BGH,
Beschl. v. 5.2.2002 - 5 StR 617/01
StPO §§ 44; 138 Abs. 1; 302 Abs. 1 Satz 1; 338 Nr. 5
In einem Fall notwendiger Verteidigung begründet die alleinige
Mitwirkung eines nicht als Rechtsanwalt zugelassenen Scheinverteidigers
an der Hauptverhandlung den absoluten Revisionsgrund des § 338
Nr. 5 StPO. Ein nach Beratung durch den Scheinverteidiger
erklärter Rechtsmittelverzicht des Angeklagten ist unwirksam.
Der Angeklagte kann danach gegen die Versäumung der
Rechtsmittelfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erlangen.
BGH, Beschl. v. 5. Februar 2002 - 5 StR 617/01 - LG Berlin
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
5 StR 617/01
vom
5. Februar 2002
in der Strafsache gegen
wegen Betruges u.a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat am 5. Februar 2002
beschlossen:
Gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Revision
gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 25. September 2001 wird
der Angeklagten auf ihre Kosten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
gewährt.
Gründe:
Das Landgericht hat die Angeklagte am 25. September 2001 wegen
insgesamt 30 Fällen des Betruges und wegen versuchten Betruges
unter Einbeziehung anderweits verhängter Strafen zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr sowie zu einer weiteren
Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt.
Nach Urteilsverkündung und Rechtsmittelbelehrung
erklärte die Angeklagte nach Rücksprache mit ihrem
damaligen Wahlverteidiger, der für sie an der Hauptverhandlung
teilgenommen hatte, Rechtsmittelverzicht.
I.
Mit am 2. November 2001 eingegangenem Schriftsatz meldete sich ein
neuer Wahlverteidiger für die Angeklagte. Er trug vor, diese
sei am 26. Oktober 2001 von der Rechtsanwaltskammer Berlin
darüber informiert worden, daß ihr bisheriger
Wahlverteidiger zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung nicht als
Rechtsanwalt zugelassen gewesen sei. Der neue Wahlverteidiger
beantragte für die Angeklagte Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand gegen die Versäumung der Revisionseinlegungsfrist und
legte Revision ein.
Tatsächlich war der Widerruf der Zulassung des damaligen
Wahlverteidigers zur Rechtsanwaltschaft wegen
Vermögensverfalls (§ 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO) mit
Beschluß des Bundesgerichtshofes - Senat für
Anwaltssachen - vom 18. Juni 2001 - AnwZ (B) 6/00 -
bestandskräftig geworden. Gleichwohl hatte sich der ehemalige
Rechtsanwalt danach als anwaltlicher Wahlverteidiger für die
Angeklagte gemeldet und für sie an der Hauptverhandlung vor
der großen Strafkammer des Landgerichts teilgenommen.
II.
Das Wiedereinsetzungsgesuch der Angeklagten hat Erfolg.
1. Ihr am Schluß der Hauptverhandlung erklärter
Rechtsmittelverzicht erweist sich abweichend von dem Grundsatz,
daß eine solche Prozeßerklärung als
unwiderruflich und unanfechtbar zu gelten hat (BGHSt 45, 51, 53),
aufgrund besonderer verfahrensrechtlicher Gegebenheiten als von Anfang
an unwirksam.
In der erstinstanzlichen Hauptverhandlung vor dem Landgericht fehlte es
an der nach § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO notwendigen Mitwirkung
eines Verteidigers. Der für die Angeklagte als Wahlverteidiger
mitwirkende ehemalige Rechtsanwalt konnte infolge des Verlusts seiner
Rechtsanwaltszulassung gemäß § 138 Abs. 1
StPO nicht mehr als Verteidiger auftreten.
Am Schluß der Hauptverhandlung wurde der Angeklagten vor
ihrer Rechtsmittelverzichtserklärung Gelegenheit zur
Rücksprache mit ihrem vermeintlichen Verteidiger gegeben.
Hiermit wollte das Landgericht der gebotenen Einhaltung der
Verfahrensregeln vor Herbeiführung eines wirksamen
Rechtsmittelverzichts (vgl. BGHSt 18, 257, 260; 19, 101, 104; 45, 51,
57) Rechnung tragen. Vorliegend war die Einhaltung jener Regeln indes
dadurch gehindert, daß der - wie das Gericht nicht
wußte - nicht mehr zugelassene Rechtsanwalt die Verteidigung
nicht führen durfte.
Die Angeklagte war damit vor Abgabe der
Prozeßerklärung des Rechtsmittelverzichts ohne den
bei einer erstinstanzlichen Verhandlung vor dem Landgericht gesetzlich
zwingend vorgeschriebenen Beistand eines zugelassenen Verteidigers; ihr
fehlte folglich die rechtsstaatlich unverzichtbare Rechtsberatung.
Infolge dieser gravierenden, gemessen an den Anforderungen an ein
faires Verfahren nicht hinnehmbaren Einschränkung der
Verteidigungsrechte der Angeklagten muß ihr
Rechtsmittelverzicht als von Anfang an unwirksam gewertet werden (vgl.
Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 45. Aufl. § 302 Rdn.
25; Hanack in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 302
Rdn. 57; jeweils m.w.N.).
Anhaltspunkte für einen besonders gelagerten Sachverhalt,
wonach die Angeklagte den Rechtsmittelverzicht aufgrund unbedingter,
von jeglichem Rat irgendeines Verteidigers unbeeinflußbarer -
damit auch tatsächlich nicht vom Rat des Scheinverteidigers
beeinflußter - autonomer Entschließung abgegeben
hätte, nämlich auf der Grundlage eines allein
gebildeten verbindlichen Verzichtswillens, der dem eines jeden
Verteidigers vorrangig wäre (vgl. BGHSt 45, 51, 56; BGHR StPO
§ 302 Abs. 1 Satz 1 Rechtsmittelverzicht 7, 11; Ruß
in KK 4. Aufl. § 302 Rdn. 12), liegen nicht vor. In der
Antrags- und Rechtsmittelschrift hat sie schlüssig - und
unwiderlegbar - abweichend vorgetragen.
Freilich hinderte der Umstand eines Vermögensverfalls, der
Anlaß zum Widerruf der Rechtsanwaltszulassung gewesen war,
den Scheinverteidiger kurz nach Bestandskraft des Widerrufs ersichtlich
nicht stärker an einer seiner Ausbildung entsprechenden
Wahrnehmung von Verteidigeraufgaben, als dies bei Wahrnehmung eines
Mandats kurz zuvor der Fall gewesen wäre; auch liegen
keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, daß der Mangel an
berufsrechtlicher Pflichteinbindung irgendeinen Einfluß auf
seine konkrete Verteidigungstätigkeit erlangt haben
könnte. Gleichwohl ist für die Frage, welche Personen
als Verteidiger an einem Strafverfahren mitwirken dürfen,
Rechtsklarheit unverzichtbar. Mit diesem Anliegen wäre eine
Auslegung, welche die Rechtsverbindlichkeit von Verteidigerhandlungen
einer zur Verteidigung nicht befugten Person von einem gewissen - dann
aber nicht sicher abgrenzbaren - Schweregrad des konkreten Mangels
abhängig machen wollte, nicht zu vereinbaren. Jede Form der
Nichterfüllung der gesetzlichen Anforderungen an die Person
des Verteidigers (hier: § 138 Abs. 1 StPO) muß
vielmehr identische Unwirksamkeitsfolgen nach sich ziehen.
Angesichts der Bedeutung der Verteidigungsrechte der Angeklagten
muß schließlich der Umstand unerheblich bleiben,
daß das Gericht den Mangel in der Person des mitwirkenden
Verteidigers bei Entgegennahme des Rechtsmittelverzichts nicht gekannt
hat.
2. Nach Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts ist der Angeklagten die
beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte, welche die Annahme rechtfertigen
könnten, daß die Angeklagte - etwa anders als das
Gericht - hätte wissen müssen, daß ihr an
der Hauptverhandlung mitwirkender Scheinverteidiger kein zugelassener
Rechtsanwalt war. Im unerkannt falschen Vertrauen auf die Wirksamkeit
eines nach anwaltlicher Beratung erklärten
Rechtsmittelverzichts hat sie sich an einer fristgerechten
Revisionseinlegung gehindert gesehen. In diesem enttäuschten
Vertrauen ist die unverschuldete Ursache der
Rechtmittelfristversäumung zu finden.
Daß jenes Vertrauen der Angeklagten auf die Wirksamkeit eines
nach ordnungsgemäßer anwaltlicher Beratung
erklärten Rechtsmittelverzichts Ursache für die
verspätete Revisionseinlegung war, ist der Antrags- und
Rechtsmittelschrift hinreichend deutlich zu entnehmen. Dieses
Vorbringen ist nicht etwa widerlegbar in dem Sinne, daß die
Angeklagte ganz unabhängig von scheinbar anwaltlich
fachkundigem Rat mit dem Urteil zufrieden gewesen wäre,
deshalb gar nicht an eine Revisionseinlegung gedacht hätte und
nur später anderen Sinnes geworden wäre. Die konkrete
Prozeßgeschichte versetzt die Angeklagte faktisch in eine der
Regelung des § 44 Satz 2 StPO entsprechende Beweislage. Die
Verfahrenssituation wäre im übrigen nicht anders zu
beurteilen, wenn nicht auf Rechtsmittel verzichtet worden wäre
und die Angeklagte lediglich hätte vorbringen können,
die Nichteinlegung des Rechtsmittels habe auf dem Rat des
Scheinverteidigers beruht. Die Rechtzeitigkeit des
Wiedereinsetzungsgesuchs (§ 45 Abs. 1 Satz 1 StPO) ergibt sich
aus der Antragsschrift: Das in der Unkenntnis der Angeklagten
begründete Hindernis ist erst durch ihre eine Woche vor
Antragstellung erfolgte Aufklärung seitens der Anwaltskammer
beseitigt worden.
Die Angeklagte wird mit der Zubilligung einer die Wiedereinsetzung
rechtfertigenden unverschuldeten Verhinderung im Sinne des §
44 Satz 1 StPO sachgerecht entsprechend behandelt wie ein Angeklagter,
der einen Rechtsmittelverzicht erklärt hat, der
unzulässigerweise (BGHSt 43, 195) im Rahmen einer
Verständigung vereinbart worden war (vgl. BGHSt 45, 227, 233
f.; Rieß in Festschrift für Lutz
Meyer-Goßner, 2001, S. 645, 658 ff., 663).
3. Die Revisionsbegründungsfrist von einem Monat beginnt mit
Zustellung dieses Beschlusses, jedoch nicht vor Zustellung des
angefochtenen Urteils, im Falle einer Ergänzung der
Urteilsgründe nach § 267 Abs. 4 Satz 3 StPO mit
Zustellung des ergänzten Urteils (vgl.
Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 345 Rdn. 5 f. m.w.N.).
Anlaß, das mit der nunmehr als zulässig anzusehenden
Revision angefochtene Urteil sogleich aufzuheben, sieht der Senat
nicht. Freilich liegen die Voraussetzungen des absoluten
Revisionsgrundes nach § 338 Nr. 5 StPO offensichtlich vor: In
der Hauptverhandlung war kein nach § 138 Abs. 1 StPO
zugelassener Verteidiger anwesend; der rechtsstaatswidrige Mangel, der
in der Durchführung einer Hauptverhandlung ohne Mitwirkung
eines notwendigen Verteidigers liegt, hat zwar nicht die Nichtigkeit
des hiernach ergangenen Urteils zur Folge, begründet aber die
Möglichkeit, das Urteil ohne jede weitere Sachprüfung
über den absoluten Revisionsgrund zur Aufhebung zu bringen.
Auch könnte möglicherweise bereits dem
Wiedereinsetzungs- und Revisionseinlegungsschriftsatz die im Sinne von
§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO ausreichend begründete
Rüge des § 338 Nr. 5 StPO entnommen werden. Die
Angeklagte soll indes, wie von ihr ausdrücklich erstrebt,
zunächst noch Gelegenheit erhalten, während der
Revisionsbegründungsfrist - nunmehr nach
ordnungsgemäßer Beratung durch einen Verteidiger -
über die Frage der Urteilsanfechtung, gegebenenfalls auch
über deren Umfang, abschließend zu befinden.
Harms Basdorf Gerhardt
Brause Schaal |