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BGH, Beschluss vom 4. November 2003 - 1 StR 384/03


Entscheidungstext  
 
BGH, Beschl. v. 4.11.2003 - 1 StR 384/03
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
1 StR 384/03
vom
4.11.2003
in der Strafsache
gegen
wegen Betruges u.a.
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Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 4.11.2003 gemäß
§ 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Bamberg vom 29. April 2003 im Rechtsfolgenausspruch
mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die weitergehende Revision der Angeklagten gegen das vorbezeichnete
Urteil wird als unbegründet verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels,
an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe:
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Betruges in Tateinheit mit
Urkundenfälschung in 138 Fällen zur Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren
verurteilt und ihre Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.
Die hiergegen gerichtete Revision der Angeklagten rügt die Verletzung
sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel hat Erfolg, soweit es den Rechtsfolgenausspruch
betrifft, ist im übrigen jedoch unbegründet im Sinne des § 349 Abs.
2 StPO.
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I.
Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen wurde der vielfach
wegen Diebstahls vorbestraften Angeklagten von einer namentlich nicht
bekannten Person die im November 2000 in Dresden gestohlene EC-Karte einer
Frau C. R. zur Verfügung gestellt. Diese Person wies die Angeklagte
an, in bestimmten Geschäften näher bezeichnete Waren unter Verwendung
dieser gestohlenen EC-Karte zu erwerben. Da der Angeklagten die PINNummer
der EC-Karte nicht bekannt war, suchte sie mit dieser nur solche Geschäfte
an verschiedenen Orten im Bundesgebiet auf, die sich in Verbindung
mit der EC-Karte des sog. Lastschriftverfahrens bedienten (POS-Verfahren). Im
Zeitraum zwischen dem 2. April und dem 17. August 2001 trat sie dort jeweils
als zahlungswillige und zahlungsfähige Kundin auf. Bei der Bezahlung ihrer
Einkäufe mit der EC-Karte der C. R. erweckte sie den Anschein, sie
sei die Berechtigte und unterschrieb die entsprechenden Belege, mit denen sie
Einzugsermächtigung erteilte, mit dem Namen der berechtigten Karteninhaberin.
In dieser Weise verfuhr sie insgesamt 138 Mal und ertrog sich so die unterschiedlichsten
Gegenstände, u.a. Bekleidung, Haushalts- und Spielwaren, aber
auch sog. Hummelfiguren, Teddybären der Marke Steiff und Puppen. C.
R. widerrief jeweils die Einzugsermächtigung, so daß die auf den Konten
der Geschäftsinhaber erfolgten Gutschriften rückbelastet wurden. Der enstandene
Gesamtschaden beläuft sich auf mehr als 50.000 DM.
Die Strafkammer hat eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit der
Angeklagten während der von ihr begangenen Taten (positiv) festgestellt. Bei
ihr liege eine "reaktiv-depressive Verstimmung nach ICD-10 F 43.21“ (Internationale
Klassifikation psychischer Störungen der Weltgesundheitsorganisation)
„bei belastenden Lebensumständen auf dem Boden einer hierzu disponierten
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Persönlichkeitsstruktur" vor. Diese reaktiv-depressive Störung bestehe seit
langer Zeit. Die Angeklagte erlebe Situationen des Ladendiebstahls oder auch
der hier gegenständlichen betrügerischen Einkäufe als eine Veränderung ihrer
Lebensumstände; sie erfahre diese subjektiv als "leidensmindernd", weil die
jeweilige Tat zu einer kurzfristigen "Befindlichkeitsaufwertung" führe. Das gelte
auch in den Fällen, in denen die Angeklagte zu den Taten durch Dritte angeleitet
oder bestimmt worden sei. Die Strafkammer hat deshalb von der Möglichkeit
Gebrauch gemacht, den der Strafzumessung zugrundegelegten Strafrahmen
nach den §§ 21, 49 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu mildern.
Darüber hinaus hat sie die Unterbringung der Angeklagten in einem
psychiatrischen Krankenhaus angeordnet (§ 63 StGB). Die bei ihr festgestellte
seelische Abartigkeit sei bislang nicht adäquat behandelt worden. Es bestehe
die Gefahr, daß sie weiterhin in Belastungssituationen Eigentums- und Vermögensdelikte
begehe, die im weitesten Sinne "zu dem Umfeld der Ladendiebstähle"
gehörten. Die Angeklagte unterliege immer wieder dem mehr oder weniger
unwiderstehlichen Zwang, derartige Delikte zu begehen. Deshalb sei zu
erwarten, daß sie ohne Behandlung weiter gleichartige Delikte begehe. Sie sei
deshalb für die Allgemeinheit gefährlich.
II.
Der Schuldspruch hat aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift
dargelegten Gründen von Rechts wegen Bestand (§ 349 Abs. 2
StPO).
III.
Die Annahme erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit (§ 21 StGB)
der Angeklagten während der Taten und die Anordnung ihrer Unterbringung in
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einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) begegnen hingegen durchgreifenden
rechtlichen Bedenken.
1. Die Strafkammer geht mit dem von ihr hinzugezogenen psychiatrischen
Sachverständigen davon aus, die Angeklagte habe unter einer reaktivdepressiven
Verstimmung gelitten; sie habe mit den Taten eine "emotionale
Befindlichkeitsaufwertung" erlebt, die sie nach ICD-10 unter der Kategorie F
43.21 einordnet, als „schwere andere seelische Abartigkeit“ (im Sinne des § 20
StGB) bewertet und die zu einer erheblichen Einschränkung ihrer Steuerungsfähigkeit
geführt habe. Diese Würdigung ist jedoch in tatsächlicher wie auch in
rechtlicher Hinsicht durch die Urteilsgründe nicht tragfähig belegt.
a) Nach der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen - klinisch-
diagnostische Leitlinien - (ICD 10 Kapitel V der Weltgesundheitsorganisation)
handelt es sich bei den sog. Anpassungsstörungen (F 43.2) um Zustände
von subjektivem Leiden und emotionaler Beeinträchtigung, die soziale
Funktionen und Leistungen behindern und während des Anpassungsprozesses
nach einer entscheidenden Lebensveränderung, nach einem belastenden Lebensereignis
oder auch nach schwerer körperlicher Krankheit auftreten. Unter
der Bezeichnung F 43.21, die der Sachverständige hier angenommen hat, ist
ein "leichter depressiver Zustand als Reaktion auf eine länger anhaltende Belastungssituation,
die aber nicht länger als zwei Jahre dauert" beschrieben. Es
liegt nicht nahe, daß eine solche, als "leichter depressiver Zustand" zu bewertende
Befindlichkeit bei der Angeklagten - freilich auf der Grundlage einer entsprechend
disponierten Persönlichkeit - zu einer, wie die Strafkammer ausführt,
schweren seelischen Abartigkeit im Sinne des Eingangsmerkmals des
§ 20 StGB geführt haben könnte. Dies hätte der näheren Darlegung und Begründung
bedurft.
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Eine solche Begründung läßt sich nicht etwa dem Zusammenhang der
Urteilsgründe entnehmen. Zwar stellt die Strafkammer fest, die Angeklagte habe
zwischen 1984 und 1996 „im Überfluß Alkohol und Tabletten zu sich genommen“;
sie leide seit längerer Zeit an Depressionen, habe im Sommer 2002
- also nach den Taten - einen Suicid-Versuch mit Tabletten unternommen und
sei darauf zwei Wochen stationär in einer Psychiatrischen Klinik behandelt
worden. Der Sachverständige hat die durchgehend belastenden Lebensumstände
der Angeklagten im wesentlichen in der Trennung von ihrem ersten
Ehemann, in der Erkrankung ihres jetzigen Mannes sowie in den gegen sie
geführten Strafverfahren gesehen (UA S. 36 i.V.m. UA S. 4). Auch diese festgestellten
Umstände belegen aber nicht ohne weiteres die Erfüllung des Eingangsmerkmals
der schweren anderen seelischen Abartigkeit (§ 20 StGB).
b) Ohne weitere Begründung ist zudem nicht tragfähig belegt, inwiefern
die Steuerungsfähigkeit in einem Maße beeinträchtigt gewesen sein könnte,
daß die rechtliche Kategorie der "Erheblichkeit" im Sinne des § 21 StGB sicher
erreicht gewesen wäre. Soweit die Kammer mit dem Sachverständigen annimmt,
die Taten habe die Angeklagte als Befindlichkeitsaufwertung erlebt, wodurch
sie einem Leidensdruck entgangen sei, und auch insoweit auf die reaktiv-
depressive Verstimmung abhebt, die letztlich auf die Belastung durch Trennung
vom ersten Ehemann, Erkrankung des zweiten Ehemannes und die Strafverfahren
gegen die Angeklagte zurückgeführt wird, ist dadurch eine „erhebliche“
Verringerung der Steuerungsfähigkeit im Blick auf Betrug und Urkundenfälschung
nicht hinreichend dargetan.
Die Frage, ob eine Verminderung der Steuerungsfähigkeit "erheblich" im
Sinne des § 21 StGB ist, stellt sich als Rechtsfrage dar. Diese hat der Tatrichter
ohne Bindung an Äußerungen von Sachverständigen zu beantworten. Da-
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bei fließen normative Erwägungen mit ein. Die rechtliche Erheblichkeit der
Verminderung des Hemmungsvermögens hängt auch von den Ansprüchen ab,
die die Rechtsordnung an das Verhalten des Einzelnen zu stellen hat. Dies zu
bewerten und zu entscheiden ist Sache des Richters. Allein zur Beurteilung der
Vorfrage nach den medizinisch-psychiatrischen Anknüpfungstatsachen bedarf
er sachverständiger Hilfe, sofern er hierzu nicht aufgrund eigener Sachkunde
befinden kann (BGHSt 43, 66, 77; BGH StV 1999, 309, 310; BGH, Urt. vom
10.09.2003 - 1 StR 147/03).
2. Soweit die Annahme der Voraussetzungen des § 21 StGB zur Milderung
des von der Kammer zugrundegelegten Strafrahmens geführt hat, ist die
Angeklagte zwar nicht beschwert. Im Zusammenhang mit der Anordnung ihrer
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, die sie ausdrücklich mit
ihrem Rechtsmittel angreift, vermag der Senat aber nicht auszuschließen, daß
sie sich auch zu Lasten der Angeklagten ausgewirkt haben kann. Denn die
Unterbringung nach § 63 StGB setzt wenigstens die sichere Annahme erheblich
verminderter Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB voraus. Ist diese mit
einem Rechtsfehler behaftet, kann die Unterbringungsordnung schon deswegen
keinen Bestand haben. Darüber hinaus erweisen sich aber auch die Erwägungen
des Landgerichts zu den weiteren Voraussetzungen der Unterbringung
als nicht tragfähig:
Die Angeklagte hat die Taten zwischen April und August des Jahres
2001 begangen. Die aufgrund sachverständiger Beratung angenommene Befindlichkeit
der Angeklagten dauert nach der Beschreibung in der Internationalen
Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10 F 43.21) "aber nicht länger
als zwei Jahre" an. Unter diesen Umständen hätte auch die Gesamtwürdigung
der Angeklagten und ihrer Taten zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung, die
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knapp zwei Jahre nach den Taten stattfand, im Rahmen der Prognose hierauf
eingehen müssen. Hinzu kommt, daß die Angeklagte sich zum Zeitpunkt der
Urteilsverkündung seit etwa neun Monaten wieder auf freiem Fuß befand und
das Urteil nicht ergibt, daß sie in dieser Zeit aufgrund ihres Zustandes erneut
straffällig geworden wäre.
3. Nach allem bedarf die Frage des Vorliegens einer erheblich verminderten
Steuerungsfähigkeit zu den Tatzeiten ebenso wie die Anordnung der
Unterbringung der Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus neuer
Verhandlung und Entscheidung. Der Rechtsfolgenausspruch kann deshalb
insgesamt keinen Bestand haben. Nicht betroffen ist hingegen der Schuldspruch.
Der Senat vermag aufgrund der bisherigen, insoweit rechtsfehlerfrei
getroffenen Feststellungen sicher auszuschließen, daß die Angeklagte im Zustand
der Schuldunfähigkeit gehandelt haben könnte.
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