl. G. Hirsch in LK 11. Aufl. § 60 Rdn. 30; Stree in Schönke/Schröder,
StGB 26. Aufl. § 60 Rdn. 6). Neben der bereits erlittenen Untersuchungshaft,
für deren Vollzug das Landgericht dem Angeklagten - ohne daß er dies angegriffen
hätte - nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 StrEG keine Entschädigung gewährt
hat, bliebe eine weitere Strafe aufgrund der durch die Inhaftierung und die
lange Verfahrensdauer erlittenen Folgen ohne erkennbaren Sinn. Aus diesem
Grund ist der Senat auch gehindert, gegen den Angeklagten eine Verwarnung
mit Strafvorbehalt auszusprechen. Ein Strafvorbehalt würde für den
Angeklagten eine zusätzliche Beschwer gegenüber der jetzt verhängten
Freiheitsstrafe darstellen, die durch die Untersuchungshaft bereits voll verbüßt
ist.
Der Rechtsfolgenausspruch des Absehens von Strafe betrifft sowohl
die Einzelstrafen als auch die Gesamtstrafe. Bezüglich sämtlicher Taten war
keine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verwirkt (§ 60 Satz 2 StGB),
was sich schon aus der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten
ergibt. Bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 60 StGB dürfen sämtliche
strafzumessungsrelevanten Gesichtspunkte nochmals gewürdigt werden,
das Doppelverwertungsverbot des § 50 StGB gilt insoweit nicht (vgl. BGHSt
27, 298, 299 f.). Demnach können sämtliche Strafzumessungserwägungen,
auch die für die kompensatorische Strafzumessung maßgeblichen, bei der
Bestimmung der (hypothetischen) Strafe einbezogen werden (vgl. Stree aaO
Rdn. 10). Zwar hat das Landgericht für die Steuerhinterziehung bezüglich
des Veranlagungszeitraums 1985 die Einsatzfreiheitsstrafe von einem Jahr
und zwei Monaten verhängt. Der Senat schließt jedoch angesichts der dann
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gebildeten Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten aus, daß die Einsatzfreiheitsstrafe
von einem Jahr und zwei Monaten auch als alleinige Strafe festgesetzt
worden wäre. Vielmehr ist diese Strafe nur als rechnerischer Zwischenschritt
zu verstehen, dem im Rahmen der Gesamtstrafenbildung eine
weitere Reduktion nachfolgen sollte.
6. Für die Feststellung einer Entschädigungspflicht nach § 4 Abs. 1
Nr. 1 StrEG ist bezüglich der in Wegfall geratenen Gesamtfreiheitsstrafe von
neun Monaten kein Raum, weil eine solche - was der Angeklagte im übrigen
schon im Hinblick auf die Versagung einer Entschädigung im landgerichtlichen
Urteil nicht beanstandet hat - nicht der Billigkeit entspräche, zumal von
Strafe gerade im Hinblick auf die überschießende Verfolgungsmaßnahme
abgesehen wurde (vgl. Meyer-Goßner, StPO 47. Aufl. § 4 StrEG Rdn. 5).
Harms Häger Raum
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