BGH,
Beschl. v. 5.3.2002 - 3 StR 491/01
3 StR 491/01
BtMG § 29
1. Bestehen konkrete Anhaltspunkte dafür, daß
zahlreiche Einzelverkäufe von Betäubungsmitteln
mehreren größeren Erwerbsmengen entstammen, so
erfordert dies die Bildung von Bewertungseinheiten. Dazu hat der
Tatrichter die Zahl und Frequenz der Erwerbsvorgänge sowie die
Zuordnung der einzelnen Verkäufe zu ihnen an Hand der
Tatumstände festzustellen.
2. Kann er genaue Feststellungen nicht treffen, hat er innerhalb des
feststehenden Gesamtschuldumfangs die Zahl der Einkäufe und
die Verteilung der Verkäufe auf sie zu schätzen.
Dabei darf er die Grenze zur nicht geringen Menge nach § 29 a
Abs. 1 Nr. 2 BtMG nur auf Grund einer ausreichenden Tatsachengrundlage
als überschritten ansehen.
BGH, Beschluß vom 5. März 2002 - - LG Aurich
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom
5. März 2002
in der Strafsache gegen
wegen gewerbsmäßiger Abgabe von
Betäubungsmitteln an Personen unter 18 Jahren u.a.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat nach Anhörung
des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 5.
März 2002 gemäß § 206 a,
§ 349 Abs. 2 und 4 StPO einstimmig beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird
a) das Verfahren eingestellt, soweit der Angeklagte im Fall II. A. 5
der Urteilsgründe wegen eines weiteren, über die
angeklagten 48 Einzelverkäufe hinausgehenden Falles verurteilt
worden ist; im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens
und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last;
b) das Urteil des Landgerichts Aurich vom 31. Juli 2001 mit den
Feststellungen - ausgenommen denjenigen zu den einzelnen
Verkäufen von Betäubungsmitteln - aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die verbleibenden Kosten des
Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts
zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen
gewerbsmäßiger Abgabe von Betäubungsmitteln
an Personen unter 18 Jahren in 231 Fällen und unerlaubten
Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 349 Fällen zu
einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten
verurteilt. Außerdem hat es ca. 6,5 kg Cannabis bzw.
Cannabisharz und den PKW des Angeklagten eingezogen sowie den Verfall
von Bargeld in Höhe von 45.830 DM, eines Akkordeons und einer
Pistole angeordnet. Das hiergegen gerichtete Rechtsmittel des
Angeklagten hat mit der Sachrüge im wesentlichen Erfolg.
I. Im Fall II. A. 5 der Urteilsgründe ist das Verfahren
gemäß § 206 a StPO einzustellen, soweit der
Angeklagte wegen einer weiteren, über die angeklagten 48
Einzelverkäufe hinausgehenden Verkaufsfalles verurteilt worden
ist.
II. Im übrigen unterliegt das Urteil mit den Feststellungen
der Aufhebung, weil das Landgericht insgesamt 580 Einzeltaten
angenommen und die hier gebotene Bildung von Bewertungseinheiten
unterlassen hat. Jedoch können die Feststellungen zu den
Einzelverkäufen aufrechterhalten bleiben, weil diese
rechtsfehlerfrei getroffen worden sind.
1. Die Strafkammer hat zwar erkannt, daß einiges
dafür spricht, daß der Angeklagte die abgeurteilten
Verkäufe von Kleinmengen von meist nur 1 bis 2 Gramm Haschisch
oder Marihuana aus einer größeren Depotmenge
getätigt hat. Sie hat sich jedoch unter Berufung auf die
Entscheidung des Senats in NStZ 2000, 540 f. veranlaßt
gesehen, alle 580 (richtig 579, s.o.) Einzelverkäufe jeweils
als selbständige Taten abzuurteilen. Der Senat hatte in der
genannten Entscheidung beanstandet, daß bei einem Kleindealer
alle Verkäufe innerhalb eines längeren Zeitraums von
etwa einem Jahr nur zu einer einzigen Tat zusammengefaßt
worden waren, weil sich nicht ausschließen lasse,
daß die Mengen einem nie versiegenden, immer wieder
aufgefüllten Depot (sog. Silotheorie) entstammten. Jedoch darf
diese Entscheidung nicht dahin verstanden werden, daß der
Tatrichter in solchen Fällen von der Prüfung
entbunden ist, ob die jeweiligen Einzelverkäufe mehreren
größeren Erwerbsmengen entstammen und daher zu
mehreren selbständigen Taten im Sinne von Bewertungseinheiten
zusammenzufassen sind. Nach ständiger Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofes werden durch den Begriff der Bewertungseinheit alle
Betätigungen, die sich auf den Vertrieb derselben, in einem
Akt erworbenen Menge von Betäubungsmitteln richten, zu einer
Tat des unerlaubten Handeltreibens verbunden, da bereits der Erwerb und
Besitz von zur Weiterveräußerung bestimmten
Betäubungsmitteln den Tatbestand des Handeltreibens in Bezug
auf diese Gesamtmenge erfüllt (vgl. BGHSt 30, 28, 31; 31, 163,
165). Dabei setzt die Annahme einer Bewertungseinheit konkrete
Anhaltspunkte dafür voraus, daß bestimmte
Einzelverkäufe aus einer einheitlich erworbenen Gesamtmenge
herrühren. Eine willkürliche Zusammenfassung kommt
dagegen nicht in Betracht, auch der Zweifelssatz gebietet in solchen
Fällen nicht die Annahme einer einheitlichen Tat (st. Rspr.,
vgl. BGH NStZ 2000, 540, 541 m.w.N.). Dabei wird vom Tatrichter kein
unverhältnismäßiger
Aufklärungsaufwand, um eventuell eine Bewertungseinheit
feststellen zu können, verlangt (BGHR BtMG § 29
Bewertungseinheit 14).
2. Hier ergeben jedoch die vom Landgericht festgestellten
Tatumstände konkrete Anhaltspunkte in diesem Sinne. Bei der
Begründung der Anordnung des erweiterten Verfalls hat die
Strafkammer dargelegt, daß der Angeklagte in dem Tatzeitraum
von etwa sieben Monaten monatlich rund 500 Geschäfte
tätigte. Der Umfang dieser Handelstätigkeit und der
Umstand, daß sich der Angeklagte aus ihr eine fortlaufende
Einnahmequelle erschließen wollte und hierzu auf die
Erzielung einer ausreichenden Handelsspanne durch
Großeinkäufe angewiesen war, legt nahe,
daß er in größeren Abständen,
etwa von einer Woche bis zu einem Monat, eingekauft hatte. Dies wird
dadurch bestätigt, daß bei der Durchsuchung am
23./24. Januar 2001 bei ihm eine Menge von über fünf
Kilogramm Rauschgift, abgepackt in Platten von je einem Kilogramm,
gefunden worden sind. Bei dieser Sachlage erscheint es ausgeschlossen,
daß jedem der 579 abgeurteilten Verkaufsgeschäfte
ein gesonderter Erwerbsvorgang zugrunde liegt, was Voraussetzung
für die Annahme von 579 rechtlich selbständigen
Einzeltaten gewesen wäre. Vielmehr hätte sich die
Strafkammer auf Grund der genannten Anhaltspunkte, gegebenenfalls
ergänzt durch die Erkenntnisse aus der
Telefonüberwachung der Geschäftstätigkeit
des Angeklagten in den letzten Wochen, um Feststellungen zu Zahl und
Frequenz der Einkäufe sowie die Zuordnung der einzelnen
Verkäufe zu ihnen bemühen müssen.
Lassen sich solche Feststellungen bei angemessenem
Aufklärungsaufwand nicht treffen, hat das Tatgericht eine an
den Umständen des Falles orientierte Schätzung
vorzunehmen. Eine derartige Schätzung hat die Rechtsprechung
bei der vergleichbaren Konstellation von Serientaten gebilligt, bei
denen zwar der strafbare Gesamtschaden feststeht, aber die Verteilung
dieses Schadens auf Einzelakte sich einer genauen Feststellung
entzieht. Danach ist es bei einem strafbaren Gesamtverhalten, das
zahlreiche serienmäßig begangene Taten
umfaßt, zulässig, einen rechnerisch ermittelten Teil
des Gesamtgeschehens bestimmten strafrechtlich relevanten
Verhaltensweisen im Wege der Schätzung zuzuordnen, wobei die
Feststellung der Zahl der Einzelakte und die Verteilung des
Gesamtschadens auf diese unter Beachtung des Zweifelssatzes zu erfolgen
hat (BGHR StGB vor § 1/Serienstraftaten, Betrug 1 m.w.N.).
Diese Grundsätze müssen auch bei der hier gegebenen
Situation Anwendung finden, bei der der Gesamtschuldumfang durch die
Zahl und jeweilige Menge der Einzelverkäufe innerhalb eines
bestimmten Zeitraums feststeht, ferner konkrete Anhaltspunkte
dafür bestehen, daß die Einzelverkäufe
jeweils größeren Einkaufsmengen entstammen und
deshalb aus Rechtsgründen zu Bewertungseinheiten
zusammengefaßt werden müssen, die genaue Zuordnung
bestimmter Verkäufe zu bestimmten Erwerbsmengen jedoch
Schwierigkeiten bereitet.
Bei der vorzunehmenden Schätzung an Hand des Zweifelssatzes
ist zu beachten, daß bei der Zusammenfassung von
Einzelverkäufen, die für sich gesehen Vergehen des
Handeltreibens nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG wären,
nicht die Grenze zur nicht geringen Menge des Verbrechenstatbestandes
nach § 29 a Abs. 1 Nr. 2 BtMG nur auf Grund einer "zu Gunsten"
vorgenommenen Schätzung überschritten werden darf.
Der Tatrichter muß sich vielmehr auf Grund einer
ausreichenden Tatsachengrundlage die Überzeugung vom Vorliegen
einer nicht geringen Menge verschafft haben.
3. Der Senat sieht sich nicht in der Lage, die unterbliebene Bildung
von Bewertungseinheiten gemäß § 354 Abs. 1
StPO selbst nachzuholen; diese muß vielmehr tatrichterlicher
Prüfung in einer neuen Hauptverhandlung nach Erteilung eines
Hinweises nach § 265 Abs. 1 StPO überlassen bleiben.
Für diese gibt der Senat folgende weitere Hinweise:
Die Einziehung des sichergestellten Rauschgifts kann nicht auf
§ 33 Abs. 2 Satz 1 BtMG gestützt werden.
Voraussetzung der Einziehung nach dieser Vorschrift ist, daß
die Betäubungsmittel Gegenstand der von der Anklage
umschriebenen und vom Gericht festgestellten Tat sind (vgl. BGH StV
2000, 613; Weber, BtMG § 33 Rdn. 150). Dies trifft
für die sichergestellte Rauschgiftmenge von etwa 6,5 kg
Cannabis(harz) jedoch nicht zu, vielmehr hatte bereits die
Staatsanwaltschaft mit Abschlußverfügung vom 1. Juni
2001 (Bd. II S. 159 d.A.) - unter nicht nachvollziehbarer Ausscheidung
des Verbrechenstatbestands des bewaffneten Handeltreibens mit
Betäubungsmitteln im Kilobereich nach § 30 a Abs. 2
Nr. 2 BtMG - die Verfolgung des Angeklagten "gemäß
§§ 154 Abs. 1, 154 a Abs. 1 StPO" auf die mit der
Anklage erhobenen Vorwürfe beschränkt.
Für die Anordnung des Verfalls der sichergestellten Pistole
werden nähere Feststellungen zu treffen sein, weil es sich -
anders als bei dem fabrikneu verpackten Akkordeon - um eine umgebaute
und möglicherweise schon ältere Pistole handelte, die
der Angeklagte bereits vor Beginn seiner Dealertätigkeit im
Juni 2000 in Besitz gehabt haben könnte.
Sofern es nicht zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens wegen
bewaffneten Handeltreibens nach § 154 Abs. 3 StPO kommt, in
dem die Einziehung des sichergestellten Rauschgifts und der Pistole
erfolgen könnte, wird die Staatsanwaltschaft die Einleitung
eines objektiven Verfahrens mit dem Ziel der selbständigen
Anordnung der Einziehung gemäß § 76 a StGB
zu erwägen haben.
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